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Ib. Wissenschafts-
und erkenntnistheoretische Grundlagen
Die Evolutionstheorie in der
wissenschaftstheoretischen Kritik
2. Die Wissenschaftlichkeit in der
Evolutionstheorie
Über das Wesen des Beweises und die hypothetico-deduktive Methode
der Wissenschaft
Evolutionsgegner
machen sich in aller Regel eine erkenntnistheoretische Position zueigen,
die Theorien nur dann einen naturwissenschaftlichen Status einräumt,
wenn deren Erkenntnisgegenstände jederzeit beobachtet (bzw.
direkt experimentell durchleuchtet) werden können. Die Folge
ist, daß historische Theorien und Hypothesen, wie beispielsweise
DARWINs Abstammungshypothese, aus der Naturwissenschaft herausfielen. Damit
hätten die Kritiker ein für sie wichtiges Etappenziel erreicht,
nämlich die Evolutionstheorie naturwissenschaftlich zu isolieren. Wir
wollen in diesem Artikel die als Empirismus bezeichnete Methodologie
kritisch untersuchen, zeigen daß sie veraltet ist und erklären,
weshalb die Strategie, eine methodologische Trennlinie zwischen
Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft zu
errichten, nicht konsistent durchgehalten werden kann. In diesem Kontext
wollen wir auch auf den oft erhobenen Zirkelschluß-Vorwurf sowie auf
die Prognosefähigkeit von Theorien als Wissenschafts-Kriterium eingehen.
2.1. Die Evolutionsgegner und die Beschränkung von
Naturwissenschaft auf das direkt Beobachtbare
Die Erfahrung zeigt, daß Lebewesen immer aus Organismen ihrer Art
hervorgehen. Man kann beobachten, daß aus einer Buchecker immer nur
eine Buche entsteht und daß sich aus den Eiern des Grasfrosches immer
nur Grasfrösche entwickeln. Die Beobachtung lehrt uns also die
Unveränderlichkeit (Konstanz) der Arten. Es kann daher nicht
überraschen, daß sich Evolutionsgegner auf derartige Beobachtungen
berufen und behaupten, statt "Makroevolution" ließe sich "(...)
hingegen weltweit die Degeneration von Arten biologisch-genetisch beweisen
(...)" (LÖNNIG, 1998).
Mit solchen Aussagen wird impliziert, daß sich
Naturwissenschaft auf die Erforschung des
jederzeit Feststellbaren zu beschränken und "metaphysische
Spekulationen" zu meiden habe. Als Folge dieses Wissenschaftsverständnisses
werden natürlich alle Hypothesen und Theorien, die sich mit
geschichtlichen Ereignissen beschäftigen (wie die
Abstammungshypothese), aus der Naturwissenschaft herausgehalten, da
Vergangenes im Nachhinein nur im Rahmen einer "theoriegeleiteten
Interpretation" von Daten, nicht aber durch
die "unbefleckten Beobachtungsdaten", erschlossen werden kann.
Deshalb legen Evolutionskritiker wie JUNKER
und SCHERER viel Wert auf eine:
"(...) sorgfältige Trennung von objektiven
Daten, theoriegeleiteten Interpretationen und weltanschaulichen Vorentscheidungen
(...) weil sich zeigt, daß das Problem des Ursprungs und der Geschichte
des Lebens grundsätzlich nicht ohne weltanschauliche
Grenzüberschreitung bearbeitet werden kann." "(...) Naturwissenschaft
dagegen befaßt sich mit gegenwärtig ablaufenden Vorgängen
und gegenwärtigen Strukturen der Welt und kann die historische Dimension
nicht erfassen (...) Es ist ja nicht möglich, die Geschichte der Lebewesen
durch direkte Beobachtung oder durch experimentelle Analysen zu
erhellen."
(JUNKER und SCHERER, 1998, S. 5 und 17)
Haben Evolutionsgegner also Recht wenn sie behaupten, die Abstammungshypothese
beschäftige sich mit Prozessen, die sich mit rein naturwissenschaftlichen
Methoden nicht erforschen lassen?
Zunächst ist festzuhalten, daß der Einwand einer
Wissenschaftsphilosophie entspringt, die man als Empirismus
(1) bezeichnet.
