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Die Kontroverse um den Birkenspanner 'Biston betularia'

- Die Evolutionsgegner: Besprechung der Kritiken von LÖNNIG und RAMMERSTORFER -

                 

2. Der Birkenspanner und die Selektionstheorie: Methodologische Probleme der Evolutionskritik

Die Vermengung von allgemeinen und spezifischen Kausalerklärungen

An dieser Stelle sei vorausgeschickt, daß RAMMERSTORFER, LÖNNIG und einige andere Evolutionsgegner erklärtermaßen - und ungeachtet der offenen selektionstheoretischen Detailfragen - die Milieuselektion als "chancenreiche" oder "wahrscheinliche" Ursache der Allel-Verschiebungen in den Birkenspanner-Population akzeptieren. (Dieses Zugeständnis ist einerseits ungewöhnlich, weil es eine hypothetische Schlußfolgerung, das heißt die Akzeptanz einer Methodologie voraussetzt, die im Falle der Begründung von "Makroevolution" vehement zurückgewiesen wird, andererseits aber verständlich, weil das Zugeständnis "mikroevolutiver" Prozesse noch kein Abrücken von der Fundamentalkritik an der Evolutionstheorie verlangt.)

Gleichzeitig wird jedoch (wieder analog zur Kritik am "Paradigma Makroevolution") einschränkend betont, daß man zuerst über alle relevanten mechanismischen Detailkenntnisse verfügen (also z.B. die "...natürlichen Rastplätze von Biston", die Rolle des Fledermausfraßes usw. kennen) sollte, bevor der Einfluß der Selektion auch wissenschaftlich belegt, das "Birkenspanner-Beispiel" also als selektionstheoretisches "Paradebeispiel" verfochten werden könne. Diese Position bringt RAMMERSTORFER wie folgt zum Ausdruck (alle folgenden Textformatierungen und Einschübe stammen von mir):

"Das ‚Paradebeispiel für Selektion' ist, dafür gibt es gute Anhaltspunkte, wohl auch weiter ein Beispiel für natürliche Selektion. Doch da die Frage nach dem WIE noch offen bleiben muss, kann man den Birkenspanner kaum noch als ‚Paradebeispiel' bezeichnen."

"Dass MAJERUS auf diesem Gebiet eine Autorität ist, zweifelt niemand an und ich denke, dass natürliche Selektion sehr gute Chancen [sic!] hat, die Populationsschwankungen bei Biston zu erklären. Nur: Für eine ‚perfect illustration of evolution by natural selection' wäre es nicht schlecht, die natürlichen Rastplätze von Biston zu kennen, und damit auch die natürlichen Fressfeinde."

"Letztlich ist dieser Artikel [gemeint ist MAJERUS, 2003 a] als Rückzieher zu werten - anstatt weitere Forschungen anzuregen, die ob der sachlichen Fragwürdigkeiten der "klassischen" Story dringend angebracht sind - ergeht er sich in sachlich unbegründeten Behauptungen a la ‚this is still a perfect illustration of evolution by natural selection' . Wie funktioniert das, wenn 'the precised description of the basic peppered moth story is wrong, inaccurate, or incomplete, with respect to most of the story's component parts'? Wie kann das zugleich eine perfekte Illustration sein?"

                                           

Auch LÖNNIG plädiert dafür, die Birkenspanner-Geschichte solange auf der Reservebank zu postieren, bis alle relevanten Detailfragen zum Anpassungsszenario geklärt sind und empfiehlt seinen Lesern gar, das selektionstheoretische "Juwel" einstweilen vollständig aus der "Krone des Neodarwinismus" zu entfernen:

"Das Biston-Beispiel war gewissermaßen ein 'Juwel' in der Krone der Synthetischen Evolutionstheorie (S.E.), insbesondere in dem umfassenden Programm mit der Hauptzielsetzung '...die Planmäßigkeit auf jede Weise aus der Natur loszuwerden' (wie es Jakob von Uexküll unübertroffen formuliert hat). Der Leser beurteile bitte anhand der hier aufgeführten Tatsachen und Argumente wieder selbst, ob und falls ja, inwieweit dieses Juwel seinen Glanz verloren hat oder sogar ganz aus der 'Krone' des Neodarwinismus [richtig müßte es heißen: Synthetische Theorie der Evolution] entfernt werden sollte."

                                

Richtig ist, man muß dies immer wieder klarstellen, der Hinweis, daß das klassische Anpassungsszenario weiteren Aufklärungsbedarf nötig macht, das heißt es ist LÖNNIG und RAMMERSTOFER in einigen Bereichen gelungen, vorschnell (auch und gerade in Lehrbüchern) aufgestellte Behauptungen infragezustellen. Aus diesem Grund läßt sich vortrefflich darüber streiten, inwieweit die klassische Birkenspanner-Geschichte "an Glanz" verloren hat.

Wenn jedoch nicht verstanden wird, daß und weshalb die Birkenspannergeschichte in den Augen der meisten Naturwissenschaftler und "Biston-Forscher" immer noch ein "Paradebeispiel der Selektion ("... perfect illustration of evolution by natural selection") verkörpert, ist es meines Erachtens offensichtlich, daß hier zwischen Evolutionsgegnern und Evolutionsbiologen ein methodologischer Graben klafft, der von vorne herein eine Reihe von Kommunikationsproblemen heraufbeschwört.

Zunächst sei vorausgeschickt, daß das selektionstheoretische Erklärungsschema ein sehr allgemeines und prinzipielles ist. Das bedeutet, daß der Status des selektionstheoretischen "Paradebeispiels" 'Biston betularia' einzig davon abhängt, ob die Selektionstheorie die Allel-Verschiebungen in den Birkenspanner-Populationen in allgemeiner Form erklären kann, ob also die relativen Häufigkeiten der Birkenspanner-Formen einen Bezug zur Umwelt erkennen lassen, wie die Selektionstheorie dies erwartet.

Bei der "Anpassungsgeschichte" handelt es sich dagegen ("nur") um eine Konkretisierung des allgemeinen selektionstheoretischen Erklärungsschemas, das immer mit bestimmten Details und Randbedingungen angereichert werden muß, wenn man eben nicht nur allgemeine Erklärungen, sondern auch mechanismische Detailerklärungen abgeben möchte. Es ist ja trivial, daß die Selektionstheorie keine Details von bestimmten Gruppen oder Spezies enthalten kann, denn sie muß ja auf alle Organismen "anwendbar" sein. Kurzum:


Weil die Selektionstheorie allein anhand allgemeiner Schlußfolgerungen und nicht anhand von Detailvorstellungen getestet wird, kann folgerichtig auch die völlige Unkenntnis solcher Details, ja selbst die Widerlegung aller möglichen "Darwinian stories" nichts am Status des "selektionstheoretischen Paradebeispiels" ändern.

