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III. Über die Systemtheorie der Evolution

"Makroevolution" und Evolutionsmechanismen   

  

2. Die Reichweite der Evolutionsfaktoren

Kommen wir nun auf eine zentrale Aussage des modernen Antievolutionismus zu sprechen, die sich auf den Prozeß der Artenbildung bezieht: Mithilfe der bislang nachgewiesenen Evolutionsmechanismen, so die Kreationisten, sei der Erwerb neuer Eigenschaftsmerkmale und damit auch Höherentwicklung unmöglich. Beobachtbar sei immer nur Strukturabbau. Der Nachweis von Resistenzen (etwa gegen Toxine), sei keineswegs ein empirischer Belege für die Hypothese von der evolutiven Entstehung neuer Eigenschaftsmerkmale oder gar für Höherentwicklung. Vielmehr sei das Gegenteil der Fall: Jede Speziation führe automatisch zu genetischer Verarmung. JUNKER und SCHERER, 1998, S. 59 f.:                     

"Es zeigt sich, daß Pflanzen, die auf giftbelasteten Böden wachsen, keine neuen Eigenschaften erworben haben, sondern daß die Fähigkeit der Gifttoleranz bereits in den jeweiligen Arten (...) vorhanden war, bevor sie die Giftböden besiedelten (...) Die Vorgänge bei den Bergwerkshaldenpflanzen zeigen wie ähnlich gelagerte Fälle, daß Artbildung nicht als beginnende Höherentwicklung anzusehen ist, sondern oft mit Spezialisierung und damit mit Verarmung der Genpools verbunden ist (...) Das bedeutet, daß die abgespaltenen Rassen oder Arten ein geringeres Variabilitätsspektrum besitzen (...)"

                                                                                                     

Diese Einschätzungen sind gewiß richtig, in dieser Form aber nicht verallgemeinerbar. Tatsächlich liefern etwa die Evolutionsexperimente von RAINEY und TRAVISANO, 1998 höchst aufschlußreiche Resultate, die zeigen, daß selbst genetisch verarmte Bakterienlinien immer wieder zu einer hohen genetischen Variabilität zurückfinden. Die Konfrontation mit hohen Selektionsdrücken führt zu einer unerwarteten genetischen Diversität. APPENZELLER, 1999 faßt die einschlägigen Evolutionsexperimente wie folgt zusammen:

"the resurgent strains diversifies again - but it does so differently within each microcosmos, spawning odd new variants (...) The reproducibility goes out of the door (...) As a result, each miniature ecosystem rediversifies from a different starting point and reaches new adaptive peaks."

                                                                                                                 

Zweifelsohne ist die Variabilität in einer Teilpopulation im Zeitpunkt der Abspaltung geringer als in der ursprünglichen Stammpopulation, dieser Zustand ist jedoch nicht unbedingt von Dauer. Daß höherentwickelte Lebewesen - insbesondere Säugetiere mit hoher Generationendauer - viel Zeit brauchen, um nach erfolgter Artspaltung erneut zu genetischer Vielfalt zurückzufinden, ist einleuchtend. Wenn dies nicht rasch genug geschieht, sterben sie im Laufe der Zeit aus. Aus diesem Grunde bedient man sich Bakterien, die sich etwa alle 20 Minuten teilen. Die These von der im Zuge der Entstehung neuer Teilpopulationen voranschreitenden "Verarmung der Genpools" ist damit empirisch kaum haltbar und läßt sich lediglich dann plausibel machen, wenn man die "Unveränderlichkeit der Organisationstypen" als unverrückbare Tatsache ausgibt, das man empiristisch mit dem oft trügerischen Augenschein begründet. Die Wissenschaft ist jedoch nicht empiristisch sondern muß die transempirischen Fakten, die sich hinter dem Augenschein verbergen, aufdecken. Zu diesem Zweck sind Freilandbeobachtungen kaum geeignet, zumal die Generationendauern lang und die Selektionsbedingungen nur schwer zu beeinflussen sind. Auch die Abspaltung von neuen Arten kann nicht künstlich eingeleitet werden, so daß auf diese Weise Evolutionsprozesse nicht zu studieren sind.

                                                                                                                                                                

2.1. Die Entstehung neuer Funktionsgene

"Die neodarwinistische Evolutionstheorie behauptet immerhin, mit ihrem Faktorensystem von Mutation und Selektion den Ursprung und die Entwicklung aller Lebensformen zu erklären. Dazu braucht die Theorie unter anderem den Nachweis der Entstehung neuer Gene und Enzyme."