Als Quelle der Erkenntnis akzeptiert der Empirismus nur die "nackte" Erfahrung
(direkte Beobachtung). Die Aufgabe von Wissenschaft soll kurzerhand darin
bestehen, intersubjektiv nachprüfbare Erscheinungen zu
beschreiben (in Beobachtungssätzen zusammenzufassen), sie aber
nicht mithilfe von postulierten Gegenständen oder Prozessen zu
erklären, die jenseits des sinnlich Erfahrbaren
existieren (MAHNER, 2003, S. 221-222). Kurzum: Die Beobachtung
wird als selbstevidente (für sich selbst sprechende) "Tatsache" sowie
als einzig verlässliche Basis für die wissenschaftliche Erkenntnis
gewertet, der keine theoretische Interpretation vorgelagert sein darf
(Forderung nach "Theoriefreiheit"). Aussagen, die jenseits der Erfahrung
liegende Begriffe enthalten, sind wissenschaftlich sinnlose
"Grenzüberschreitungen".
Die Empiristen übersehen aber, daß weder in den experimentellen
noch in den historischen Wissenschaftsbereichen Begriffe wie
"theoriefreie Beobachtungen", "objektive Daten" oder
"Grenzüberschreitungen" vorkommen. Beobachtungen sprechen niemals
für sich selbst, sind oft irreführend und müssen im Rahmen
vorgegebener, transempirisch-abstrakter Theorien interpretiert und wenn
nötig sogar relativiert oder verworfen werden. POPPER hat mit großer
Eindringlichkeit gelehrt, daß es eine allein der Beobachtung innewohnende
Beweiskraft in keinem Falle gibt. Er schreibt:
"Der ältere Positivismus [Empirismus] wollte
als wissenschaftlich (oder legitim) nur solche Begriffe anerkennen, die 'aus
der Erfahrung stammen' (...) Der neuere Positivismus (...) will nur jene
Sätze als 'wissenschaftlich' oder 'legitim' anerkennen, die sich auf
elementare Erfahrungssätze (...) zurückführen lassen. Es ist
klar, daß dieses Abgrenzungskriterium mit der Forderung der Induktionslogik
identisch ist. Dadurch, daß wir die Induktionslogik ablehnen, sind
auch diese Abgrenzungsversuche für uns unbrauchbar."
(POPPER, 1984, S. 9 f.)
Auf unseren Problemkreis übertragen bedeutet dies, daß nicht nur
Evolutionsbiologen, sondern auch Wissenschaftler aller anderen (auch der
experimentellen) Disziplinen - in ihrem Bestreben die Welt zu erklären
- Beobachtungen durch "vorgelagerte" Theorien
interpretieren und Dinge postulieren müssen, die nicht auf die
Erfahrung rückführbar sind.
So kann beispielsweise ein Chemiker im Experiment chemische
Reaktionen beobachten und gesetzmäßig beschreiben, so wie
ein Biologe im Wandel des Fossilienbestandes Gesetzmäßigkeiten
feststellt. Um solche Beobachtungen aber einer Erklärung
zuzuführen, müssen beide Wissenschaftler (mechanismische) Theorien
voraussetzen, die die Gesetzmäßigkeiten auf die Existenz
"metaphysischer", nicht erfahrbarer Elemente (im einen Fall auf Atome
und Moleküle, im anderen Fall auf transspezifische
Evolution) zurückführen. Niemand war dabei, als sich die
Arten wandelten, und niemand ist auf der elementaren Ebene dabei, wenn sich
die Materie wandelt, daran ändert auch die Wiederholbarkeit eines
Experiments nichts! Deshalb kann ein Chemiker ebensowenig die
Existenz der postulierten Atome theoriefrei aus dem Experiment ableiten,
wie ein Biologe die postulierte "Makroevolution" theoriefrei aus der Beobachtung
erschließen kann.
Die Aufgabe der Naturwissenschaft besteht kurzerhand darin,
phänomenologische Makrogrößen auf einer "tieferen unsichtbaren
Ebene mit andersartigen Elementen und Verbindungsmechanismen", das
heißt unter Rückgriff auf grundsätzlich unbeobachtbare
Dinge und Prozesse verstehbar zu machen (KANITSCHEIDER, 1981, S.
33). Der objektive Informationsgehalt einer Beobachtung muß
in jedem Fall aktiv herausgefiltert werden und erschließt sich uns
nicht durch die passive Hingabe und Verabsolutierung der Sinneswahrnehmung
oder des Experiments. Somit ist die Rekonstruktion
evolutionshistorischer Prozesse nicht grundlegend verschieden von der
methodischen Rekonstruktion der "atomaren Wirklichkeit"
(MAHNER, 1986, S. 41; KITCHER, 1982, S. 35
ff.)!