                                      

GRANT, einer der besten Kenner seines Fachs, hat in "Bruce Grant's Review of Wells" diesen Punkt klar hervorgehoben, betont, daß die Evidenzen nicht von den Einsichten in irgendwelche Details der Anpassungsgeschichte herrühren und damit WELLS widerlegt, der sich in der Selektionsfrage zu weit aus dem Fenster gelehnt hat:

"On page 151 Wells claims Kettlewell's evidence has been impeached. This is nonsense. It has not. But I have argued, that even if it were entirely thrown out, the evidence for natural selection comes from the changes in the percentages of pale and melanic moths. It is this record of change in allele frequency over time that is unimpeachable. It is a massive record by any standard. (I can send a jpg file with graphs, if you'd like.) I have pointed out, and he quotes me, that no force known to science can account for these changes except for natural selection. Yet, he scrambles the ingredients here. He claims (top of p. 153) '...it is clear that the compelling evidence for natural selection that biologists once thought they had in peppered moths no longer exists.' Of course the evidence for natural selection exists! That evidence is overwhelming."

(GRANT, 2001, 'URL: http://www.talkorigins.org/faqs/wells/iconob.html#mothgrant)

                                                  

Ich glaube, daß diese Zusammenhänge von LÖNNIG und RAMMERSTORFER wenigstens in den Grundzügen erkannt worden sind. So hat mir RAMMERSTORFER mitgeteilt, daß er und LÖNNIG "(...) trotz aller offenen Fragen natürlich n.S. (natürliche Selektion) mit 99,999% Sicherheit als Antwort auf die Populationsschwankungen sehen", und "(...) die Frage nach dem 'Wie' kann für sich allein immer noch sehr starke Änderungen an der Classic-Story bedeuten, doch zumindest bliebe Biston ein Selektionsbeispiel."

Allerdings wird nicht erkannt, daß damit, im Blick auf die allgemeine Selektionsfrage, die umfangreiche (in Teilen ja durchaus berechtigte!) Kritik an den mechanismischen Detailfragen schon weitgehend bedeutungslos geworden ist. Desweiteren lassen sich auch einige ihrer Schlußfolgerungen (insbesondere zu dem noch zu erörternden Tautologie- bzw. Metaphysik-Vorwurf) logisch nicht mehr rechtfertigen. So ist es zu erklären, daß MAJERUS völlig zu Unrecht bezichtigt wird, eine "sachlich unbegründete Behauptung" aufgestellt zu haben, wenn er (Hervorhebung von mir) schreibt:

"I have studied peppered moths for 40 years, have found more in the wild than any other person alive, and have read more than 200 scientific papers on the case. My conclusion is simple - this is still a perfect illustration of evolution by natural selection."

(MAJERUS, 2003 a)

                               

Insbesondere RUDGE findet erfreulich klare Worte, um das zentrale Argumentationsproblem der Evolutionsgegner herauszustellen und erläutert kurz das wissenschaftslogische (hypothetisch-schlußfolgernde) Vorgehen am Beispiel der Birkenspanner-Geschichte:

"(...) If the peppered moth has both dark and light forms, and if these differences are correlated with survival differences in different environments; and, (...) If the dark and light forms are heritable; and, (...) If there is a competition in nature for resources, owing to the fact that the moths reproduce far in excess of those that can possibly survive; (...) It follows that the form of the moth that is correlated with an increased chance of surviving in an environment will increase in frequency in the population inhabiting that environment over time (if it is not already in equilibrium). The reader should notice immediately that the theory need not be stated with reference to the specific survival advantage associated with dark coloration in polluted environments or pale coloration in unpolluted locals. As such, even in the absence of any reliable evidence on precisely what effect of the carbonaria gene is responsible for increased survival in areas downwind of industrial sites, the phenomenon of industrial melanism still constitutes an example of natural selection."

(RUDGE, 2002; alle Hervorhebungen im Schriftbild stammen von mir)

                    

Schließlich betont COYNE in aller Klarheit:

"The biggest shortcoming, however, is Hooper's failure to emphasize that, despite arguments about the precise mechanism of selection, industrial melanism still represents a splendid example of evolution in action. The dramatic rise and fall of the frequency of melanism in Biston betularia, occurring in parallel on two continents, is a compelling case of evolution by natural selection. No force other than selection could have caused such striking and directional change. Hooper's grudging admission of this fact occupies but one sentence: 'It is reasonable to assume that natural selection operates in the evolution of the peppered moth.' "

(COYNE, 2002)

                           


In diesen Stellungnahmen wird nochmals deutlich, daß die Frage, WIE und WODURCH ein Ereignis (IM DETAIL) abläuft (ablief) bzw. verursacht wird oder verursacht wurde, überhaupt nichts an der Grundeinsicht bzw. an deren Evidenzen ändert, die dafür sprechen, DASS es (ALLGEMEIN) tatsächlich stattfindet oder stattgefunden hat (ähnliche Kritikpunkte zur Frage der "Makroevolution" besprechen TSCHULOK, 1922; GÜNTHER, 1967; MAHNER, 1986; vgl. auch: http://www.martin-neukamm.de/junker1_4.html).

Nicht nur das "Wohl und Wehe" der Birkenspanner-Geschichte, sondern auch das der "allgemeinen Evolutionsvorstellung" wird in Expertenkreisen auf einer ganz anderen Ebene erörtert, nämlich gerade nicht auf der Ebene mechanismischer Detailfragen (ihre Klärung bleibt der weiteren Forschung vorbehalten), sondern auf der Ebene des allgemeinen Erklärungsschemas.

Man ersieht daraus, daß die Kontroverse nur auf dem Boden der Methodologie ausgefochten werden kann, denn wenn schon die metatheoretische Basis der Evolutionsgegner und Evolutionsbefürworter in entscheidenden Fragen divergiert, steht fest, daß die Erörterung rein biologischer Details keine Klärung zu bringen verspricht.


                  

Meines Erachtens lassen sich aus dem Befund der systematischen Allelverschiebungen noch viel weitreichendere Schlußfolgerungen ziehen: Die Korrelation zwischen Melanismus und Luftverschmutzung bekommt ja nicht nur im Licht der allgemeinen Selektionstheorie erst ihren Sinn, sondern sie stützt auch indirekt (hypothetico-deduktiv) die These, daß die Ausbreitung der melanistischen Formen mit der "Rußverschmutzung" ihrer Habitate sowie mit den sich dadurch verändernden Anpassungsvorteilen der Birkenspanner zusammenhängen muß!

Und dann ist es für die Status dieser These zunächst einmal völlig irrelevant und müßig sich darüber zu streiten, ob man nun über die genauen Rastplätze, Freßfeinde, deren Verhaltensweisen usw. nun im Bilde ist oder nicht.

