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Bunge, M.; Mahner, M. (2004): Über die Natur der Dinge. Materialismus und Wissenschaft

S. Hirzel, Stuttgart. 288 Seiten, 14 Abb. Preis: EUR 24,-

M. Mahner, M. Bunge: Über die Natur der Dinge

                   

                         

                         

                               

                         

                                                           

Der philosophische Materialismus, wonach nur konkrete, dinghafte Gegenstände real sind, stand Jahrtausende lang im Schatten des platonischen Idealismus, der auch abstrakten (immateriellen) Objekten, wie Zahlen, mathematischen Termen, Ideen oder sonstigen Denkinhalten eine reale Existenz zugesteht. Zu groß war und ist noch immer die Anziehungskraft mystisch-religiöser Weltbilder und deren Heilsversprechen, in deren Licht der Materialismus oft wie eine sinnleere, radikal reduktionistisch oder gar sozialdarwinistisch angehauchte Ideologie erscheint. Dieses Bild beginnt sich unter dem Einfluß der Naturwissenschaften allmählich zu wandeln, ist es doch überhaupt erst unter Bezugnahme auf eine rationale, von allen übernatürlichen, mystisch-animistischen und immateriellen Sachverhalten befreite Ontologie gelungen, ein kohärentes und erklärungsmächtiges Theoriengebäude zu errichten. Dessen ungeachtet scheuen viele Realwissenschaftler noch immer das Bekenntnis zu einem konsequenten Materialismus, obwohl sie, bewußt oder unbewußt, allesamt als Materialisten forschen. Nicht zuletzt deshalb verbinden die Wissenschaftsphilosophen Bunge und Mahner mit ihrem Buch das Ziel, "die materialistische Fundierung der Realwissenschaften zu untermauern" (S. 233) und zu begründen, weshalb "eine wissenschaftsorientierte und wissenschaftliche Ontologie (...) nur eine materialistische sein kann" (S. 7).

An dieser Stelle sei dem Leser ein kurzer Überblick über den Inhalt vermittelt: Zunächst besprechen die Autoren einige allgemeine Aspekte hinsichtlich des philosophischen Materialismus, Naturalismus und deren Beziehung zur Wissenschaft, dann folgt ein Kapitel, in welchem sie ihren eigenen Entwurf einer emergentistisch-materialistischen Ontologie vorstellen. In welcher Hinsicht ihr Materialismus auch die "Existenz" abstrakter Objekte berücksichtigt, wird im anschließenden dritten Kapitel erörtert, während sich der vierte Abschnitt des Buchs mit den Haupteinwänden auseinandersetzt, mit denen sich der Materialismus im allgemeinen konfrontiert sieht. Im fünften Kapitel stellen Bunge und Mahner sodann die Grundzüge einer auf dem Naturalismus fußenden Ethik vor und zeigen anhand philosophischer Argumente, weshalb entgegen der populären Meinung das Denken in moralischen Kategorien gerade nicht religiös begründet werden kann. Der sechste Teil widmet sich schließlich der Frage nach der Vereinbarkeit von Wissenschaft und Religion, womit zum abschließenden Kapitel "Materialismus und wissenschaftliches Weltbild" übergeleitet wird.

In Anlehnung an Heraklit steht im Mittelpunkt des von Bunge und Mahner dargestellten, emergentistischen Materialismus die dynamische Auffassung von der Welt und ihrer Subsysteme. So besagt das zentralste Postulat ihrer Ontologie, daß die Welt ausschließlich aus materiellen Gegenständen ("Dingen" oder "Entitäten") besteht, die sich durch die Fähigkeit zur Veränderung auszeichnen. Das heißt, nur Dinge können Energie besitzen, eine Zustandsänderung erfahren, mit anderen Dingen interagieren, sich zu Systemen zusammenschließen und dabei qualitativ neue Eigenschaften erwerben oder diese - bei der Auflösung von Systemen - wieder verlieren. Somit ist die materialistische Weltauffassung der Autoren eng verbunden mit dem Begriff der Emergenz, an dem keine moderne Realwissenschaft vorbeikommt, ist doch die Entstehung qualitativer Neuheiten ein zentrales Merkmal unserer evoluierenden Welt, die es zu beschreiben und zu erklären gilt. Dahingegen haben immaterielle, begriffliche Objekte (wie etwa Zahlen, Mengen, Ideen und Werte) keine substantiellen Eigenschaften, keinen Zustand und daher schlußendlich keine reale Existenz. Ein wichtiges Fazit lautet daher, daß sich "Wirklichkeitswissenschaftler (...) nur mit materiellen Gegenständen" beschäftigen (S. 233) und deren "schier unbegrenzte Fähigkeit, neue 'Formen' oder Eigenschaften hervorzubringen" analysieren (S. 54).