Wollten wir die Wissenschaftsauffassung der Evolutionsgegner ernst nehmen,
müßten wir daher nicht nur die Abstammungshypothese, sondern unter
anderem auch die Atomtheorien, die Standardtheorie der
Elementarteilchen und die Relativitätstheorien für
"außerwissenschaftliche" und unbeweisbare "Grenzüberschreitungen"
halten. Und das Kopernikanische Weltbild wäre eine
"Grenzüberschreitung, die ebenfalls über
den Rahmen des empirisch Begründbaren hinaus führt"
(JUNKER und SCHERER, 1998, S.19), weil man ja beobachtet,
wie sich die Sonne um die Erde dreht (REMANE et al., 1973, S.
9). Selbst Fossilien, deren Status niemand anzuzweifeln auf die Idee
kommt, wären "gewagte Interpretationen". Denn, so antwortete schon TSCHULOK
auf die Kritik FLEISCHMANNs (1901):
" (...) so dürften wir den fossilen Tieren
(mit Ausnahme der Mammuts) keine Eigenschaften beilegen, die sich aus ihrer
Zugehörigkeit zu bestimmten Formenkreisen ergeben. Denn auch schon das
Hinzudenken des Weichkörpers zum gefundenen Steinkern
(etwa einer Muschel oder eines Ammoniten) ist durchaus nicht frei von 'gewagten'
Zutaten (...) wer nicht bestimmte Postulate gelten läßt (die
nicht aus der Beobachtung stammen); wer sich nicht bei ähnlichen
Gelegenheiten sagt: ich muß mir dies und jenes hinzudenken, sonst reimt
sich das nicht mit allem, was ich von dem oder jenem weiß; für
den ist die Annahme, daß in diesem gewundenen Stein einst ein Tier
von bestimmtem Typus, von bestimmter Klasse oder Ordnung gelebt hat, immerhin
eine gewagte."
(TSCHULOK, 1922) - Hervorhebung
im Schriftbild von mir
Entsprechend stellt POPPER zu der evolutionskritisch-empiristischen Forderung,
sich nur an den vermeintlichen "Tatsachen" zu orientieren und gleichsam alle
Interpretationen aus der Naturwissenschaft herauszuhalten, die der Beobachtung
vorgelagert und nicht auf die Erfahrung rückführbar sind, fest:
"(...) Der positivistische [empiristische] Radikalismus
vernichtet mit der Metaphysik auch die Naturwissenschaft: Auch die Naturgesetze
sind auf elementare Erfahrungssätze logisch nicht
zurückführbar. Wendet man das
Wittgensteinsche Sinnkriterium konsequent an, so sind auch die Naturgesetze,
die aufzusuchen 'höchste Aufgabe des Physikers ist' (...) sinnlos, d.h.
keine echten (legitimen) Sätze (...)"
(POPPER, 1984, S. 11)
"It does appear that some people think that I denied
scientific character to the historical sciences, such as palaeontology, or
the history of the evolution of life on Earth. This is a mistake, and I here
wish to affirm that these and other historical sciences have in my opinion
scientific character; their hypotheses can in many cases be tested."
(POPPER, 1981, S. 611)
Im Hinblick darauf, daß also
"Geschichts-" und "Gegenwartsforscher"
gleichermaßen einen jenseits aller Erfahrung liegenden,
im Transempirischen verborgenen Erkenntnisgegenstand zu rekonstruieren haben,
bleiben den Evolutionsgegnern also letztlich nur zwei Möglichkeiten:
Entweder sie halten gleichsam alle nicht der Beobachtung entstammenden
Dinge und Prozesse (Atome, Elementarteilchen, transspezifische Evolution
usw.) aus der Naturwissenschaft heraus, oder sie akzeptieren die
naturwissenschaftliche Erforschbarkeit "gegenwärtiger" (aber eben der
Beobachtung verschlossener) und historischer Gegenstandsbereiche,
wie "Makroevolution". Aber die Trennung in eine "experimentelle
Naturwissenschaft" und eine "spekulative Evolutionstheorie" ist
methodologisch nicht konsistent durchzuhalten.
Um nun solch einen spekulativen, hypothetischen Gegenstand,
wie ein Schwarzes Loch, ein Atom oder eben "Makroevolution" wissenschaftlich
zu untermauern, müssen sich aus der Theorie beobachtbare Sachverhalte
schlußfolgern (deduzieren) lassen, die auf irgendeiner
Stufe der empirischen Prüfung zuführbar sind. Verlaufen die Tests
der theoretischen Folgerungen erfolgreich ab, kann sie der Wissenschaftler
als Indizien werten, um die postulierten Dinge und Prozesse mit einem mehr
oder minder hohen Grade der Gewißheit für wahr zu halten.
