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III. Über
die Systemtheorie der Evolution
"Makroevolution" und
Evolutionsmechanismen
Evolutionsgegner behaupten in aller Regel, die Entstehung
evolutiver Neuheiten sei mithilfe der Synthetischen Evolutionstheorie nicht
befriedigend zu erklären. Auch zahlreiche Evolutionsbiologen kritisieren
bestimmte Vorstellungen der Synthetischen Evolutionstheorie und betonen,
daß die Reduktion des Evolutionsgeschehens auf rein popolationsgenetische
und selektionstheoretische Aspekte unbefriedigend sei. Damit wird zwar
der Sachverhalt der gemeinsamen Abstammung der Arten nicht infragegestellt,
denn aus der Imperfektion der Synthetischen Theorie der Evolution
ist nicht zu schließen, daß sie falsch ist, sondern nur, daß
sie unvollständig ist. Dennoch gilt es, die
Evolution vor dem Hintergrund neuer theoretischer
Ansätze zu beleuchten und zu diskutieren, inwieweit sie die Probleme
der Synthetischen Theorie besser lösen können.
1. "Makroevolution" und die Systemtheorie
der Evolution
Seitdem DARWIN und WALLACE ihre Selektionstheorie der Öffentlichkeit
vorstellten, wird die "äußere" oder Milieuselektion gemeinhin
als die richtende Kraft im Evolutionsgeschehen verstanden, als derjenige
Wirkfaktor also, der die Entwicklung der Lebewesen in eine bestimmte Richtung
lenkt. Inspiriert wurde DARWIN insbesondere durch seine
Beobachtungen auf den Galapagosinseln. Die Schnäbel der endemischen
Finkenarten ließen eine breit gefächterte Formenvielfalt erkennen,
die ihren Besitzern ein Überleben in den unterschiedlichsten Habitaten
ermöglicht. Entsprechend stellt sich uns die Evolution als ein
Zweistufenprozeß dar, der von Mutation und Selektion vorangetrieben
wird. Mutationen erzeugen neue Zufallsvarianten, die durch die Selektion
auf ihre Fitneß in einem bestimmten Lebensraum getestet werden; besser
an ihre Umwelt angepasste Varianten setzen sich gegenüber den anderen
durch und breiten sich in den Populationen aus. Die Organe werden so über
zahllose selektionierte Zwischenstufen stufenweise verbessert, die Evolution
verläuft im Rahmen dieser Vorstellung weitgehend kontinuierlich
(gradualistisch).
Dieser Modus der Evolution wird in Anlehnung an HEBERER
als "additive Typogenese" bezeichnet. Beobachtungen,
die dieses Postulat zu stützen scheinen, findet man beispielsweise in
der Fossilienreihe der Pferdefamilie oder der Rüsseltiere,
wobei es sich um Evolutionsbeispiele handelt, die hinsichtlich vieler Merkmale
einen weitgehend gradualistischen Verlauf aufzeigen.
Charakteristisch für diesen Prozeß sind
die streng adaptationistischen Szenarien: Den Organismen fällt
einerseits die Rolle der passiven Evolutionsobjekte zu, die
sich an die variabilen Umweltbedingungen anpassen (adaptieren) müssen,
zudem wird jede Struktur als das Resultat einer Adaptation verstanden.
1.1. Über das Konzept der "inneren
Selektion"
In neueren evolutionstheoretischen Arbeiten ist jedoch
wiederholt auf die Unvollständigkeit der klassischen Selektionstheorie
im Hinblick auf die Erklärung der Entstehung neuer Merkmale bzw. der
Formenvielfalt des Lebens hingewiesen worden. Meist wird kritisiert, daß
die Organismen als "Spielbälle externer Kräfte" begriffen werden,
was sie zu passiven Objekten im Rahmen des Evolutionsgeschehens macht.
So schreibt etwa RIEDL zu dieser Frage:
"Ein Konzept der Phylogenie (...), das auf
opportunistischer, kurzsichtiger Auswahl gelegentlicher Zufallsfehler in
der Transmission von Bauvorschriften beruht, muß (...) dort versagen,
wo die entstehende Gesetzmäßigkeit gewaltige, eternale Formen
annimmt. Diesen ordnenden Mechanismus nicht zu kennen, bildet eine Lücke
im Konzept."