So betonen beispielsweise MAHNER und BUNGE, daß:

"(...) systemische Hypothesen nicht nur durch die empirischen Belege gestützt (werden), die für sie selbst unmittelbar relevant sind, sondern auch indirekt durch die Belege für die anderen Bestandteile des Hypothesensystems (...)" "Es bedarf mehr als ein paar ungünstiger Daten, um eine bislang wohlbestätigte Hypothese zu Fall zu bringen. Dies gilt umso mehr, wenn die betreffende Hypothese Teil einer Theorie ist, weil die Hypothese dann durch all die positiven Belege für ihre 'Mithypothesen' in der Theorie indirekt gestützt wird."

(MAHNER und BUNGE, 2000, S. 80 und S. 129)

                                    

In der Tat lassen sich aus den Postulaten der Selektionstheorie - in Anlehung an RUDGE - bestimmte Schlußfolgerungen ziehen, die man empirisch bestätigt hat: WENN die Birkenspanner durch zwei verschiedene (helle und dunkle) Morphen vertreten sind; WENN weiterhin die farblichen Unterschiede erblich sind und WENN die Farbvarietäten in unterschiedlich stark verrußten Habitaten verschieden hohe Überlebenschancen infolge unterschiedlich guter Anpassungsvorteile haben, DANN folgt daraus logisch, daß die relative Häufigkeit der melanistischen Morphen in luftverschmutzten Gegenden, diejenige der "hellen" Morphen dagegen in Reinluftgebieten zunimmt. Das aber ist genau der Fall; die selektionstheoretischen Folgerungen sind (von Ausnahmen abgesehen) immer wieder empirisch bestätigt worden. Wie erinnerlich haben die Studien von GRANT und WISEMAN, 2002 jüngstens wieder, in theoretischer Erwartung, eine gute (signifikante) Korrelation zwischen Melanismus und Luftverschmutzung aufgezeigt. Daraus läßt sich - zwar nur indirekt, wohl aber wissenschaftlich begründet und mit mehr oder minder hohem Grade der Sicherheit - die Richtigkeit der genannten Grundpostulate folgern.

                         

Die vermeintlichen "Alternativen" zur Selektionstheorie                                                

Der Kritiker wird gegen den eben dargelegten Gedankengang einwenden, daß hypothetische Schlußfolgerungen keine streng logischen Beweise sind und in jedem Fall einen "schwächeren" Belegcharakter haben, als die direkte empirische Bestätigung eines von der Theorie abhängigen Anpassungsszenarios.

RAMMERSTORFER geht mit seiner Kritik noch weiter und hat mir gegenüber betont, daß es heute nicht einmal möglich sei:

"(...) sich a priori auf n.S. [natürliche Selektion] festzulegen. Andere Möglichkeiten sind denkbar und testbar." "Sowohl ich als auch Lönnig sind der Meinung, dass bei Biston fast alles möglich ist - die Biston Story in ihrer klassischen Form wird es aber nicht mehr geben. Die Frage ist nur, wie groß die Abweichungen von der klassischen Story sein werden, oder ob sie ganz fällt." Schließlich solle man immer "gegenüber allen Möglichkeiten offen bleiben (...)"

Eine mögliche Alternative zur rein selektionstheoretischen Erklärung könnte nach RAMMERSTORFER wie folgt aussehen:

"Man könnte berechtigt fragen, ob nicht ‚enviro(n)mental change' alleine ausreichend ist. Dazu muss man eine Hypothese aufstellen, die beschreibt, wie Umweltveränderungen Veränderungen im Genom von Biston betularia auslösen könnten, bzw. was diese konkret verändern könnten.  (...) Von Transposons weiß man, dass sie u.a. durch Umwelteinflüsse (Hitze, Streß, Bestrahlung, unbekannte Faktoren) dazu veranlasst werden, ihre Genompositionen zu verändern. Durch Transpositionen können Mutationen induziert werden. Es wäre also denkbar, dass beim Birkenspanner in Folge von Umweltstress (Ruß, SO2,...) solche Transposons zu 'springen' beginnen und dabei Mutationen an der Melaninsynthese auslösen, die zur erhöhten Bildung der melanistischen Form führen. Interessanterweise sind dunklen Varianten fast immer dominant über die Form typica (...)"

Auch LÖNNIG stellt in einem Artikel über "chromosome rearrangements" implizit die "Geltungsfrage", indem er unter Rekurs auf LIMA-de-FARIA (einem der wenigen Biologen, die der Milieuselektion weitestgehend nur eine "Platzhalter-Funktion" zusprechen) den Mechanismus der "Transposon-Verlagerung" erörtert und es für möglich hält, daß dieser die selektionstheoretische Erklärung im Falle der Birkenspanner ganz ablösen könnte (vgl. LÖNNIG und SAEDLER, 2002, S. 394).

                   

Wiewohl es richtig ist, daß die Naturwissenschaften keine dogmatische Lehre verkörpern, daß die Theorien einem ständigen Wandel unterliegen, daß daher auch die Selektionstheorie keinesfalls zwingend bewiesen worden ist und daß Fehlinterpretationen immer möglich sind, haben solche Einwände kaum wissenschaftliches Gewicht:

Erstens sind selbst direkte Nachweise, wie prinzipiell alle Beobachtungen, immer theoriebeladen und fehlbar. Selbst wenn die Birkenstämme mit Nachtfaltern geradezu übersäht und die Vögel augenscheinlich nur die gutangepaßten Exemplare verspeisen würden, müßten die Befunde eine selektionstheoretische Interpretation erfahren, die sich irgendwann als falsch herausstellen kann. Daher könnte man natürlich in jedem Falle und zu jeder Zeit (!) "berechtigt fragen", ob die Theorie nicht vielleicht doch falsch ist. Die Induktionslogik ist, um mit POPPER zu sprechen, nicht haltbar; streng logische Beweise können in der Wissenschaft generell nicht geführt werden.

Zweitens sind hypothetico-deduktive Folgerungen (die in unserem Falle die - wer dies unbedingt so behaupten will - "apodiktische" Behauptung rechtfertigen, daß die Selektion der treibende Faktor in der Anpassung der Birkenspanner ist), gerade ein Erkennungsmerkmal der wissenschaftlichen Methode. Es sei nur daran erinnert, daß Wissenschaft keine "absoluten Wahrheiten" suchen und finden kann, vielmehr gilt:

"Das Ziel der Wissenschaft sind (...möglichst einfache) Erklärungen für alles, was einer Erklärung zu bedürfen scheint."

(VOLLMER, 1985, S. 277)

                 

Dagegen meint LÖNNIG, wenn man "(...) eine offene Frage schon als 'ganz sicher beantwortet' betrachtet, dann kann eine solche Geisteshaltung den naturwissenschaftlichen Fortschritt behindern.