Die Theorie der transspezifischen Evolution läßt beispielsweise
eine abgestufte Ähnlichkeit zwischen den Arten erwarten, und auch der
stufenweise Wandel der Formen im Fossilienbestand gehört zu den Folgerungen
der Theorie. Auch das Auftreten von Atavismen und rudimentären Organen
gilt als positiver Test der Abstammungshypothese. Ferner wurde der Nachweis
von Selektion theoretisch erwartet, dasselbe gilt für Brückenarten,
Zwischenformen und Fossilien, die mit abnehmendem Alter immer mehr den rezenten
Arten gleichen. Gegenteilige Befunde könnte die Abstammungshypothese
nicht erklären, der Evolutionsbiologe kann daher mit hoher Sicherheit
den postulierten, nicht der Erfahrung entstammenden Prozeß für
wahr halten (näheres dazu in Kapitel V).
Die Bestätigung gestattet es dem Wissenschaftler schließlich,
seine Theorie auch auf Bereiche der Wirklichkeit auszudehnen, wo sie nicht
getestet werden kann. Diese Methode der wissenschaftlichen Theorienprüfung
wird als hypothetico-deduktiv bezeichnet. Dazu schreibt
KANITSCHEIDER:
"Newtons in axiomatischer Form eingeführte
neue Mechanik ist zweifellos das erste Paradebeispiel einer hypothetisch-deduktiv
aufgebauten Theorie, die an ganz zentraler Stelle Nichtobservablen wie etwa
die Kraftfunktion verwendet. Er war sogar bereit, grundsätzlich
unbeobachtbare Objekte wie etwa den absoluten Raum als respektable physikalische
Entitäten anzuerkennen, da es empirische Effekte gibt, zu deren
Erklärung man dieses theoretische Element braucht (...) Wenn man einen
Grund für den überwältigenden Erfolg der modernen
Naturwissenschaft angeben soll, so ist es vermutlich die wachsende Abstraktion
von der grobsinnigen Erfahrung bei der Wahl der Bausteine der
Theorien."
(KANITSCHEIDER, 1981, S. 41)
Es leuchtet, wie wir bereits angedeutet haben, ein, daß der
Naturwissenschaftler mit der Erforschung des Unbeobachtbaren auch keine
endgültig "wahren", gleichsam "bewiesenen" Aussagen erstellen kann.
Statt dessen ist es nur möglich, Indizien aufzudecken, die seine
Aussagen bestenfalls mit einem bestimmten Grade der Gewißheit
untermauern (RIEDL, 1980, S. 38
ff.). Streng logische,
"theorieunabhängige" Beweise aber, wie sie beispielsweise FLEISCHMANN,
LÖNNIG, JUNKER und SCHERER von den Evolutionsbiologen einfordern, sind
in der hypothetisch schlußfolgernden Wissenschaft generell nicht
führbar - der Sicherheitsanspruch, der von den Empiristen an die
methodologische Beweisführung gestellt wird, ist gar nicht zu bekommen.
Daraus läßt sich weder der Evolutionstheorie ein
wissenschaftstheoretischer Strick drehen, noch der nichtwiderlegbaren
Schöpfungshypothese Raum verschaffen.
Abschließend seien die wichtigsten Aspekte dieses Abschnitts nochmals
wie folgt zusammengefaßt:
-
Tiefere Erkenntnisse gehen in der Wissenschaft nicht aus der Beobachtung,
sondern aus dem Wechselspiel zwischen Beobachten und Theoretisieren
hervor. (Experimentelle) Daten sind oftmals wertlos und unverständlich,
wenn sie nicht im Lichte einer explanativen Theorie erhellt werden. Wissenschaft
operiert also hypothetisch schlußfolgernd und nicht empiristisch,
weswegen sich die Trennung in eine "experimentelle Naturwissenschaft" und
eine "metaphysische Geschichtswissenschaft" (z.B. Deszendenzlehre)
erkenntnistheoretisch nicht rechtfertigen läßt.
-
Das methodologische Wesen des "Beweises" liegt
nicht in der unmittelbaren Feststellbarkeit der postulierten Gegenstände
und Prozesse, sondern in der Fähigkeit der Theorie, möglichst viele,
scheinbar beziehungslos nebeneinanderstehende Erscheinungen
zusammenzuführen und zu erklären. Die eigentlichen
Wahrheitsindikatoren sind insbesondere Erklärungsmacht,
Kompatibilität, wechselseitige Erhellung und heuristische
Kraft von Theorien (vgl. MAHNER und BUNGE, 2000, S. 129-131; VOLLMER,
1985, S. 8).