(RIEDL, 1975, S. 5)
Hand in Hand mit der Kritik an der Selektionstheorie geht die Kritik am
Adaptationismus. Natürlich erscheint es uns einleuchtend, daß
jeder Organismus an seine Umwelt angepaßt sein muß; ein Fisch
muß etwa einen stromlinienförmigen Körper besitzen, um die
Fortbewegung im Wasser möglichst ökonomisch zu gestalten. Derartige
Strukturen besitzen eine "Funktion" im Sinne von "Gepaßtheit" und damit
einen entsprechenden positiven (externen) Selektionswert im Habitat, die
Evolution wird gleichsam "von Außenfaktoren" gesteuert. Man
beachte jedoch, daß Lebewesen nicht einseitig von externen
Milieubedingungen beeinflußt werden, sondern daß die Ausprägung
der Merkmale im Rahmen der Keimesentwicklung durch "innere Prinzipien"
gelenkt wird, die gewissermaßen vorgeben, welche genetischen
Veränderungen sozusagen "machbar" sind und welche hingegen letale
Schädigungen des fein abgestimmten Merkmalsgefüges zur Folge haben.
Die Entstehung neuer Merkmale orientiert sich mit anderen Worten an den im
jeweiligen Organismus herrschenden Bedingungen und konstruktiven
Zwängen, die der Evolution einerseits Beschränkungen
(andererseits aber auch Chancen) auferlegen, die von
äußeren Umwelteinflüssen unabhängig sind.
Infolgedessen verfügt jeder Organismus über ein feinabgestimmtes
"Binnenmilieu".
Im Hinblick auf die äußere (Umwelt-) Selektion bedeutet dies,
daß die Anpassungsfähigkeit und die Fähigkeit zur Selbsterhaltung
schon gegeben sein muß, bevor überhaupt eine natürliche Auslese
stattfinden kann (BERTALANFFY, 1970). Im Rahmen dieser
Vorstellung werden auf der molekularen, der zellulären und auf der
organischen Ebene beständig Veränderungen im Hinblick auf die
Lebensfähigkeit des Organismus selektiert, bevor sich die Organismen
in ihrer Umwelt bewähren müssen (WUKETITS, 1988).
Das Binnenmilieu ist somit als ein komplexes System von organismusspezifischen
Wechselwirkungen aufzufassen, wobei die unterschiedlichen Systemebenen für
die jeweils tiefergelegenen die Umwelten, welche die Selektionsbedingungen
stellen, verkörpern. Zwei Zitate sollen dies verdeutlichen:
"Dabei bestimmt der Oberbegriff (das jeweilige
Übersystem) die Bedeutung seiner Unterbegriffe (Untersysteme) und diese
gelegentlich dessen Inhalt."
(RIEDL, 1975, S. 153)
"Organisms are not billard balls, propelled by simple
and measurable external factors to predictable new positions on life's pool
table. Sufficiently complex systems have greater richness. Organisms have
a history that constrains their future in myriad, subtile ways (...) Their
complexity of form entails a host of functions incidental to whatever pressure
of natural selection superintended the initial construction."
(GOULD, 1982, S. 16)
Die Berücksichtigung der komplexen innerorganismischen
Wirkungsgefüge führte zur Entwicklung der Systemtheorie der
Evolution (RIEDL, 1975, 1990) sowie (unter Einbeziehung
auch der neueren chaostheoretischen Erkenntnisse) zur Synergetischen
Evolutionstheorie (LORENZEN, 1988), die beide als
Weiterentwicklungen der Synthetischen Theorie der Evolution aufzufassen sind
und das klassische Anpassungsparadigma sowie die in ihm herrschenden linearen
Wirkursachenketten durch ein nichtlineares Entwicklungsszenario
ersetzen. Ins Zentrum der Betrachtung rückt damit die Vorstellung
von der "Mehrschichten-Selektion", die verstärkt die oben
erwähnten ("inneren") Entwicklungszwänge und weniger die
"äußere" (Umwelt-) Selektion als Ursache der Entwicklung und Fixierung
neuer Strukturen ansieht. Ferner betonen sie die
Erkennntis, daß Mutationen nicht zu
Veränderungen einzelner Merkmale führen, sondern mehr oder
minder das ganze System beinflussen, wobei beim Überschreiten bestimmter
Schwellenwerte schon kleine genetische Veränderungen genügen
können, um dramatische Veränderungen im Phänotyp
hervorzurufen.