(LÖNNIG auf seiner Homepage)

                 

Was LÖNNIG bestreitet ist also der Umstand, daß die Entstehung neuer Gene und Enzyme heute als empirisch wohlbelegt gilt. Entsprechend müssen ihm die Experimente von BETZ et al. völlig unbekannt sein, die mehrere Mutanten des Bakteriums Pseudomonas aerugimosa unter der Einwirkung mutagener Agenzien erzeugt haben, welche ein neues Enzym zur Verwertung von Valeramid und Phenylacetamid erworben haben (BETZ et. al., 1974). Deweiteren wird als ideales Beispiel einer Laborevolution geradezu das EBGo-Enzym angesehen, die "Evolved ß-Galactosidase". Selbst Biologen, die nicht im Verdacht stehen, der Evolutionstheorie das Wort zu reden, haben eingestehen müssen, daß "die Entstehung einer Funktion (...) hierbei durch ständige Selektion der durch Mutation abgewandelten Strukturen eines zur normalen Ausstattung gehörenden Enzyms verfolgt werden (kann)." (JUNKER und SCHERER, 1998, S. 112).

Die Abwandelbarkeit der Enzyme führt in der Laborpraxis häufig zum Erwerb neuer katalytischer Funktionen, das heißt, es entstehen vielfältige neue Funktionsgene. Insbesondere bei den Pseudomonaden sind neue Enzyme bekannt geworden, die den Abbau ungewöhnlicher, zum Teil vollsynthetischer organischer Verbindungen und Industrieabfälle (wie Herbizide, Insektizide, DDT usw.) bewirken (vgl. KÄMPFE, 1992) (*)

REMANE et al. haben ein weiteres eindrucksvolles Beispiel angeführt, das zeigt, daß neue Funktionsgene durch Duplikation (Genverdopplung) und funktionsändernde Mutationen entstehen können (REMANE et al, 1973, S. 67 ff.): In der Neurohypophyse der Wirbeltiere werden zwei Hormone produziert, das Mesotocin sowie das Vasotocin bei den Amphibien. Beide Hormone bestehen jeweils aus 9 Aminosäuren und unterscheiden sich nur in zwei Positionen, ein Umstand, der nahelegt, daß sie durch Genduplikation entstanden sind. Der Austausch von nur zwei hydrophoben Resten hatte aber eine starke Funktionsänderung zur Folge. Das Vasotocin macht die Froschblase permeabel, kontrahiert den Rattenuterus und stimuliert den Wasserrückhalt in der Niere. Wird in der dritten Position des Vasotocinmoleküls die Aminosäure Isoleucin durch Phenylalanin substituiert, verschwinden die ersten beiden Eigenschaften fast völlig, während die dritte deutlich stärker ausgeprägt wird. Das so erhaltene Vasopression der Säugetiere ist wiederum ein neues Funktionsprotein; ihm kommt die Bedeutung als Antidiureticum zu. Wir haben also durch Genduplikation und den Austausch von nur einer bzw. zwei Aminosäuren Hormone mit völlig neuen Funktionen erhalten!

Daher wird allgemein keinen Zweifel daran bestehen gelassen, daß

"the genes coding for these proteins were formed by internal gene duplication. Indeed, it seems that most eukaryontic genes werde produced by gene duplication and elongation of primordial genes or minigenes that existed in the early stage of gene evolution."

(NEI, 1987, S. 117)

                                   

Entsprechend haben STEBBINS und AYALA gezeigt, daß das Gen, das für das Hühner-Kollagen kodiert, durch vielfache Genduplikation und Genfusion entstanden ist (vgl. STEBBINS und AYALA, 1985).

Dieses Beispiel ist besonders illustrativ, denn das Gen besteht aus etwa 50 codierenden Abschnitten (Exons), die alle aus einem ganzen Vielfachen von 9 Basenpaaren (bp) bestehen (z.B. 45, 54, 99, 108 bp usw.). Es läßt sich jetzt statistisch zeigen, daß jedes dieser Exons aus der vielfachen Duplikation einer einzigen 9bp-Grundeinheit hervorgegangen ist, die für das Aminosäuretriplett [Glycin-Prolin-Prolin] codiert. Kurzum: Jede einzelne der 50 Sequenzen besteht aus immer derselben (durch Genmutation vielfach abgewandelten) Kette von [Gly-Pro-Pro]-codierenden Einheiten, die sich beständig wiederholen ("repetieren")! Entsprechend nennt man solche Gene "repetitiv". Der rational schlußfolgernde Wissenschaftler kommt zu der Überzeugung, daß es sich um ein durch vielfache Genduplikation mit anschließendem Exon-shuffling (Genfusion) zustandegekommenes Gen handelt, weil die Befunde den theoretischen Erwartungen entsprechen. Der Beleg wird um so schlagender, da der Mechanismus der Genduplikation und Genmutation - um mit LÖNNIG zu sprechen - molekulargenetische "Tatsachen" sind.

