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Die Kontroverse um den Birkenspanner 'Biston betularia'

                                    

Überblick: Die Birkenspannergeschichte in der Kritik

Der Industriemelanismus, der bis heute bei über 70 verschiedenen Schmetterlingsarten beobachtet worden ist, wird allgemein als Beleg für das Wirken von Selektion (genauer: der Milieuselektion) in der Bioevolution angesehen (OSCHE, 1979, S. 48, 58). Darunter versteht man die Ausbreitung dunkler Schmetterlings-Formen in Gebieten starker Industrieansiedelung, wobei ein Zusammenhang zwischen der Luftverschmutzung und der relativen Häufigkeit (Frequenz) der jeweils dunklen (melanistischen) Mutanten besteht. Dieses Phänomen ist insbesondere beim Birkenspanner (Biston betularia) gut untersucht worden, so daß die Beschreibung heute in praktisch keinem Biologielehrbuch mehr fehlt.       

                                             

Biston betularia (typica-Form)

Aufnahme von Walter Schön (http://www.schmetterling-raupe.de/). Mit freundlicher Genehmigung des begeisterten Hobby-Fotografen, der seit 1983 bereits über 300 Schmetterlings-Arten bestimmt, teilweise gezüchtet und fotografiert hat. Die Hauptdatei des Mathematik-Lehrers umfaßt nach eigenen Angaben über 40000 Datensätze!      

                                                                             

                 

Biston betularia (carbonaria-Form)         

Aufnahme von Ian Kimber (http://www.ukmoths.force9.co.uk/). Mit freundlicher Genehmigung des Fotografen.                                                                                                           

                                                                                     

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   

Die "Birkenspanner-Story" begann in England zu einer Zeit, als die helle - mit Melanin gesprenkelte - Form (typica) noch die vorherrschende Farbvariante darstellte. Unter dem Einfluß der Industrialisierung nahm um die Mitte des 19. Jahrhunderts die relative Häufigkeit der dunklen Variante (carbonaria) stetig zu; sie verdrängte stellenweise die helle typica-Form fast völlig und erreichte bis 1895 in Manchester eine Frequenz von rund 98%. Dieses Verhältnis kehrt sich in den letzten Jahrzehnten aufgrund sinkender Schadstoffimission wieder um; in Reinluftgebieten dominiert in den meisten Fällen wieder fast völlig die typica. Die Korrelation zwischen verringerter Smogbildung und dem Anstieg der relativen Häufigkeit der hellen Form konnten GRANT und WISEMAN auch in Amerika feststellen (GRANT und WISEMAN, 2002). Solch systematische, vom Milieu abhängige Verschiebungen von Allel- bzw. Genfrequenzen belegen - wie betont - den Einfluß der Selektion auf die Populationsdynamik, denn sie ergeben nur im Lichte der klassischen Selektionstheorie ihren Sinn.

Mit dem "Aufstieg und Fall" der melanistischen Variante (carbonaria) stellt sich für den Evolutionsbiologen natürlich auch die Frage nach den Selektionsmechanismen. Die Antwort erschien einfach:

"In Gebieten mit starker Industrieansiedelung stirbt wegen der Verunreinigung der Luft (...) der Flechtenbewuchs der Stämme ab; außerdem kommt es zu einer Verrußung und damit Dunkelfärbung der Stämme. Auf derart veränderter Unterlage bietet die geschilderte Flügelfärbung [der hellen Formen] keinen Sichtschutz mehr (...Die...) melanistischen Formen waren unter den gegebenen Umweltbedingungen besser geschützt, d. h. wurden relativ weniger von Vögeln entdeckt und gefressen, hatten also einen Selektionsvorteil. Dieser hatte in den letzten hundert Jahren dazu geführt, daß die dunkle Mutante in den Industriegebieten immer häufiger wurde (...)"

(OSCHE, 1979, S. 58)         

                         

In Reinluftgebieten verhält es sich erwartungsgemäß genau umgekehrt: Auf den hellen Birken ist die typica die unauffälligere, besser an ihren Lebensraum angepaßte Form. Um 1950 hatte KETTLEWELL eine Reihe klassischer Freiland-Experimente ("mark-release-recapture experiments") durchgeführt, die diese Kausalerklärung stützen.

M.E.N. MAJERUS von der Universität Cambridge hat jedoch in neuerer Zeit KETTLEWELLs Experimente genauer geprüft und seine aktuellen Einsichten in einem Buch beschrieben, in welchem das klassiche Szenario teilweise infragegestellt wird (MAJERUS, 1998). Der Hauptkritikpunkt konzentriert sich auf die Feststellung, daß sich die Birkenspanner offenbar viel seltener auf Baumstämmen aufhalten, als bislang angenommen wurde. Darüber hinaus habe, so MAJERUS, KETTLEWELL einige wichtige Aspekte in den Experimenten außer Acht gelassen, wie beispielsweise den Einfluß von Migration oder die Sehtüchtigkeit der Vögel im ultravioletten Licht. Alles in allem scheinen in die Anpassungsgeschichte eine Reihe weiterer - im klassischen Szenario vernachlässigter - Faktoren hineinzuspielen.

Die aufgeworfenen Fragen rufen auch die Evolutionsgegner zur Kritik. Oft behaupten sie, die "Birkenspanner-Story" würde aufgrund der neuen Erkenntnisse vollständig entwertet, käme als Stütze für die Selektionstheorie (zumindest gegenwärtig) nicht oder nur mehr eingeschränkt in Betracht oder solle aufgrund der "Tatsachen" aus der "Krone des Neodarwinismus" entfernt werden. Einige Kritiker halten sogar die Selektionstheorie und/oder Synthetische Theorie der Evolution für widerlegt (falsifiziert), und manch einer kolportiert, KETTLEWELLs Experimente seien völlig wertlos, weil sie falsch durchgeführt wurden. Insgesamt wird die Geschichte mehr oder minder explizit so dargestellt, als sei der "Wahrheit" von den "orthodoxen Evolutionisten" quasi ein Zwang angetan, die Forschung durch dogmatisch vertretene Lehrmeinungen behindert worden. Die Strategie, offene Mechanismusfragen überzubetonen und wissenschaftliche Korrekturen als grandiose "Irrtümer" der Evolutionsbiologie zu kennzeichnen, verfehlt beim Publikum ihre Wirkung nicht.

                                                              

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Copyright (c) by Martin Neukamm, 05.10.03