1.2. Ontogenetische "Entwicklungszwänge"
Wie wir gesehen haben, ist die Reduktion von Evolution
auf den Aspekt der Umweltselektion nicht befriedigend und muß durch
entwicklungsbiologische Ansätze erweitert werden. Denn heute wissen
wir, daß die Übersetzung genetischer Faktoren in phänotypische
einen komplexen Systemprozeß verkörpert, in dem einige durch die
Expression von Genen erzeugte Stoffwechselprodukte in der Lage sind, andere
Gene gezielt an- bzw. auszuschalten - die Gene sind also zu einem komplizierten
"genetischen Regulationssystem" zusammengeschaltet, für den RIEDL den
Begriff des "epigenetischen Systems" geprägt hat.
Einige Proteine der durch das epigenetische System
bedingten Stoffwechselprozesse sind nun in der Lage, während der
Embryonalentwicklung in den verschiedenen Zellen die für sie spezifischen
Gene zu aktivieren und damit die Zelldifferenzierung sowie die weitere
morphogenetische Entwicklung zu beieinflussen bzw. zu steuern. Die Zellen
gewinnen aus dem richtungsabhängigen Konzentrationsgradienten dieser
sogenannten Aktivatoren quasi "Lageinformation", was
von entscheidender Bedeutung für die Entstehung von komplexer Ordnung
ist (WOLPERT, 1982). Die Stoffwechselprozesse bezeichnet man
in ihrer Gesamtheit als "epigenetische Landschaft" (nicht
zu verwechseln mit dem epigenetischen System!) (WADDINGTON, 1970,
1982). Das epigenetische System bedingt mit anderen Worten die Gesamtheit
der Stoffwechselprozesse im Organismus. Dabei kommt es systembedingt zu
Kanalisierungen in der Morphogenese, also zum Befahren festgelegter
"Entwicklungskanäle" in der Keimesentwicklung, die genau bestimmen,
wie der "fertige" Organismus auszusehen hat.
Wie können wir uns die komplizierten
systemtheoretischen Zusammenhänge anschaulich vorstellen? Wir
wollen uns dazu in Anlehnung an WADDINGTON eines einfachen
Modells bedienen, das die epigenetische Landschaft als gebirgige
Oberflächenstruktur wiedergibt:
Stellen wir uns dazu eine von erodierenden
Kräften der Natur herauspräparierte Hügellandschaft vor, in
der die Berge von Spülrinnen zerfurcht, die Landschaft wiederum von
tieferen und seichteren Tälern durchzogen sei. Jede Erhebung in dieser
Landschaft stünde nun für ein bestimmtes Gen, dessen Basensequenz
sich in der Feinstruktur des sie repräsentierenden Berges manifestiere.
Alle Berge und Erhöhungen zusammen verkörpern metaphorisch gesprochen
das epigenetische System, das durch sie geprägte Landschaftsrelief die
epigenetische Landschaft. Die Täler, die zwischen den "Bergen" des
epigenetischen Systems klaffen, durchziehen die Landschaft wie ein filigranes
Kanalsystem. Im epigenetischen
Modell bilden nun die regulativen Wechselwirkungen der Gene in ihrer Gesamtheit
das epigenetische System. Dieses bedingt wiederum die Stoffwechselprozesse,
die Individualentwicklung und damit letztlich das Aussehen der "fertigen"
Lebewesen (die Phänotypen). In unserem Modell sind die Wirkketten
ähnlich gelagert: Die Berge bilden in ihrer Summe das Gebirgssystem,
welches seinerseits das Landschaftsrelief prägt. Der morphogenetische
Entwicklungsweg entspricht nun, um im Bilde zu bleiben, dem Weg einer Kugel,
welche die in unserer Landschaft befindlichen Kanäle entlangläuft.
Mit anderen Worten: Der Weg der Kugel wird
durch die Landschaftsstruktur kanalisiert, wie eben die morphogenetische
Entwicklung durch die epigenetische Landschaft kanalisiert und gesteuert
wird (siehe Abbildung). Der Weg der Kugel repräsentiert metaphorisch
gesprochen die "Bauanleitung" zur Bildung "fertiger" (adulter)
Lebewesen.
Was geschieht, wenn wir das epigenetische System durch
Mutationen verändern? Um die Frage beantworten zu können, brauchen
wir nur unser Modell zu befragen. Durch Mutationen werden Gene verändert,
wir müssen uns dazu analog die Struktur des Gebirges verändert
denken:
Die "Mutationen" erzeugen in ihrer Gesamtheit mehr
oder minder tiefgreifende Veränderungen in der Gebirgslandschaft. Wir
können uns gut vorstellen, daß die meisten Änderungen den
Weg der Kugel entweder geringfügig oder aber gar nicht beeinflussen,
weil sie die Kanäle betreffen, welche die Kugel gar nicht entlangrollt:
Das verhält sich aber nicht immer so. Ganz bestimmte Veränderungen
in der Gebirgsstruktur - sie mögen noch so geringfügig sein - sind
in der Lage, den Weg der Kugel außerordentlich stark zu beeinflussen.