Doch wollte man in jedem Falle "abwarten", bis man jede nur erdenkliche Detailfrage geklärt und (was mit POPPER grundsätzlich unmöglich ist) jede wissenschaftliche Lehrmeinung mit dem Grade absoluter Gewißheit und im Lichte der "Erfahrung" bewiesen hat, wären bis auf den heutigen Tag keine wissenschaftlichen Aussagen aufgestellt und gegen Widerstände verfochten worden. Niemand hält daher die wissenschaftliche Legitimation in Händen, eine (vorläufig gültige, aber gut begründete und wohlbestätigte) wissenschaftliche Auffassung, im Hinblick auf das allgegenwärtige "Erkenntnisproblem", sozusagen schon einmal "prophylaktisch" infragezustellen, vielleicht auch, weil es ihm aus irgendwelchen weltanschaulichen Gründen opportun erscheint, weil er sich einem wissenschaftlich nicht zu rechtfertigenden "Wahrheitsbegriff" verschrieben hat (siehe Abschnitt 7 und Abschnitt 8), oder weil zahlreiche Detailprobleme noch der Lösung harren.

Wissenschaft funktioniert eben "hypothetisch-schlußfolgernd", wenn sie zu "höherrangigen Aussagen" (MAHNER) und tieferen Erklärungen gelangen will, die sich induktiv (im anschaulichen Experiment oder in direkter Beobachtung) nicht erschließen lassen. Dafür hat der Wissenschaftler den Preis zu bezahlen, daß der Grad an Sicherheit ("Wahrheit"), den Evolutionsgegner für gewöhnlich von den Biologen einfordern, in der Wissenschaft gar nicht zu bekommen ist. Ja, der Sinn von Wissenschaft besteht überhaupt darin, bislang unerklärte Beobachtungen auf einer stets falliblen, "tieferen unsichtbaren Ebene mit andersartigen Elementen und Verbindungsmechanismen", das heißt unter Rückgriff auf grundsätzlich unbeobachtbare Dinge und Prozesse verstehbar zu machen (KANITSCHEIDER, 1981, S. 33).

Die Gleichsetzung von Wissenschaft mit dem rein Empirischen ist, um mit MAHNER und BUNGE (a.a.O., S. 246) zu sprechen, naiv oder gar falsch (vgl. dazu: http://www.martin-neukamm.de/junker1_2.html).

Das alles bedeutet keinesfalls, daß man den neueren Aspekten nicht nachgehen sollte. Doch ungeachtet der Fallibilität allen Wissens entspricht es einfach der allgemein üblichen Methodologie, von einem hypothetisierten Faktum X, dessen Existenz im Lichte von Daten und Theoremen begründet erscheint, zu behaupten, "nach allem was wir wissen, existiert X." Dies gilt auch dann, wenn (und das ist eben grundsätzlich immer der Fall) die Theorien unvollständig bzw. imperfekt sind, und wenn die Existenz von denkmöglichen Alternativen (für die zunächst nichts spricht, wie z.B. für die selektionstheoretischen "Alternativen"; siehe unten) nicht logisch ausgeschlossen werden kann (KANITSCHEIDER, 2000).

Es bedarf, wie ich meine, keinen weiteren Begründungen mehr um zu ersehen, daß man dieselbe Rechnung, die die Kritiker in der "Biston-Frage" aufmachen, ohne weiteres auch auf andere Wissenschaftsbereiche übertragen, all diejenigen Theorien, die allgemein zu den besten wissenschaftlichen Theorien gezählt werden, in gleicher Weise kritisieren und auf den transempirischen Charakter ihrer Erkenntnisgegenstände hinweisen könnte (vgl. dazu: http://www.martin-neukamm.de/junker1.html). Dies gilt umso mehr, als in den meisten Wissenschaftsbereichen noch zahlreiche mechanismische Fragen offen geblieben sind.

(Beide Aspekte hat POPPER gegen den logischen Empirismus bzw. Neopositivismus ins Felde geführt; sie sind hier besonders wichtig, so daß wir auf sie noch gesondert - insbesondere auch noch einmal in Abschnitt 8- eingehen werden.)

                     

Schließlich bleibt es drittens äußerst fraglich, ob die von RAMMERSTORFER, LÖNNIG und anderen ins Spiel gebrachten Alternativen, wie z.B. die Transposon-Verlagerung und dergleichen die erwähnten Allel-Verschiebungen allein zu erklären in der Lage sind. Ja mehr noch, es gibt Belege, die solche Spekulationen im Falle des Industriemelanismus bereits im Ansatz widerlegen (siehe die unten stehenden Kommentare von MAJERUS und GRANT).

Zwar halte ich es auch für plausibel, daß die Faktoren beim Zustandekommen und der Ausbreitung der Morphen eine ergänzende Rolle spielen und auch dem unbestrittenermaßen simplistischen "Erklärungsschema Selektionstheorie" die Exklusivität rauben könnten. Dies tun ja grundsätzlich alle erklärungsmächtigeren Evolutionstheorien, die neben der Milieuselektion dezidiert auch entwicklungsbiologische ("innere") und systemtheoretische Faktoren berücksichtigen; vgl. z.B. RIEDL, 1975/1990, 2003; WIESER, 1994.) Insbesondere die rasche Ausbreitung der melanistischen Formen könnte von solchen Faktoren mitbedingt werden (womit, um unseren Ausführungen etwas vorzugreifen, auch die Frage: "Wieviel Prozent der Birkenspanner befinden sich tagsüber wo?" weitgehend bedeutungslos werden könnte).

Es sollte jedoch klar sein, daß "innere Faktoren" allein nicht die charakteristischen Allelverschiebungen ("the dramatic rise AND fall of the frequency of melanism in Biston betularia, occuring in parallel on two continents...") bewirken und erklären können, hat doch die Milieuselektion als letzte Instanz immer allein darüber zu entscheiden, welche Morphen sich letztlich in den Populationen durchsetzen.


Das Argument läßt sich mit einem ökonomischen Sachverhalt deutlich machen: So wie die ("innere") Führungsebene einer Firma darüber zu entscheiden hat, welche Produkte - z. B. unter Rentabilitätsgesichtspunkten - am Markt angeboten werden sollen, so bestimmen epigenetische Faktoren - im Hinblick auf "innere" Bürden und die dadurch streckenweise vorgegebenen Entwicklungsbahnen -, welche evolutionären Innovationen gewissermaßen in die Umwelt getragen werden (RIEDL, a.a.O.).