Wem es angesichts dieser Auffassung auf der Zunge liegt, hervorzuheben, daß auch immaterielle Objekte, wie Raum, Zeit oder Energie existieren, dem führen Bunge und Mahner vor Augen, weshalb solche Meinungen auf Kategorienfehlern beruhen: Zum einen haben Raum und Zeit keine autonome Existenz, weil sie von den Dingen überhaupt erst konstituiert werden: "Ohne sich verändernde Dinge gäbe es keine Raumzeit" (S. 67). Andererseits wird auch die Energie als Eigenschaft materieller Objekte verstanden, und wie alle Eigenschaften von Dingen existiert sie nicht unabhängig von diesen, sondern läßt sich nur begrifflich von ihnen trennen (abstrahieren). In gleicher Weise sind platonische Ideen bzw. "objektives Wissen ohne erkennendes Subjekt (...) lediglich die Gespinste einiger Metaphysikerhirne" (S. 123). Kurzum: Abstrakta sind von fiktiver, nicht jedoch von realer Existenz; das heißt Voraussetzung für die "Existenz" von Immateriellem ist das Vorhandensein hochevolvierter Gehirne, die es denken können. Folglich werden sie "in dem Moment aufhören zu existieren, in dem wir aufhören, sie zu denken (...) genauso wie Götter untergegangener Religionen aufgehört haben zu existieren" (S. 115).

Doch wird, so könnte man gegenfragen, bei der Kommunikation nicht eine "Information" bzw. ein "Stück Wissen" transferiert, das jenseits von Gehirnen existiert? Wenn dem so wäre, müßte es gleichsam möglich sein, "Wissenspakete" wie Waren zwischen den Gehirnen auszutauschen, so daß "Lehren und Lernen nicht so schwierig und anstrengend sein [dürfte], wie es tatsächlich ist" (S.125). Anhand der Tatsache, daß eine Kommunikation oft nicht verstanden oder mißverstanden wird, machen die Autoren deutlich, daß Wissen nur im Gehirn erzeugt wird, und zwar lediglich dann, wenn "zwei Individuen (...) mittels Artefakten so interagieren, dass (...) in den Gehirnen (...) ähnliche Prozesse konstruiert oder rekonstruiert werden" (S. 124). Wer von der "Existenz" von Wissen spricht, sollte sich also im Klaren darüber sein, daß er sich einer metaphorisch vereinfachten Sprechweise bedient, die nicht im ontologischen Sinn verstanden werden darf. Andernfalls sind Ausdrücke wie "Informationsfluß", "Wissenstransfer", "Materie-Energie" und dergleichen platonisch eingefärbte, ontologische Mißformulierungen, die im Buch eloquent auf materialistischer Grundlage kritisiert werden.

Insgesamt läßt sich festhalten, daß es den Autoren vortrefflich gelungen ist, zu begründen, warum sich Wissenschaftler ganz als Materialisten verhalten und weshalb eine idealistische Ontologie nicht als Bestandteil wissenschaftsorientierter Weltbilder infragekommen kann. Obwohl es für den Leser nicht immer einfach ist, sich die exakte ontologische Begrifflichkeit der Autoren anzueignen, besticht das Buch durch die systematische und kohärente Darlegung aller für das Verständnis der Ontologie benötigten Grundbegriffe (wie z.B. Ding, Eigenschaft, Gesetz, Zustand, Ereignis, Prozeß, Realität, System, Emergenz, Sachverhalt, Phänomen usw.) und deren logische Beziehungen sowie die Postulate und Folgerungen ihres emergentistischen Materialismus, der meines Wissens in dieser Tiefe und Klarheit bislang noch nicht behandelt wurde. Vor allem die analytische Tiefe, mit der die Inkohärenz konkurrierender Philosophien herausgestellt wird, macht die Lektüre zu einem intellektuellen Vergnügen und stellt die Vertreter immaterialistischer Weltbilder vor ernste Rechtfertigungsprobleme, da sie nicht annähernd mit einer solch detaillierten, geschweige denn mit einer klaren oder gar mit einer konsistenten Ontologie aufwarten können.

Selbstredend haben die Autoren auch keinerlei Bedarf an Poppers "Dreiweltenlehre" oder am "psychophysischen Dualismus", demzufolge Gehirn und Bewußtsein zwei voneinander getrennte Dinge sind und damit verschiedenen Bereichen der Wirklichkeit angehören sollen. Wie alle Eigenschaften von Dingen, so sind auch Geist und Bewußtsein ontisch nicht vom materiellen Substrat (sprich: dem Gehirn) zu trennen. Bunge und Mahner ist daher zuzustimmen, wenn sie das "Leib-Seele-Problem" nur als eine kuriose Anomalie betrachten und den Substanzdualismus als vage, prinzipiell nichtwiderlegbare und heuristisch wie explanativ wertlose These einstufen. Der Dualismus liefert eben "keine Theorie des Geistes, ja nicht einmal eine Definition" (S. 145); dennoch spricht er "von geistigen Zuständen oder Prozessen (...) ohne anzugeben, welches der Gegenstand ist, der sich in solchen Zuständen befindet", und auch auf die Frage, "wie der Geist mit dem Gehirn interagieren soll" und "warum mein Geist nur mit meinem Gehirn interagiert" (ebd.) hat er keine Anwort, so daß er an Sinnlosigkeit grenzt und rein gar nichts "zur Erklärung des Mentalen" beiträgt.