Manche Veränderungen werfen die Kugel völlig aus der Bahn,
drängen sie in andere Kanäle ab und bewirken eine dramatische
Modifikation des weiteren Entwicklungsgeschehens.
Systemveränderungen, die über kritische Bereiche hinaus erfolgen,
können also unter dem Einfluß von Selektion dramatische Wandel
hervorbringen, ein Szenario, das sich in vielen Systemen, in denen ein
beständiger Energiefluß herrscht, abspielen kann. Diese
Phänomene untersucht die Synergetik, die auch in unbelebten,
energiebetriebenen Systemen (wie dem LASER) ähnliche Phänomene
nachgewiesen hatte. Tatsächlich ist es bereits in Ansätzen gelungen,
viele Organisationsmuster, wie etwa die Bemusterung der Zebras oder die Form
des Kugelfisches auf die evolutionsbiologische Abwandlung "morphogenetische
Entwicklungsfelder" zurückzuführen, wie sie durch synergetische
Effekte zustandekommen (vgl. HAKEN, 2000; HAKEN-KRELL, 1987 sowie LORENZEN,
1988).
Abbildung:
Modellhafte Darstellung der epigenetischen Landschaft
(nach Waddington). Ihr charakteristisches Oberflächenprofil beeinflußt
den Weg einer Kugel, die in vorgegebene Kanäle bugsiert wird. Wie im
Modell, so kanalisiert auch die epigenetische Landschaft die Keimesentwicklung
in spezifischer Weise. Es leuchtet ein, daß manchmal schon
geringfügige Veränderungen (Mutationen) die Struktur des epigenetischen
Systems so verändern, daß alternative Entwicklungskanäle
beschritten werden. Das Resultat ist ein ganzes Spektrum phänotypischer
Veränderungen infolge der evolutiven Modifikation des Entwicklungsgeschehens
und die Bildung neuer typologischer Arten.
Die Selektion bewertet nun die neu entstandenen Entwicklungswege und verwirft
all diejenigen, die sich nicht als überlebensadäquat erweisen.
Die "scharfe" innere Selektion schränkt damit den Evolutionsspielraum
ein, es kommt neben einer Kanalisierung der Keimesentwicklung zu einer
Kanalisierung der weiteren evolutiven Entwicklung, das heißt,
zur Etablierung vorgegebener
Evolutionsbahnen, die dem Zufall streckenweise entzogen sind.
Mithilfe der Synergetischen und der Systemtheorie der Evolution lassen sich
zahlreiche Probleme und Fragestellungen lösen, die in der simplistischen
Vorstellung von der additiven Typogenese nicht oder aber nur schwer
erklärbar sind. Wir wollen im Folgenden etwas eingehender auf sie zu
sprechen kommen.
1.3. "Makroevolution" im Lichte der Systemtheorie
Zum Verständnis der Entstehung neuer Organisationstypen
1.3.1. Das "Problem der Synorganisation" (Koadaptationsproblem)
Über die Kopplung (Systemisierung) von Genen
Teil der traditionellen Vorstellung war langezeit die
"Ein-Gen-Ein-Merkmal-Hypothese", das bedeutet, jedes Gen wurde für
die Ausprägung eines einzelnen Merkmals verantwortlich gemacht. Weil
nun die Evolution dem Organismus adaptive Veränderungen abverlangt,
kann, ja muß in diesem Kontext geradezu die Änderung jeder
Einzelentscheidung erforderlich werden. Jedes Merkmal muß also
unabhängig von den anderen evolvieren.
Es zeigt sich jedoch, daß viele Mutationen Veränderungen in einer
Reihe von Merkmalen zur Folge haben (Pleiotropie) wie auch umgekehrt viele
Merkmale durch eine Reihe von Genen determiniert werden (Polyphänie).
Um eine günstige Adaptation zu erreichen, müssen daher im Regelfalle
gleich bei mehreren Genen gleichzeitig chancenreiche Mutationen erfolgen,
was eine Adaptierbarkeit mit steigender Komplexität der Strukturen rasch
schwieriger macht:
"Die Adaptierung einer Funktionseinheit wird darum
nicht nur auf eine günstige Chance, sondern sogar auf die Häufung
günstiger Chancen zu warten haben."