Der Markt selbst wählt jedoch aus der Produktpalette selektiv bestimmte Artikel aus, und es kann eine Ware betriebswirtschaftlich so rentabel sein wie sie will, sie wird vom Markt verschwinden, wenn sie nicht nachgefragt wird. Analog dazu setzen sich im Milieu - und zwar unabhängig vom "inneren Nutzen" oder von den Ursachen der angesprochenen Transposon-Verlagerungen - selektiv nur diejenigen Morphen durch, die auch in ihrer Umwelt einen Überlebensvorteil haben.


                                      

MAJERUS führt seine Kritik an den sogenannten "Alternativ-Erklärungen" noch weiter und weist auf deren Inkompatibilität mit den Beobachtungsdaten (z. B. mit den MENDELschen Erbgesetzen und dem erneuten Rückgang der carbonaria) hin.

Mit "Transposon-Verlagerung" kann man z. B. den Wiederanstieg der tyica nicht erklären. Wenn die Ruß- oder SO2-Emission wieder zurückgeht, können die Transposons nicht einfach wieder "zurückspringen".

MAJERUS schreibt dazu (Hervorhebungen von mir):

"Other mechanisms have been proposed to account for the rise in carbonaria. These include direct mutagenic effects of pollutants (Harrison, 1927; Sargent et al., 1998), which may be dismissed on the basis of the wealth of data, spanning almost a hundred years, showing Mendelian segregations of the forms of the peppered moth, when reared under controlled conditions, and that carbonaria has an inherent physiological advantage (Ford, 1937, 1940; Hooper, 2002; but see Ford, 1964), which is difficult to reconcile with the recent decline in carbonaria. Neither has any empirical support from studies of the peppered moth. Indeed, at present, only the agent of differential bird predation has any experimental support."

(MAJERUS, 2003 b p.c.*)

                     

Ähnlich äußert sich GRANT, der die "Alternativen", wie z.B. einen durch Hitze verursachten Melanismus für falsifizierte Spekulationen hält (ähnliches gilt für Bestrahlung oder andere Faktoren) und dies wie folgt begründet:

"Wells also inappropriately uses thermal melanism in ladybirds to suggest, that while no one has shown this in peppered moths (p. 152), industrial melanism can have other causes besides predation. It's not just that there is no evidence for thermal melanism in peppered moths, there is evidence AGAINST thermal melanism based on the geographic incidence of melanism in the UK, the USA, and Europe. There are no latitudinal clines, and no altitudinal clines as one might expect with thermal melanism. Wells knows this, if he actually read my papers. (He cites them, so I should assume he read them.) He also raises the question of larval tolerance to pollutants. There is no evidence for this, either. I have a paper out on this point, but in fairness to Wells, it came out just this past year."

(GRANT, 2001; URL: http://www.talkorigins.org/faqs/wells/iconob.html#mothgrant)

                                                                  


Wo also sind die "latitudinal und altitudinal clines", die zwangsläufig in Abhängigkeit der geographischen bzw. klimatischen Verhältnisse in Erscheinung treten müßten? Wie man es dreht und wendet, der Industriemelanismus ergibt überhaupt nur dann einen Sinn, wenn er im Lichte der Selektionstheorie erhellt wird. Gegenwärtig existiert kein anderes Hypothesensystem, welches die "eigentümliche" Korrelation zwischen Luftverschmutzung und Melanismus auch nur annähernd befriedigend erklärt, und solange dies gilt, besteht auch und gerade (!) beim gegenwärtigen Kenntnisstand kein Grund, das "Paradebeispiel der Selektion" aufzugeben.

In MAJERUS, 2003 a heißt es dazu:

"The earth faces huge problems of overpopulation, diminishing resources, loss of habitats and species extinctions. More than ever before, biologists with an understanding of the complexities of ecological systems are needed. Darwinian evolution is fact and, as Theodius Dobzhansky famously said, 'nothing in biology makes sense except in the light of evolution' ".

                    

Da hilft es RAMMERSTORFER wenig, DOBZHANSKYs Bonmot als "Glaubensbekenntnis und Kampfruf" zu verbrämen, handelt es sich doch um einen methodologisch korrekten Satz, der ja nichts weiter intendiert, als auf zwei der wichtigsten Kriterien, die die Wissenschaftler als Wahrheitsindikatoren bei der Beurteilung ihrer Theorien heranziehen, hinzuweisen, nämlich auf die explanative und vereinheitlichende Kraft (NEUKAMM, 2002, S. 32 ff.).

Es hilft auch nichts, ein Zitat von SARGENT anzuführen, in dem behauptet wird "kein Teil der Evolutionslehre sei sinnvoll ohne die übrige Biologie". Richtig ist zwar (und das ist kurzerhand trivial), daß man zum Beleg der Evolutionstheorie auf die verschiedensten biologische Disziplinen rekurrieren kann und muß, so wie ein Chemiker zur Abstützung der Atomvorstellung immer auf reaktionskinetische, thermodynamische, strukturchemische und andere Daten zurückzugreifen hat. Richtig ist auch, daß man in den Bereichen der Ökologie, Anatomie, Physiologie, Molekularbiologie usw. auch ohne evolutionstheoretisches Wissen Daten zusammentragen und beschreiben kann, so wie ein Chemiker auch ohne Kenntnis der Atomtheorie Farbreaktionen studieren, kinetische Untersuchungen vornehmen, sich in Ermangelung eines (kausaltheoretischen) Erklärungsmodells über die gesetzmäßig verlaufenden Umsetzungen wundern und die offenen Fragen mit dem Eingriff eines Designers "wegerklären" könnte.

Wer allerdings glaubt, auf diese Weise oder durch das bloße Zusammentragen von Daten bereits so etwas wie Wissenschaft zu betreiben; wer glaubt, ohne eine sie verbindende naturalistische Theorie auszukommen, und wer sich, um mit TSCHULOK zu sprechen: "nicht bei ähnlichen Gelegenheiten sagt: ich muß mir dies und jenes [theoretische Element] hinzudenken, sonst reimt sich das nicht mit allem, was ich von dem oder jenem weiß; für den ist [selbst schon] die Annahme, daß in diesem gewundenen Stein einst ein Tier von bestimmtem Typus, von bestimmter Klasse oder Ordnung gelebt hat, (...) eine gewagte." (TSCHULOK, 1922)

Das bedeutet keineswegs, daß die Evolutionstheorie nicht wiederum "im Lichte dieser Disziplinen beurteilt" werden muß, so wie etwa die Atomtheorie(n) immer wieder anhand neuer Beobachtungen getestet und modifiziert werden müssen (siehe Abschnitt 9). Beobachten und Theoretisieren gehen zum Zwecke wechselseitiger Erhellung beständig Hand in Hand. Ungeachtet dieses sich hinter der wissenschaftlichen Methode verbergenden Rückkopplungsprozesses sind Theorien und Konzepte, die sich konsistent zueinander verhalten und die durch viele Daten immer wieder gestützt werden, wichtige Indizien für die Annahme, daß die Theorien einen objektiven Zugriff auf die Wirklichkeit haben. Wissenschaft ist eben: "(...) ein Rückkopplungsprozeß der schrittweisen Näherung an die Fakten (...) Dieser Rückkopplungsprozeß ist kein Fall von [vitiöser] Zirkularität, sondern ein Erkennungszeichen von Wissenschaft." (MAHNER und BUNGE, 2000, S. 246)

                     

Auch POPPER hat erkannt, worin die (eine jede heuristisch fruchtbare Theorie auszeichnenden) Attribute der Evolutionstheorie bestehen (vgl. dazu Abschnitt 8 - LÖNNIGs Einwände gegen POPPER):

"Sie [die Evolutionstheorie] erlaubt Annäherungen so unterschiedlicher Gebiete wie der Paläontologie, der Embryologie und sogar gewisser Bereiche der Medizin. Viele sehr unterschiedliche Probleme finden so durch sie eine Art gemeinsame Erklärung."