2.2. Der Vorwurf vom "vitiösen Zirkelschluß" im Lichte der
Wissenschaftstheorie
Ruht die Begründung der Evolutionstheorie auf unwissenschaftlichen
Zirkelschlüssen?
Ein Einwand, der sich eng an die Wissenschaftsauffassung der Empiristen anlehnt,
nimmt auf die Tatsache Bezug, daß die postulierte Verwandtschaft zwischen
den Arten nicht zwingend aus den abgestuften Formenähnlichkeiten
herausgelesen werden kann. Deshalb betonen die Evolutionsgegner, daß
die Abstammungshypothese, die es eigentlich zu "beweisen" gelte, stillschweigend
vorausgesetzt, das heißt Ähnlichkeit mit Verwandtschaft und
Verwandtschaft wiederum mit Ähnlichkeit begründet werde.
Die Evolutionsbiologen argumentierten - so die Kritiker - kurzerhand
im Kreis, wodurch eine wechselseitige (tautologische) Selbstbestätigung
von Aussagen entstehe, die man "vitiösen
Zirkelschluß" nennt.
LÖNNIG schreibt:
"Fast die gesamte phylogenetische Systematik aber
steht und fällt mit der unbewiesenen Voraussetzung der
Gesamtevolution! (...) Statt Evolution
läßt sich hingegen weltweit die Degeneration von Arten
biologisch-genetisch beweisen (...) Es sei an dieser Stelle
nur hervorgehoben, dass weder für das Exon-shuffling noch für Ohnos
Oligomerhypothese in der hypothetischen Ursuppe experimentelle
Beweise vorliegen (...) Daß man hier einem
Zirkelschluß zum Opfer fiel, wurde kaum bemerkt; das, was man
beweisen wollte, daß nämlich Ähnlichkeit auf
Entwicklung beruhe, setzte man einfach voraus und machte dann die verschiedenen
Grade, die Abstufung der (typischen) Ähnlichkeit, zum
Beweis für die Richtigkeit der
Entwicklungsidee."
(LÖNNIG, 1998) - Hervorhebungen im Schriftbild
von mir
Wie erinnerlich, muß jeder Wissenschaftler von theoretischen
Voraussetzungen ausgehen, die er nicht streng logisch beweisen kann, so daß
die Kritik aus wissenschaftstheoretischer Sicht keine Relevanz besitzt.
Es existiert mit anderen Worten kein "methodologischer Sonderstatus"
der Evolutionstheorie, wie offenbar geglaubt wird.
Tatsächlich wurde die Behauptung, die
"Entwicklungsidee" beruhe auf einem Zirkelschluß, den
wissenschaftskritischen Kulturrelativisten entliehen, die den
Naturwissenschaften insgesamt vorwerfen, daß sie nicht dem
"klassischen" Schema folgen, wonach einer Theorie stets ein Experiment
voranzugehen habe, welches ausschließlich diese und keine andere Theorie
beweist (WOLF, 1999). Entsprechend einfach lassen
sich die für die Wissenschaft fatalen Konsequenzen des
Zirkelschlußvorwurfs demonstrieren; man braucht dazu nur den von
LÖNNIG kritisierten Gegenstandsbereich (Evolution) gegen andere
auszutauschen und könnte dann beispielsweise folgendes behaupten:
"Fast die gesamte Himmelsmechanik aber steht und
fällt mit der unbewiesenen Voraussetzung vom heliozentrischen
Weltbild! (...) Statt der Drehung der Erde um die Sonne läßt
sich hingegen die Bewegung der Sonne an der Himmelskuppel
beweisen (...) Es sei an dieser Stelle nur hervorgehoben, dass
weder für die zentrale Stellung der Sonne im Planetensystem noch für
die Drehung der Erde experimentelle Beweise vorliegen (...)
Daß man hier einem Zirkelschluß zum Opfer fiel, wurde kaum bemerkt.
Das, was man beweisen wollte, daß nämlich die
Wirbelbildung der Wolken in der Corioliskraft einer sich drehenden Erde
gründe, die Schleifenbewegung der äußeren Planeten am Firmament
auf einer die Sonne umlaufenden Erde beruhe und sich die Entstehung zweier
antipoder Flutberge als die Manifestation einer aus Gravitation und Fliehkraft
resultierenden Gezeitenwirkung darstelle (wie man sie bei um ein Zentrum
rotierenden Körpern vorfindet); all das setzte man einfach voraus und
machte dann die genannten Erscheinungen zum Beweis für
die Richtigkeit des heliozentrischen Weltmodells."