(RIEDL, 1990, S. 122)
Auch REMANE, STORCH und WELSCH haben in der evolutionstheoretischen
Synorganisation von Strukturen zu einem komplexen Funktionselement ein Problem
gesehen und entsprechend festgestellt:
"Manche Apparate können durch sukzessive kleine
Schritte entstehen: eine Stelle der Haut mit Lichtsinneszellen kann durch
Pigmentanhäufung zu einem Augenfleck werden. In einem zweiten Schritt
wird der Augenfleck zu einem Napfauge, aber dieser zweite Schritt kann nicht
richtungslos an einer beliebigen Stelle erfolgen, sondern ist an den Ort
des Augenflecks gebunden. Dadurch wird die Wahrscheinlichkeit einer
Weiterentwicklung zu einem Auge stark herabgesetzt (...) Das Problem ist
also: Wie wird in der Evolution das komplizierte Wirkungsgefüge, mit
dem der Organismus von der Erbsubstanz aus den Organismus aufbaut, abgewandelt,
wie werden neue Reaktionssysteme auf- und eingebaut?"
(REMANE et al. 1973, S. 160-163)
Es kann nun nicht überraschen, daß auch im Antievolutionismus
die Frage im Zentrum steht, wie denn einzelne Mutationen die Bildung komplexer
Funktionseinheiten und Regelkreise sowie kooperative Anpassungen zustande
bringen könnten, eine Frage, wie sie etwa von VOLLMERT immer wieder
diskutiert wird. Auch LÖNNIG, 1989 äußert sich
in diesem Sinne und übt Kritik am Anpassungsparadigma der Synthetischen
Evolutionstheorie:
"Wir finden serienweise anthropomorph-lineare
Simplifikationen (...) Komplexe Strukturen und Synorganisationen von Auge
und Gehirn werden ganz weggelassen oder (...) auf mögliche lineare Etappen
beschränkt (...) die Fragen nach der Wahrscheinlichkeit und Reproduktion
der Entstehung synorganisierter Augenstrukturen werden gar nicht erst
gestellt."
Derartige "Koadaptationen" (Synorganisationen), wie sie in Determinationssystemen
(so auch im epigenetische System) nötig werden, sind nun aber Ausdruck
"redundanter (überzähliger) Mutationsentscheidungen", die
durch die stufenweise Kopplung von Genen ("Systemisierung")
schrittweise abgebaut werden können (RIEDL, 1990).
Denken wir uns dazu eine Struktur, zu deren evolutiver Anpassung Mutationen
in fünf verschiedenen Genen statthatten. Die Chance, daß in den
fünf ungekoppelten Genen unabhängig voneinander passende Mutationen
zustandekommen, ist freilich sehr gering. Kommt es nun aber zu einer "Rangung"
(Ordnung) der fünf Gene im Sinne einer gemeinsamen Kopplung, können
viele der Einzelentscheidungen (Mutationen) vermieden werden, wir haben es
mit einem Abbau von "redundanten Determinationsentscheidungen" zu tun. Dabei
werden mehrere Strukturgene schrittweise unter einen "Regulator" verschaltet,
wodurch sukzessive komplexere Steuerelemente entstehen. Einzelne Mutationen
am "Hauptschalter" führen nun nicht mehr zur Veränderung des
Expressionsmusters eines einzigen Gens, vielmehr sind von der Mutation alle
gekoppelten Gene betroffen. Dies führt zu einer vielschichtigen
Änderung phänotypischer Merkmale, die die benötigten
Synorganisationen sicherstellen (vgl. KASPAR, 1978).
RIEDL hat nun gezeigt, daß die Systemisierung schon weniger Gene zu
einem einfachen Regulationssystem unter Reduktion von Mutationsentscheidungen
enorme Adaptations- und Selektionsvorteile mit sich bringt, auch deshalb,
weil sich die energetischen Kosten und die Fehler-Anfälligkeit während
der Replikation stark verringern lassen:
"Nachdem alle Entscheidungen in Form von Molekülen
und Molekülpositionen materiell etabliert sind, entstehen mit jeder
Entscheidung Kosten, Fehlerquellen und Schwierigkeiten der Anpassung. Der
Abbau jeder redundanten Entscheidung muß darum Vorteile mit sich bringen:
einen Evolutions- oder Adaptationsvorteil. Schon in recht einfachen Systemen
wird das offensichtlich (...) Daraus folgt, daß die Vorteile schon
bei ganz wenigen einsparbaren Mutationen sehr steil wachsen. So steil, daß
es ganz unwahrscheinlich wäre, daß der für die Systemisierung
genetischer Determinationsentscheidungen erforderliche Mechanismus noch nicht
entwickelt worden wäre. Er wird, wie wir sehen werden, nachgerade
erzwungen."