(POPPER, 1994 a)

                        

Abschließend seien die wichtigsten Aspekte nochmals wie folgt zusammengefaßt:


a.) " (...) the evidence for natural selection comes from the changes in the percentages of pale and melanic moths. It is this record of change in allele frequency over time that is unimpeachable." "No other evolutionary force can explain the direction, velocity and the magnitude of the changes except natural selection (...) Industrial melanism in peppered moths remains one of the best documented and easiest to understand." (GRANT, 2001; 1999)

b.) "differential bird predation in more or less polluted regions, together with migration, are primarilty responsible almost to the exclusion of other factors." (MAJERUS, 1998, S. 155)

c.) "(...) the basic elements of the peppered moth story are quite correct. The population of dark moths rose and fell in parallel to industrial pollution, and the percentage of dark moths in the population was clearly highest in regions of the countryside that were most polluted." (MILLER, 1999/2003)

d.) "I have studied peppered moths for 40 years, have found more in the wild than any other person alive, and have read more than 200 scientific papers on the case. My conclusion is simple - this is still a perfect illustration of evolution by natural selection." (MAJERUS, 2003 a)


                                          

Die Selektionstheorie, POPPER und der Tautologievorwurf

Im Lichte des Vorangegangenen wollen wir nun LÖNNIGs Ausführungen über POPPERs Zurücknahme des Vorwurfs, die Selektionstheorie sei "tautologisch" formuliert, etwas genauer untersuchen. Daher sei zunächst kurz erklärt, worum es bei der Tautologiefrage im Hinblick auf die Selektionstheorie geht:

Bekanntlich hatte der Wissenschaftstheoretiker K.R. POPPER an der Selektionstheorie Anstoß genommen, wonach der Tüchtigere im "Kampf ums Dasein" übrigbleibt und sich in den Populationen durchsetzt. Oft schon wurde diese Feststellung (nach SPENCER) wie folgt formuliert: "Wer ist der Tüchtigere? Derjenige, der überlebt. Wer überlebt? Der Tüchtigere ('the survival of the survivor')." Die Aussage scheint eine zirkuläre Begründung zu enthalten, einen Zirkel der fatalen Selbstbestätigung der dazu führt, daß die Selektionstheorie keinen faktischen Gehalt besitzt, von vorn herein logisch wahr (tautologisch) ist und nicht empirisch getestet bzw. widerlegt werden kann.

Es erschien POPPER fast trivial, daß man von einer an ihre Umwelt angepaßten ontologischen Art ("dem Überlebenden") in jedem Fall behaupten könne, daß sie ("als Tüchtigere") von der natürliche Auslese begünstigt wurde, während man wiederum von einer ausgestorbenen Art davon ausgehen könne, daß sie an ihr Milieu schlecht angepaßt gewesen sein müsse. Daraus hat POPPER gefolgert, daß auch die Synthetische Theorie der Evolution ein "metaphysisches" (unwissenschaftliches) Forschungsprogramm verkörpere, weil die Selektion (natürliche Auslese) zu ihrem Faktorensystem gehört (wir werden in Abschnitt 8 noch etwas ausführlicher auf diese Thematik eingehen).

Tatsächlich hat er aber seinen Vorwurf wieder zurückgenommen. POPPER, 1978 betont auf S. 345: "Ich habe meine Meinung über die Prüfbarkeit und den logischen Status der Theorie der natürlichen Auslese geändert; und ich bin froh, Gelegenheit zu einem Widerruf zu haben."

LÖNNIG hält den Widerruf (wenigstens im Hinblick auf die "Birkenspanner-Geschichte") jedoch für unnötig. Er schreibt in LÖNNIG: 'Natural Selection':

"To back up his (POPPERs) recantation four years later that 'the theory of natural selection may be so formulated that it is far from tautological' (1978, p. 339), he mentioned as evidence the famous textbook example of 'industrial melanism' of the peppered moth (Biston betularia) asserting that here 'we can observe natural selection happening under our very eyes, as it were'. In this case the majority of the light colored form was believed to have been replaced by a dark type better adapted to sooty trees in the wake of the industrial revolution - an example of 'natural selection' probably well-known to every student who ever attended a course on evolutionary biology at school or university all over the world. Popper's Case of the Peppered Moth: Still more Metaphysics than Science Looking at the famous case of industrial melanism more than 20 years later, we have to point to the most surprising fact that the case has recently been found wanting (Sargent et al., 1998; Majerus, 1998; Coyne, 1998). Hence, we may conclude that Popper's partial retraction of his views was not necessary, at least not because of the example of the peppered moth."

(URL: http://www.weloennig.de/NaturalSelection.html)                              

                                           

Obgleich der keineswegs neue Tautologie-/Metaphysikvorwurf in der elaborierten Evolutionskritik heute praktisch nicht mehr erhoben wird (man findet ihn z. B. in den Schriften der deutschen "Studiengemeinschaft Wort-und-Wissen e.V." meines Wissens überhaupt nicht mehr), haben es also andere Kreise nach wie vor schwer, POPPERs Widerruf zu akzeptieren ("at least ... because of the example of the peppered moth"). Hinter dieser Position stehen hauptsächlich drei Mißverständnisse:

Erstens konzentriert sich der Tautologie- bzw. Metaphysikvorwurf nicht auf die Richtigkeit von Theorien, sondern auf ihren methodologischen Status, also auf ihre Überprüfkeit. Das heißt, es spielt gar keine Rolle, ob POPPER über die zur Rede stehenden Faktoren "falsch informiert" worden ist oder nicht; entscheidend ist hier, daß die Selektionstheorie (etwa am Beispiel der Birkenspanner-Frage) getestet - widerlegt oder bestätigt - werden kann. Dieser Nachweis ist ja, gerade im Hinblick auf die unterschiedlich hohen (in einer klaren Abhängigkeit von den Milieu-Bedingungen stehenden) - Vermehrungsraten der Falter-Morphen, auch geführt worden. Nur und außschließlich vor diesem Hintergrund ist POPPERs Vorwurf und Widerruf zu beurteilen!