"Fast die gesamte Chemie aber steht und fällt
mit der unbewiesenen Voraussetzung von der Existenz von Atomen!
(...) Statt der Existenz diskreter Materieeinheiten (Atome) läßt
sich hingegen die beliebige Teilbarkeit der Materie empirisch
beweisen (...) Es sei an dieser Stelle nur hervorgehoben, dass
weder für die Quantelung der Materie noch für eine Grenze der
Teilbarkeit experimentelle Beweise vorliegen (...) Daß
man hier einem Zirkelschluß zum Opfer fiel, wurde kaum bemerkt; das,
was man beweisen wollte, daß nämlich die
Gesetzmäßigkeiten bei chemischen Umsetzungen auf einer Quantelung
der Materie beruhten und die Spektren der Elemente oder der fotoelektrische
Effekt das (BOHRsche) Atommodell beweisen, setzte man einfach
voraus, machte die RUTHERFORDschen Streuversuche zum Beweis
für die Existenz von kleinen kompakten Atomkernen, die in
verhältnismäßig großen Abständen von
Hüllen-Elektronen umkreist werden und deutete alle Befunde
einfach im Licht der nach wie vor unbewiesenen
Atomtheorie."
Diese Beispiele (die Liste ließe sich beliebig erweitern) illustrieren
also, daß das konsistent gewobene Theoriengebäude der Wissenschaft
wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen würde, falls man es
als machbar erachten würde, auch nur ein Aussagensystem des stimmigen
naturalistischen Weltbildes auf dem Altar des Empirismus zu opfern. In
diesem Sinne forciert LÖNNIG also nicht nur die Destruktion der
Evolutionstheorie, sondern gleich die aller übrigen Theorien der
Wissenschaft noch dazu.
Es kommt hinzu, daß in keinem der beschriebenen Beispiele ein
"vitiöser Zirkelschluß" zum tragen kommt,
sondern eine übliche Erkenntnisstrategie der
Wissenschaft, ein fruchtbarer Rückkopplungsprozeß zwischen
Beobachten und Theoretisieren. Die Belege
konzentrieren sich schließlich nicht auf einzelne Beobachtungen, die
man im Lichte der Theorie interpretieren kann, sondern gleich in einer ganzen
Batterie von Koinzidenzen. Ferner stehen die unterschiedlichsten Disziplinen
(Biostratigraphie, Paläontologie, Geologie etc.) sowie deren Erkenntnisse
mit der Evolutionstheorie in einem Verhältnis der gegenseitigen Erhellung
und verhalten sich konsistent zueinander.
Solche Formen der Rückkopplung hat VOLLMER als
"virtuose Zirkel" bezeichnet, die mit einer tautologischen
Selbstbestätigung von Aussagen nichts zu tun haben: Wissenschaft ist
die schrittweise Annäherung an die Fakten infolge der gegenseitigen
Durchdringung von Theorien und Beobachtungen (VOLLMER, 1985, S.
177 f.). Ähnlich argumentiert RIDLEY, der dem Vorwurf,
die Evolutionstheorie sei (vitiös) zirkelschlüssig
begründet, dadurch begegnet, daß er auf die "virtuose
Zirkelschlüssigkeit" aller Naturwissenschaften hinweist (RIDLEY,
1990, S. 250).
JUNKER hat die Stellungnahme RIDLEYs, in der umschrieben wird, wie theoretische
Interpretationen und Beobachtungen in der Wissenschaft Hand in Hand
gehen, mit den Worten kritisiert, damit habe er den Zirkelvorwurf nicht
ausgeräumt (JUNKER, 2002, S. 47). Daß es allerdings
zwischen den erwähnten zwei Formen der Zirkularität zu unterscheiden
gilt, scheint ihm entgangen zu sein, denn er spricht (wie praktisch alle
Evolutionsgegner) nur von Zirkelschlüssen ganz allgemein. Somit
hat JUNKER kein Argument, weil nur der vitiöse Zirkel
(der tautologische, sich selbst
bestätigende Aussagen enthält) kritisiert werden kann,
der aber in RIDLEYs Methodenbeschreibung gar nicht vorkommt. Die Erhellung
von Theorien und Beobachtungen sowie die Kompatibilität und wechselseitige
heuristische Befruchtung verschiedener Theorien können nicht als
vitiöse Zirkel verstanden werden, weil sie wichtige
Indizien für die Annahme sind, daß die Theorien einen objektiven
Zugriff auf die Wirklichkeit haben (MAHNER, 1986, S. 56 ff.; WOLF,
1999).