(RIEDL, 1990, S. 124-127)
Hervorzuheben sei, daß in der Vorstellung zunächst zufällig
und schrittweise beliebige Gene unter ein Regulatorgen verschaltet werden.
Dies geschieht solange, bis neue Funktionen entstehen oder bestehende Funktionen
optimiert und vorteilhaft synorganisiert (zusammengeschaltet) werden.
Schließlich können mehrere genetische Wirkketten selbst zu einer
übergeordneten Regulationseinheit zusammengeschaltet werden, so daß
schrittweise ein hierarchisch gegliedertes Epigenesesystem
entsteht. Und das ist keine haltlose Spekulation, wie man immer wieder
feststellen kann. So bemerkte ein Universitätsprofessor in einer
persönlichen Stellungnahme:
"Wenn man mit einem Hauptschalter und einem neuartigen
Funktionsprotein (z.B. einem licht-sensitiven Pigment) beginnt, kann man
alle Gene unter die Kontrolle dieses Hauptschalters bringen und damit
ausprobieren, ob die Augen-Funktion besser wird, im Augenblick ist man bei
Drosophila bei 2000 Genen angelangt, die unter der Kontrolle von Pax6
ausgeprägt werden."
Am Beginn der Evolution steht damit eine große Zahl von nichtgekoppelten
Genen. Mit zunehmender Systemisierung entsteht nun aus den vielen independenten
Genen eine beständig abnehmende Zahl an unabhängigen
Regulationssystemen, woraus hinsichtlich einer bestimmten Struktur ein
zunehmender Adaptationsvorteil und eine steigende Realisierungschance
erwächst. Besonders wichtig ist nun die Einsicht, daß die
Systemisierung von Genen bei Mutationen gleich ein ganzes Spektrum
phänotypischer Veränderungen zur Folge hat, womit natürlich
das Synorganisationsproblem gelöst wird. UMSTÄTTER faßt die
Zusammenhänge knapp und treffend zusammen und stellt den grundlegenden
Irrtum der antievolutionistischen Kritik an der evolutionären
Synorganisation funktioneller Einheiten nochmals klar heraus:
"Tatsächlich ist es eine Verkennung
rückgekoppelter Systeme, wenn immer und immer wieder darauf hingewiesen
wird, daß einzelne Mutationen unmöglich all diese Abhängigkeiten
gleichzeitig berücksichtigen könnten. Das Umgekehrte ist der Fall.
Fast jede Mutation beeinflußt mehr oder minder das gesamte System.
Es ist vielmehr ein Phänomen der genetischen Untersuchungsmethoden,
daß wir relativ häufig Gene bestimmten phänotypischen
Erscheinungen zuordnen können. Es sei nur an die Schwierigkeit erinnert,
Polygenie und Pleiotropie vollständig zu erfassen."
(UMSTÄTTER, 1990)
1.3.1.1. Experimentelle Belege für Synorganisationen
Um diese Zusammenhänge besser zu verstehen und empirisch zu untermauern,
sind wiederholt Experimente durchgeführt worden (vgl. etwa
MÜLLER, 1985). Dabei können durch gezielte Eingriffe die
epigenetischen Bedingungen derart abgeändert werden, daß archaische
Entwicklungsanleitungen reaktiviert werden. Man kann so Strukturen, die in
der Ahnenlinie bestimmter Lebewesen eine Rolle gespielt haben, hervorrufen,
wie z.B. die Erzeugung von Zähnen in Hühnerembryonen
(WUKETITS, 1988).
Von Interesse sind in diesem Zusammenhang besonders aber
die sogenannten Phänokopien. Wird
ein Entwicklungsvorgang einer Störung ausgesetzt (etwa unter dem
Einfluß eines Giftes), dann gelingt es immer wieder, den Phänzustand
von bestimmten Mutationen zu kopieren (GOLDSCHMIDT, 1961).
Es läßt sich zeigen, daß die durch äußere
Einflüsse während der Embryonalentwicklung hervorgerufenen Anomalien
zwar nicht erblich sind, daß sie jedoch anderen Bildungsabweichungen,
die durch Mutationen hervorgerufen werden, gleichen, sie also kopieren.