WIESER schreibt dazu (Hervorhebungen von mir):

"Ausgangspunkt aller Überlegungen über die Entwicklung der Evolutionstheorie sind drei Prinzipien, auf denen das Darwinistische Modell der biologischen Evolution aufbaut (...) 1. Die Individuen einer Population unterscheiden sich in vielen Merkmalen voneinander: das Prinzip der phänotypischen Variabilität. 2. Individuen vermehren sich, aber in Abhängigkeit von den Bedingungen des jeweiligen Milieus sind die Vermehrungsraten verschiedener Phänotypen unterschiedlich hoch: das Prinzip der differentiellen Tauglichkeit. 3. Das Maß der Tauglichkeit wird von den Eltern auf die Nachkommen übertragen: Tauglichkeit ist erblich (...)

Ein (...) Aspekt der obigen Liste ist, daß jedes der drei Prinzipien prüfbare Aussagen enthält. Die phänotypische Variabilität innerhalb von Populationen sowie die Erblichkeit der Anlagen, auf die variierende Merkmale zurückzuführen sind, ist zumindest seit F. Galtons Analysen vor mehr als 100 Jahren eine empirische Tatsache. Die differenzielle Tauglichkeit von Phänotypen unter natürlichen Bedingungen (...) ist zwar im Einzelfall schwer nachzuweisen, doch kann kein Zweifel darüber bestehen, daß es sich hier um ein prüfbares Konzept handelt (...) Kurz und gut, die logische Struktur dieser drei Prinzipien - des Fundaments der klassischen Evolutionstheorie - enthält nicht die Spur jener angeblichen Tautologie, die viele Philosophen in der Formulierung survival of the fittest (...) zu entdecken meinten."

(WIESER, 1994, S. 16 f.)

                          

Das zweite Mißverständnis gründet, wie MAHNER herausstellt, offenbar in der Verwechslung zwischen Erkenntnis- und Erklärungsgrund (MAHNER, 1986, S. 72 -74). Tatsächlich läßt sich jede empirisch prüfbare These in eine scheintautologische Form gießen, wie folgende Beispiele deutlich machen:


"Warum wird das Wetter schlecht? Weil das Barometer fällt. Warum fällt das Barometer? Weil das Wetter schlechter wird."

"Welcher Körper steht unter dem Einfluß der Gravitation? Derjenige, der zu Boden fällt. Welcher Körper fällt zu Boden? Derjenige, der unter dem Einfluß der Gravitation steht."

"Wer überlebt? Der Tüchtigere. Wer ist der Tüchtigere? Derjenige, der überlebt."


                                      

Es ist unschwer zu erkennen, daß es sich beim Fallen des Barometers um eine spezifische Symptomkonstellation (Erkenntnisgrund) handelt, anhand derer wir auf eine Wetterverschlechterung schließen können. Die Wetterverschlechterung ist dagegen der Erklärungsgrund für das Fallen des Barometers. Ganz analog verhält es sich mit dem Fall von Körpern im Schwerefeld eines Planeten und dem Überleben des Tüchtigeren.

Solche Aussagen sind nicht tautologisch, denn das "Fallen" des Barometers läßt sich empirisch genauso feststellen und auf eine Ursache zurückführen, wie der freie Fall eines Körpers oder die (selektionstheoretisch erklärte) Häufigkeitsverschiebung von Allelen (Genen) in Populationen.

MAHNER (a.a.O.) weist zurecht in Anlehnung an MAYR darauf hin, daß die Stammeltern jeder neuen Generation ihre bevorzugte Stellung nicht deshalb erreichten, weil sie in irgendeinem verschwommenen tautologischen Sinne 'am besten geeignet' sind, sondern weil sie ganz bestimmte, adaptiv überlegene Eigenschaften besitzen, die gemessen werden können und deren genetische Grundlage sich häufig ermitteln läßt.

SPENCERs "survival of the survivor" ist daher nichts weiter als eine überflüssige Explikation, eine:

"(...) Sprachfigur, die völlig entbehrlich ist, wenn es darum geht, die Evolutionstheorie zu begründen. Dementsprechend läßt sich aus ihr auch kein wie immer geartetes philosophisches Kapital schlagen. Obwohl die Logik dieser Argumentation seit langem bekannt ist (...), scheint der Kampf gegen Vorurteile vergeblich zu sein, denn der Vorwurf der Zirkularität ist bis in die jüngste Zeit eine beliebte Waffe der Kritiker der Evolutionstheorie geblieben (LOCKER, 1983)."

(WIESER, 1994, S. 17

                   

Dieselbe Verwechslung von Erkenntis- und Erklärungsgrund liegt, wie MAHNER weiter feststellt; "(...) im übrigen auch dem Vorwurf zugrunde, bei einer phylogenetischen Systematik handele es sich um einen Zirkelschluß. Von antievolutionistischer Seite greift z.B. LÖNNIG (1975) den keineswegs neuen Vorwurf auf, Verwandtschaft werde aufgrund morphologischer Ähnlichkeit und morphologische Ähnlichkeit mit Verwandtschaft begründet. Auch dies ist eine Verwechslung von Erkenntnis- (Ähnlichkeit) und Erklärungsgrund (Verwandtschaft)." Weiterreichende Überlegungen zu den vermeintlichen Zirkelschlüssen finden sich in meinem Artikel:

http://www.martin-neukamm.de/junker2.html        

Über die Rekonstruktion der Stammesgeschichte: phylogenetische Systematik, Fossilien, Übergangsformen und Artbildung                                                         

Das dritte Mißverständnis hat schließlich wieder mit der erwähnten Verwechslung allgemeiner selektionstheoretischer Erklärungen mit selektionstheoretischen Detailerklärungen zu tun, die deutlich macht, weshalb LÖNNIG POPPERs Widerruf für "unnötig" hält: Er begeht nämlich den analogen Fehler wie WELLS in der in Abschnitt 5 besprochenen und von GRANT kritisierten Passage, nicht zwischen den Evidenzen zugunsten der allgemeinen Selektionstheorie und den Detailfaktoren zu unterscheiden und koppelt den Tautologie-Vorwurf (und ob er das explizit beabsichtigt oder nicht: automatisch auch den Status der Selektionstheorie) an die "Richtigkeit" der gegenwärtig verfügbaren, jeweils aktuellen "Anpassungsgeschichten" und ihren mechanismischen Detailhypothesen ["(a) The peppered moth normally doesn't rest on tree trunks (...usw.)" ].