2.3. Die Prognosefähigkeit von Theorien als wissenschaftliches
Kriterium
Ein weiterer, häufig gehörter Kritikpunkt ist, daß die
Evolutionstheorie viele empirische Befunde zwar erklären, aber kaum
Vorhersagen anstellen kann (MAYR, 1984 a, S. 25 ff.). Der Grund
für diese Schwierigkeit liegt in der historischen Einmaligkeit der
Randbedingungen im Evolutionsgeschehen bzw. in der ungeheuren Komplexität
der ökologischen Wechselwirkungen, was die Entwicklungsabläufe
schwer prognostizierbar macht. Damit und anhand der konstitutiven Bedeutung,
die dem Zufall in der Evolution beigemessen werden muß, kann die Asymmetrie
zwischen Erklärungsmächtigkeit und Prognosefähigkeit der
Evolutionstheorie also verständlich gemacht werden (vgl. SCRIVEN,
1959; KOCHANSKI, 1973 sowie VOLLMER, 1985, S. 276). Das hindert
Antievolutionisten jedoch nicht daran, Einwände wie etwa den folgenden
gegen die Evolutionstheorie zu erheben:
"Der entscheidende Punkt ist, daß die Synthetische
Evolutionstheorie die (...) hohen kulturellen und geistigen Fähigkeiten
bei auf 400000 bzw. 800000 Jahre datierten 'Frühmenschen' nicht erwartet
hatte (...) "
(Persönliche Stellungnahme LÖNNIGs zu den Aussagen eines
renommierten Biologen)
Die Prognosefähigkeit spielt jedoch in der Beurteilung der
Wissenschaftlichkeit einer Theorie keine nennenswerte Rolle. Wäre es
anders, müßten nicht nur die Evolutionsbiologie, sondern unter
anderem auch die Kosmologie, die Geologie, die Paläontologie und
Archäologie als Wissenschaften niederen Ranges betrachtet werden.
Außerdem stehen die sogenannten "exakten Wissenschaften" vor demselben
Problem, wenn sie komplexe Systeme, die durch nichtlineare Gleichungen
beschrieben werden, zu untersuchen haben. So können beispielsweise im
Falle von Mehrkörpersystemen ebenfalls keine Prognosen über das
dynamische Verhalten getroffen werden; insbesondere bei energiebetriebenen
Systemen muß man sich oft mit chaostheoretischen Überlegungen
behelfen.
Es existiert somit kein zwingender Grund, die Vorhersagekraft als Maßstab
für die Wissenschaftlichkeit von Theorien heranzuziehen. Sie erweist
sich zwar als methodologisch nützlich, weil die Bestätigung einer
Prognose als Indiz für die Richtigkeit von Theorien gilt.
"Das Ziel der Wissenschaft sind aber nicht Prognosen,
sondern (möglichst einfache) Erklärungen für alles, was einer
Erklärung zu bedürfen scheint. Und gerade dazu eignen sich
Evolutionstheorie und EE (Evolutionäre Erkenntnistheorie) in besonderem
Maße."
(VOLLMER, 1985, S. 277)
Außerdem wird oft übersehen, daß der wissenschaftstheoretische
Wert der Prognose nicht darin gründet, daß sie sich auf die
Zukunft bezieht, sondern darin, daß sie Vorhersagen über
Beobachtungen trifft, die vor der Konstruktion der Theorie noch nicht bekannt
waren. Diese Bedingung wird jedoch auch im Falle der Retrodiktion
erfüllt, die Vorhersagen über Ereignisse in der
Vergangenheit liefert. Retrodiktionen "(...)
sind nun gerade die Stärke der Evolutionstheorie: Existenz von Urformen,
Zwischenformen, Brückenarten, Fossilien. So kann die wissenschaftslogische
Rolle von Prognosen auch von Retrodiktionen übernommen werden."
(VOLLMER, 1985).
Ein anderes, in diesem Zusammenhang oft kolportiertes Mißverständnis
bezieht sich auf die Form der wissenschaftlichen Erklärung. Wer die
Prognosefähigkeit von Theorien in der Wissenschaft für notwendig
hält, behauptet in aller Regel, daß auch die
deduktiv-nomologische (DN-) Erklärung
(2) die einzig wissenschaftliche und das
"Maß aller Dinge" sei.