"Bis zu den komplexesten Änderungen (...) lassen
sich Spontanmutationen kopieren und darüber hinaus noch in ihre
Wirkungsabschnitte und Submuster zerlegt analysieren."
(RIEDL, 1990, S. 286)
Das Ergebnis sind Muster wechselseitig miteinander
verknüpfter Genwirkungen. In diesem Sinne lassen sich makroevolutive
Veränderungen durch Mutationen an Regulatoren und Strukturgenen verstehen,
die ein ganzes Spektrum von phänotypischen Veränderungen infolge
der Abänderung von Genexpressionsmustern bedingen, bestimmte Mutationen
verändern gleichsam das gesamte System.
LORENZEN berichtet nun von Experimenten an
lebenden Schlammspringern, die nach mehrmonatiger Tyroxinbehandlung
eine vielschichtige Wandlung erfahren: Die Brustflossen werden zu beinchenartigen
Extremitäten, die Haut wird dicker, die Kiemen verkleinert, die Lungenatmung
nimmt zu, die Abwesenheit von Wasser länger ertragen usw. (vgl.
HARMS, 1934).
"Mit anderen Worten: In vielen Genotypen schlummern
Potenzen, die wie in den aufgeführten Fällen erst durch adäquate
Umweltreize realisiert werden. Andererseits können auch geringfügige
genotypische Veränderungen unter bestimmten Bedingungen recht dramatische
Effekte hervorrufen (...)"
(LORENZEN, 1988)
Das Experiment am lebendigen Schlammspringer zeigt,
daß hier eine Reihe von Merkmalsveränderungen hervorgerufen werden
kann, wie sie im Rahmen des makroevolutiven Übergangs vom Fisch zum
landlebenden Amphibium erfolgen mußte (Umwandlung der Brustflossen
zu beinchenartigen Extremitäten, dickere Haut, kleinere Kiemen, zunehmende
Lungenatmung usw.). Interessant ist dabei der Umstand, daß im
Ansatz ein ganzes Spektrum komplexer phänotypischer Veränderungen
(das heißt Synorganisationen), wie sie meist beim Übergang
von einem Organisationstyp zum nächsten auftreten, durch einen simplen
Eingriff ins epigenetische System "kopiert" werden kann.
Diese Phänokopie einer Systemveränderung
erfolgte ganz offensichtlich als Folge einer binnenmilieuspezifischen
"Kanalisierung", eines "inneren Entwicklungszwangs" infolge der
Tyroxinbehandlung. Es erscheint evident, daß die Wirkung des Tyroxins
wiederum durch eine entsprechende synergetische Mutation "kopiert" wurde,
wie sie beim Überschreiten systemspezifischer Schwellenwerte
zustandekommt.
1.3.1.2. Synergetische Evolution - gibt es "Makromutationen"?
"Makroevolution" wird gemeinhin als Evolution verstanden, mit der sich umfassende
Veränderungen in der Struktur der Organisationstypen vollzieht;
gelegentlich wird damit der Terminus "Qualitätssprung" in Verbindung
gebracht. Dieser Begriff ist jedoch etwas irreführend, denn viele Leute
stellen sich darunter "Makromutationen" vom GOLDSCHMIDTschen Typ vor, die
bei mehreren Genen gleichzeitig auftreten und im Phänotyp gewaltige
Änderungen hin zu den sattsam bekannten "hopeful monsters" schaffen
könnten. Solche typenübergreifenden "Makromutationen" gibt es aber
nicht, und die Mehrzahl der Evolutionisbiologen sucht schon lange nicht mehr
nach ihnen. Statt dessen gibt es immer nur kleine bis mittlere Sprünge.
Der kleinste Sprung ist eine Punktmutation. Ein mittlerer Sprung
wäre beispielsweise eine Heterochronie, also eine zeitliche
Verschiebung im Auftreten von Merkmalen in der Individualentwicklung, oder
eine Mutation an Regulatoren, die synergetische Abänderungen
hervorbringen können. Die oben besprochenen "synergetischen
Mutationen" sind demnach nicht als echte Makromutationen zu verstehen,
sondern als genetische Veränderungen, die gleichsam das ganze System
- wenn auch in kleinen Schritten - kooperativ umbauen. Auch die
"dramatischen" Veränderungen, die beim überschreiten systemeigener
Schwellenwerte auftreten können, sind nicht so zu verstehen, daß
quasi instantan ein völlig neuer Funktionstyp entsteht. Vielschichtige
und tiefgreifende Wandlungsprozesse können jedoch - wie am Beispiel
des Schlammspringers gezeigt wurde - im System durchaus auftreten.