Wiewohl das Buch die ontologischen Aspekte unseres modernen wissenschaftlichen Weltbildes eingehend erörtert, geht es über den metaphysischen Rahmen der Realwissenschaften hinaus und behandelt z.B. auch ethische Gesichtspunkte, die in keinem Buch über den Materialismus fehlen sollten. Schließlich gilt es ja, dem alten - immer noch fest im öffentlichen Meinungsbild verankerten - Vorurteil entgegenzuwirken, daß Ethik notwendigerweise an Religion gebunden und so der Materialismus nicht in der Lage sei, moralischen Aspekten gerecht zu werden. Die im Buch vorgestellten Grundzüge einer materialistisch orientierten Moralphilosophie widerlegen jedoch nicht nur diese Auffassung, indem sie erklären, wie sich Ethik aus der Perspektive des Materialismus denken läßt. (Ihr zufolge existieren Werte und Normen eben nicht "ontisch objektiv", sondern entspringen den Bedürfnissen der zu sozialen Gemeinschaften zusammengeschlossenen Individuen.) Vielmehr zeigen die Autoren im Rahmen ihrer philosophischen Analysen ebenfalls mit bemerkenswerter Gründlichkeit, warum alle Versuche einer theologischen Rechtfertigung von Ethik in einer Sackgasse enden, so daß schlußendlich gar keine Möglichkeit besteht, übernatürliche Instanzen für die "Existenz" moralischer Kategorien verantwortlich zu machen.

Doch wie steht es mit der Vereinbarkeit von Religion und Wissenschaft; läßt sich die Annahme einer mit unserer Welt interagierenden Übernatur mit einer wissenschaftlich orientierten Philosophie vereinbaren? Das Buch läßt keinen Zweifel daran bestehen, daß jede Kompatibilitätszubilligung in dieser Richtung einen zweifelhaften Kompromiß darstellt, weil die Möglichkeit einer völlig konfliktfreien Synthese nicht besteht - es sei denn, Religion beschränkt sich auf die Vorstellung, daß die postulierte Übernatur das Weltgeschehen nicht kausal beeinflußt. Eine solch "ontologisch radikale" (deistische oder pantheistische) Lösung wird jedoch nur wenig gläubige Menschen zufriedenstellen, besteht doch der Kern theistischer Religion gerade darin, ihrem Anhänger wenigstens das Zustandekommen zeitweiser Kontakte zwischen der Welt und jener "Überwelt", an die er glaubt, zu versprechen. Sobald derartiges angenommen wird, beschäftigt sich Religion aber zum Teil mit denselben Gegenstandsbereichen wie die Wissenschaften, d.h. sie trifft Aussagen über weltimmanente Sachverhalte, so daß "Konflikte mit den Wissenschaften und vor allem ihren metaphysischen Postulaten auftreten" (S. 203).

Selbst wenn man die Anhänger religiös fundamentalistischer Strömungen ausklammert, die einen mehr oder minder großen Teil wissenschaftlicher (insbesondere evolutionäre) Faktenaussagen ignorieren, sind auch liberalere Religionen auf eine (minimale) Teleologie und platonische Vorstellungen (z.B. über die "Auferstehung" bzw. ein "Weiterleben nach dem Tod") angewiesen. Somit vertragen sich theistische Religionen über weite Bereiche nicht nur nicht mit dem aktuellen Wissensbestand, sondern auch und vor allem nicht mit den ontologischen, methodologischen und endoaxiologischen Prinzipien der Naturwissenschaften, wonach es das Weltgeschehen eben naturalistisch - ohne Rekurs auf wundersame, immaterielle Sachverhalte - zu erklären gilt. Diese von den Autoren vertretene Auffassung setzt natürlich eine ausführliche Charakterisierung von Religion einerseits und Grundlagenwissenschaften andererseits sowie den systematischen Vergleich ihrer philosophischen Setzungen voraus, die im Buch in beispielhafter Klarheit abgehandelt werden.

Alles in allem läßt sich resümmieren, daß auf dem nationalen wie internationalen Buchmarkt kaum eine derart kohärente, fachkompetente und systematisch gründliche Darlegung des ontologischen Materialismus sowie der Idealismus- und Religionskritik existieren dürfte, die mit fast 300 Literaturstellen auch ein argumentativ mächtiges und mutiges Plädoyer für den Materialismus darstellt. Somit ist es zugleich ein unbequemes, provokatives, stellenweise auch schwieriges und doch überaus lesenswertes Buch. Wer sich ernsthaft mit den ontologischen Grundlagen der Naturwissenschaften sowie mit den Argumenten für und wider alternative Philosophien auseinandersetzen möchte, für den ist dieses Werk ein absolutes Muß.

Last update: 12.01.05                                  

           


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