Heute wird nicht nur die Genduplikation, sondern sogar OHNOs Annahme von der Duplikation ganzer Chromosomensegmente wieder diskutiert, weil seine Hypothese empirisch belegt werden konnte. Mit anderen Worten: Immer mehr Forscher

"are finding duplicate genes and chromosome segments that suggest OHNO might have been right after all."

(PENNISI, 2001)

  

Zusammenfassend läßt sich feststellen: Die Biologen verfügen über genügend Evidenzen für die Faktizität der Evolution. Es sind keine sachlichen Aspekte erkennbar, die gegen Evolution eingewandt werden könnten, im Gegenteil: die meisten Beobachtungen entsprechen den Erwartungen der Evolutionstheorie. Daß dies im Antievolutionismus anders gesehen wird als in der Fachwelt, ist das Resultat einer methodologischen Grundauffassung, die derjenigen der wissenschaftlichen Methodologie nicht entspricht!

                                       

Entsprechend unwissenschaftlich sind die folgenden Behauptungen von LÖNNIG gegen die Evidenz repetitiver und homologer Gene, die für Genduplikation als Evolutionsmechanismus sprechen:

"Die Tatsache, daß es Proteingroßfamilien gibt, zu denen man teilweise auch Proteine zählt, die in weniger als 50% ihrer Aminosäuren übereinstimmen, beweist selbstverständlich ebenfalls in keiner Weise, daß die zugehörigen Gene aus einem Gen entstanden sind."

"Über empirisch verfolgbare Zeiträume sind die Duplikate kaum von ihren ursprünglichen unterscheidbar, so daß der evolutiven Hypothese die Beweise fehlen."

Man sieht hier, daß man mit den Aussagen LÖNNIGs jede nur denkbare Datensituation vollkommen gegen die Evolutionstheorie immunisieren kann:


Entweder sind die duplizierten Gene "über empirisch verfolgbare Zeiträume kaum von ihren ursprünglichen unterscheidbar" (was nun überhaupt niemanden verwundert), "so daß der evolutiven Hypothese die Beweise fehlen". Oder die molekulargenetisch beobachteten Unterschiede sind über empirisch nicht verfolgte Zeiträume so groß, daß dies alles "selbstverständlich ebenfalls in keiner Weise" beweist "daß die zugehörigen Gene aus einem Gen entstanden sind".  Mit anderen Worten: Die Datenbasis kann aussehen wie sie will, nichts entspricht den Erwartungen der Evolutionstheorie!

                 

Wie also soll das Datenmaterial sonst noch aussehen, damit die Antievolutionisten und allen voran LÖNNIG wenigstens einmal die theoretische Möglichkeit eines naturalistischen Evolutionsgeschehens nicht grundsätzlich abzulehnen gewillt wären?                                 

Wenn nun die Hypothese, daß zwei Gene durch ein Duplikationsereignis verbunden seien, selbst im Falle 80%iger, 85%iger und 92%iger Homologie keine Stütze erführe, dann wäre auch der Nachweis einer 100%igen Homologie zweier Gene (und damit deren Identität) ohne Beweiswert - und das trotz des Umstandes, daß die Wissenschaft die Genduplikation allein schon durch den Nachweis identischer Gene (selbst ohne direkte Beobachtbarkeit des Duplikationsvorgangs!) im Erbmolekül anerkennt. Wo verbirgt sich denn in dieser Argumentationsmethode überhaupt noch die vielzitierte und von der Wissenschaft zurecht eingeforderte rationale und hypothetico-deduktive Bewertung empirischer Daten?          

Spätestens jetzt dürfte dem Leser völlig klar geworden sein, daß LÖNNIGs empiristische Argumentation keine wissenschaftliche ist (vgl. Kapitel Ib.2.). Um es nochmals herauszustellen:

                                                                  


Was die Wissenschaft fordert, sind keine naiven "Beweise" im populären Sinne und auch keine direkte Beobachtbarkeit ihrer Erkenntnisgegenstände im Experiment, einzig entscheidend ist die empirische Prüfbarkeit der theoretischen Folgerungen (Deduktionen). Alle großen wissenschaftlichen Theorien (wie etwa die Atomtheorie, die Elementarteilchenphysik oder die Kosmologie) operieren mit Entitäten und Prozessen, die nicht durch die naive Anschauung "beweisbar" sind. Das heißt, man kann immer nur prüfen, ob die Daten im Lichte der Theorie interpretierbar sind. Man braucht also Befunde, die den Erwartungen der Theorie entsprechen und möglichst viele Beobachtungen, die sich mit einer Theorie erklären lassen.