Zusammenschau:
(1) Durch geeignete Änderungen des Binnenmilieus
können vielschichtige Veränderungen der Phänotypen bedingt
werden, die das ganze System in kleinen Schritten kooperativ umbauen und
den Organismen in neuen Habitaten einen externen Selektionsvorteil
verschaffen.
(2) Solche Systemveränderungen werden infolge
des Wirkens von mehrschichtiger Binnenselektion bewertet, der evolutive Spielraum
gleichsam eingeschränkt. Damit kommt es zu Kanalisierungen in der weiteren
Entwicklung; der Evolution wird streckenweise der Zufall entzogen.
(3) Im Evolutionsgeschehen spielen externe
Selektionsbedingungen hinsichtlich der Ausbildung neuer Phänotypen
zunächst nur eine untergeordnete Rolle, Veränderungen resultieren
zunächst nur aus den Eigenschaften des epigenetischen Systems.
1.3.2. Konvergenz und "Orthoevolution" systemtheoretisch
beleuchtet
Lebewesen besitzen einen Gensatz, der in
weiten Teilen identisch ist. Die Gene, die wir speziesübergreifend
in uns tragen (das stammesgeschichtliche Erbe), beeinflussen nun die
Struktur der epigenetischen Landschaft, die die Entwicklung der Lebewesen
in vorgegebene Bahnen lenkt. Treten nun Mutationen auf, lenken diese
die Entwicklung in eine andere der im epigenetischen System vorgegebenen
Bahnen, die Entwicklungsbiologen sprechen dabei von inneren
Entwicklungszwängen (sogenannten "developmental
constraints") (vgl. ALBERCH, 1982).
Kurzum: Genetisch ähnliche Lebewesen verfügen
über ähnliche epigenetische Systeme und die epigenetische Landschaft
damit über ähnliche "Entwicklungs-Kanäle" in der Keimesentwicklung
(Ontogenese).
Bestimmte Mutationen können daher speziesübergreifend die
Keimesentwicklungungen in die "gleichen Bahnen" lenken, was zu vergleichbaren
Phänotypen führt. Das Resultat sind konvergente Funktionselemente,
wie etwa die Säulenbeine bei Elefanten und Dinosauriern. Die externe
Selektion bewertet als übergeordnete Instanz die "Tauglichkeit" derartiger
Phänotypen und führt bei ähnlichen Lebensbedingungen zu
vergleichbaren Organen. Diese Annahme wird dadurch gestützt, daß
man insbesondere bei nahe verwandten Organismen (die sich genetisch sehr
ähnlich sind) recht häufig auf solche Parallelentwicklungen
stößt.
Die Systemtheorie löst das Problem der Konvergenz
also auf ganz elegante Weise. Während man in der Synthetischen Theorie
zur Erklärung der Evolution konvergenter Baupläne
"konvergente Selektionsdrücke" postulieren muß,
folgt in der Systemtheorie die Konvergenz ganz zwangsläufig aus den
Eigenschaften des epigenetischen Systems.
Ähnlich liegen die Dinge bei einem Phänomen,
das als "Orthoevolution" bezeichnet wird: In der Evolution
kann man immer wieder geradlinige Entwicklungstrends ausmachen, wie etwa
die Regelmäßigkeit des Größenwachstums in der
Pferdeevolution. In der Synthetischen Evolutionstheorie muß man
gleichgerichtete Selektionsdrücke ("Orthoselektion")
voraussetzen, um die über weite Strecken gradualistisch verlaufende
Evolution zu erklären. In der Systemtheorie sind derartige
Entwicklungstrends jedoch auch hier das Resultat von "Kanalisierungen" in
der Entwicklung, wie sie gelegentlich aus den Eigenschaften epigenetischer
Systeme resultieren:
"Riedl (1975) verweist darauf, daß lebende
Ordnung sich nur auf die Ordnungsprinzipien ihrer Vorstadien aufbauen kann,
da ihre Weitergabe in der Zeitachse erfolgt (...) Die historisch
überkommenen Organisationsformen bedingen damit Evolutionsbahnen, die
in gewisser Weise kanalisiert sind. Damit erklären sich Orthogenesen
durch diesen eingeengten Evolutionsspielraum."
(KÄMPFE, 1992, S. 147)
Zweite, völlig neu bearbeitete Fassung, (c) 23.01.2002
Last
update:
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