LÖNNIG, 2003 a (man beachte die Adjektive!) im Zusammenhang:

"Zu den highly injurious false facts that have endured long (and still endure!) zähle ich im Falle des Birkenspanners Biston betularia folgende Korrekturpunkte (vgl. Natural Selection NaturalSelection.html): (a) The peppered moth normally doesn't rest on tree trunks (...usw.) Zu diesen Fragen ist Popper jedenfalls falsch informiert worden, in ganz ähnlicher Weise, wie noch heute die Leser von U. Kutscheras Lehrbuch [zur Evolutionsbiologie], an dem ich diese Fehlinformation Poppers weiter veranschaulichen kann."

Und nochmals die Schlußfolgerung in 'Natural Selection' (a.a.O.):

"Hence, we may conclude that Popper's partial retraction of his views was not necessary, at least not because of the example of the peppered moth. So Popper's case of the peppered moth as an observation against his own criticism of natural selection as a metaphysical research program consists, nonetheless, mostly of metaphysics. It may be asked: How is it possible that cases of insufficient or even false evidence for natural selection can be bolstered and presented in such a way that it appears to be so convincing and entirely compelling that even the best minds of the world can be grossly misled - even to the point of modifying a published evaluation on this topic?"

                                                     

Konsequent zu Ende gedacht würde dies bedeuten, daß POPPERs Widerruf in jedem Fall ("and not only because of the example of peppered moth") unnötig wäre, wenn es bis heute nicht gelungen wäre, auch nur für eine einzige Spezies eine empirisch bestätigte "Anpassungsgeschichte" aufzustellen. LÖNNIG spricht hier sogar von "false evidence for natural selection", worin sich zeigt, daß er doch nicht so ganz verstanden hat, wo die "evidence for natural selection" tatsächlich herkommt: Um es noch einmal mit GRANT klarzustellen: "(...) the evidence for natural selection comes from the changes in the percentages of pale and melanic moths." [And   NOT  of any mechanism of selection, adaptive (or DARWINian) story about the resting place of peppered moths and so on.] (1)


Allein dieser Umstand erfordert die Zurücknahme des Tautologievorwurfs; das gilt selbst dann, wenn POPPER "highly injurious false facts" im Hinblick auf die Selektionsmechanismen vermittelt worden sein sollten.

Dieselbe methodologische Unzulänglichkeit in der Argumentation, zwischen selektionstheoretischen Evidenzen und den selektionstheoretischen Detailmechanismen klar zu unterscheiden, wirft GRANT, 2002 auch HOOPER vor, indem er feststellt:

"The fundamental problem is Hooper's failure to clearly distinguish the evidence for natural selection and the mechanism of selection."

Ganz ähnlich äußert sich auch COYNE, auf den die Evolutionsgegner in der "Biston-Frage" gerne rekurrieren, der aber folgendes hervorhebt (COYNE, a.a.O.):

"The biggest shortcoming, however, is Hooper's failure to emphasize that, despite arguments about the precise mechanism of selection, industrial melanism still represents a splendid example of evolution in action. The dramatic rise and fall of the frequency of melanism in Biston betularia, occurring in parallel on two continents, is a compelling case of evolution by natural selection. No force other than selection could have caused such striking and directional change. Hooper's grudging admission of this fact occupies but one sentence: 'It is reasonable to assume that natural selection operates in the evolution of the peppered moth.' "

                            

Die inkonsistente Verwechslung von (mechanismischen) Spezifika mit den allgemeinen evolutionstheoretischen Grundfragen (z. B. der Selektion und/oder der DARWINschen Abstammungsthese) sowie ihrer Evidenzen zieht sich aber nicht nur hier sondern generell wie ein roter Faden durch die antievolutionistische Diskussion. Dies ersieht man daraus, daß die Probleme bei der mechanismischen Detailerklärung bis auf den heutigen Tag von allen Evolutionsgegnern für eine Widerlegung oder Infragestellung der Abstammungsthese gehalten werden, womit nicht verstanden wird, daß sich ein (historischer) Prozeß auch dann belegen läßt, wenn mechanismische Vorstellungen noch unbekannt sind. So meint LÖNNIG zum "Utricularia-Problem":

"Zahlreiche Daten lassen sich hingegen dafür aufführen, dass komplex-synorganisierte Strukturen auf Intelligent Design zurückzuführen sind (vgl. z. B. Utricularia...)"

LÖNNIG hat bislang zu den metatheoretischen Zusammenhängen (ungeachtet wiederholter Anfragen bzw. Aufforderungen von verschiedenen Seiten) beharrlich geschwiegen. Und so werden die immer gleichlautenden Argumente nicht hinterfragt, sondern an wechselnden Beispielen (Biston betularia, Utricularia, Catasetum, Coryanthes usw. usf.) immer wieder auf's Neue erörtert (2).

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Fußnoten:

(1) An dieser Stelle sei die Frage erlaubt, welcher Wissenschaftler angesichts LÖNNIGs Konsequenzen ("Hence, we may conclude that Popper's partial retraction of his views was not necessary, at least not because of the example of the peppered moth.") nicht zwangsläufig zum Schluß kommen muß, daß er die Selektionstheorie nach wie vor für tautologisch, metaphysisch oder zumindest das Wirken von Selektion in der "Biston-Geschichte" derzeit nicht für evident hält. Solange solche Behauptungen verbreitet werden, kann (oder muß) dieser Eindruck beim Leser "implizit" entstehen, worauf hin mir RAMMERSTORFER unterstellt hatte, ein "Strohmannargument" zu konstruieren:

"NEUKAMMS Hauptkritikpunkt an den kritischen Ausführungen zur Birkenspanner-Standardstory, baut letztlich auf dem impliziten Vorwurf auf, LÖNNIG würde die Selektion im Fall 'Birkenspanner' rundweg ablehnen. WENN dem so wäre, ergäbe sich für NEUKAMM tatsächlich eine hervorragende Angriffsfläche! Da es diese Angriffsfläche nicht gibt, musste sie anscheinend konstruiert werden."

                 

(2) Wer sich für die Gesichtspunkte zur Unwissenschaftlichkeit von Schöpfungstheorien (insbesondere für das Utricularia-Problem, die Naturalismusfrage, die fehlende Erklärungskraft von Schöpfungstheorien) interessiert, der sei auf folgende Diskussionsbeiträge hingewiesen:

Antwort auf Herrn Lönnig vom 22.5. (Diskussionsbeitrag auf der Hauptseite des VdBiol)

Der Supernaturalismus als "Lückenbüßer" und Hemmschuh wissenschaftlicher Forschung

Die "Wissenschaft vom intelligenten Design" und wie sie funktioniert (Reflexionen zur Naturalismusfrage)

Die Unabhängigkeit der Abstammungslehre vom Stand der historischen und Ursachenforschung

                                                                                                                                                                                   

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