Angesichts der Tatsache, daß wir es in der Evolutionforschung oftmals
mit historisch einmaligen und daher nicht prognostizierbaren Ereignissen
zu tun haben, läßt sich das DN-Modell nicht ohne weiteres auf
die Kausaltheorien der Evolution anwenden, worin beispielsweise MURRAY
ein spezielles und prinzipielles Problem der (Evolutions-) Biologie zu erkennen
glaubt (MURRAY, 2001). Obgleich wir diese Einschätzung
im nächsten Abschnitt noch diskutieren werden, wollen wir hier doch
einen Einwand kurz zur Sprache bringen:
Unsere Kritik am DN-Modell bezieht sich auf den Umstand, daß es sich
ausschließlich auf den logischen Aspekt der Erklärung konzentriert
(MAHNER und BUNGE, 2000, S. 102 f.). Obgleich es sich durchaus
als nützlich erweist, sollten Erklärungen aber wenn möglich
auch im Rahmen einer mechanismischen Theorie stattfinden. Dazu ist
es aber nicht unbedingt erforderlich, deduktiv-nomologisch vorzugehen, denn
mechanismische Erklärungen ist auch die Evolutionstheorie mit
ihren Kausaltheorien zu liefern imstande, wie MAHNER und BUNGE exemplarisch
demonstrieren:
"Falls erklärend, werden evolutionäre
Modelle Gesetze und Mechanismen umfassen, obwohl diese nicht unbedingt
deduktiv-nomologisch formuliert sein müssen. So wird etwa ein Modell
der Evolution der Vögel (...) vom gesamten biologischen Wissen Gebrauch
machen: von vergleichender und funktioneller Morphologie (Struktur und Funktion
der relevanten Vogelmerkmale), von Entwicklungsbiologie (Erklärung der
Reduktion und Fusion der Finger zu einem Flügel), von Paläozoologie
und Systematik (Reihenfolge der Entstehung der Vogelmerkmale) und von
Ökologie (Rolle und Passungswert der Vogelmerkmale). Dieses Beispiel
bietet reichlich Platz für morphologische, physiologische, ontogenetische
und ökologische Gesetze und Mechanismen. Demgegenüber wird die
Rolle der Selektionstheorie (...) eher vernachlässigbar sein, weil wir
kaum über Daten über Jurassische Selektionsregimes verfügen
(...) Alles, was demnach erforderlich ist, ist die Kompatibilität eines
Evolutionsszenarios mit der allgemeinen Selektionstheorie (...) Sie [hält]
nur die Bildung von Evolutionshypothesen im Zaum."
(MAHNER und BUNGE, 2000, S. 344)
Ungeachtet dessen bedienen sich Evolutionsgegner mit Vorliebe der Taktik,
die Morphologie irgendwelcher Merkmale zu erörtern, um dann den
Evolutionsbiologen zu bitten, deren Entstehung in allen Details aus ihrer
Theorie zu schlußfolgern. Diese Strategie soll im nächsten Abschnitt
ausführlicher vorgestellt werden.
_________________________________________
Fußnoten:
(1) Der Empirismus geht im
angelsächsischen Raum auf BACON, LOCKE und HUME zurück. Neuere
Vertreter des Empirismus sind CARNAP, KRAFT und NEURATH, die in den 1920er
Jahren dem "Wiener Kreis" angehört und den Neoempirismus (auch:
Neopositivismus oder logischer Empirismus) entwickelt haben. In Abwandlung
der empiristischen Forderung nach "theoriefreier" und "intersubjektiv
gültiger Beobachtung" wird oft auch von der experimentell
reproduzierbaren Beobachtung eines theoretisch behaupteten
Faktums als Voraussetzung für den naturwissenschaftlichen Charakter
der Theorie gesprochen (BENVENISTE, 1988, S. 291). Aber hinter
dieser Forderung steckt auch nichts anderes als die Prämisse, daß
hypothetisierte Fakten (hier: die Abstammung der Arten von einem gemeinsamen
Vorfahren) vor dem Erreichen der wissenschaftlichen Erkenntnis
theoriefrei durch die Beobachtung erwiesen sein
müssen (CHALMERS, 2001, S. 14).
(2) Wir erinnern uns: Gemäß
dem deduktiv-nomologischen Erklärungsmodell (DN-Modell) gilt ein Sachverhalt
(Explanandum) dann als erklärt, wenn er aus einer Theorie (genauer:
aus einem Satz von Randbedingungen sowie aus theoretischen Gesetzesaussagen
= Explanans) logisch geschlußfolgert (prognostiziert) werden
kann. Wir haben in Kapitel Ia.1 sowie in Kapitel
V einige Beispiele erörtert.
Zweite, völlig neu bearbeitete Fassung, (c) 12.01.2002
Last
update:
07.11.03
Voriges
Kapitel
Nächstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis
(c) M. Neukamm, 30.08.2000