                                                          

2.2. Zum Verständnis des Wesens transspezifischer Evolution

Wir wollen nochmals betonen, daß das Datenmaterial selbstverständlich keinen "Beweis" für die Höherentwicklung des Lebens erbracht hat. Die Situation zwingt den unvoreingenommenen und rational schlußfolgernden Wissenschaftler zu der Annahme, daß die oben beschriebenen Experimente und Naturbeobachtungen den Erwartungen der Evolutionstheorie entsprechen und daher an der Konstanz der Organisationstypen erhebliche Zweifel aufkommen lassen. Eine befriedigende Erklärung der oben diskutierten Beobachtungsdaten macht es vielmehr erforderlich anzuerkennen, daß Genduplikation und funktionsabwandelnde Mutationen zur Entstehung neuer Gene und schrittweise zu neuen Organisationstypen geführt haben.

Selbstverständlich zeugte es von einer Verkennung des Evolutionsgeschehens, würde man die Entstehung neuer Baupläne ausschließlich unter dem Aspekt des Erwerbs neuen Genmaterials betrachten. In jüngster Zeit beginnt sich - insbesondere nach Abschluß des Humangenomprojekts - immer mehr die Einsicht durchzusetzen, daß nicht die bloße Zahl der Gene oder Genwirkketten über die Entwicklungsstufe eines Organismus entscheidet und sich das Ausmaß der phänotypischen Veränderungen eines Individuums nicht anhand der Anzahl der in ihm stattgehabten Mutationen bestimmen läßt. Das Erbmolekül eines Amphibiums besitzt in etwa denselben Umfang wie das eines Säugetiers, bestimmte Algenarten verfügen gar über ein weit größeres Genreservoir als Säugetiere (KÄMPFE, 1992). Daraus kann man schließen, daß über das Organisationsniveau vorrangig die "Qualität" der regulativen Wirkbeziehungen im epigenetischen System entscheidet und weniger die genetische und funktionelle Quantität.

Die Entstehung "neuer" Baupläne und Funktionen verkürzt sich damit häufig auf die bloße Modifikation des Vorhandenen, was den opportunistischen Charakter der Evolution sichtbar werden läßt. Eine progressive Evolution ist unter diesen Gesichtspunkten nicht strikt mit Funktionsaufbau in dem Sinne gleichzusetzen, daß sich zu bestehenden Genen laufend neue hinzuaddieren müssen. Sie ist vielmehr Ausdruck funktioneller Veränderlichkeit infolge von Anpassung (Adaptation), und eben diese Wandelbarkeit bestehender Funktionen kann in den Evolutionsexperimenten mit Bakterien in beeindruckender Weise aufgezeigt werden. Es hat sich nun auch gezeigt, daß in diesem Zusammenhang die oben zitierte und von JUNKER und SCHERER ins Spiel gebrachte Annahme, die durch Adaptation an bestimmte Umweltverhältnisse erfolgte Spezialisierung führe zu genetischer Verarmung und nicht zu Höherentwicklung, keinen Bestand hat. So schreibt MAYR                                        

"Die Tatsachen stützen eine so weitgefaßte Verallgemeinerung nicht. In Wirklichkeit waren es besonders präadaptierte und daher hochspezialisierte Formen, bei denen beinahe alle bedeutsamen evolutiven Durchbrüche statthatten. Das gilt für jene Fische, aus denen sich die Tetrapoden entwickelten, und für die Reptilien, von denen Vögel und Säugetiere abstammen. Zugegeben, daß viele generalisierte Formen sich über lange Zeitabschnitte gehalten haben, aber zu Ahnen bemerkenswerter neuer Typen sind die meisten von ihnen nicht geworden. Eine ausgewogene Bewertung möchte Spezialisation in den meisten Fällen zwar als Sackgasse ansehen und viele unspezialisierte Formen als Ausgangspunkte erfolgreich spezialisierter Abkömmlinge, aber wie AMADON (1943) und ROMER (1946) sehr richtig betont haben, waren es einige der am höchsten spezialisierten Typen, die ungewöhnlich bedeutsame neue adaptive Zonen eroberten."

(MAYR, 1967, S. 465)

         

Aus diesem Grunde hat auch die Bildung von Resistenzen als Spezialisierung und Anpassung an ungünstige Umweltbedingungen nicht in jedem Falle etwas mit "Funktionsabbau" (Typolyse) zu tun, wie auf antievolutionistischer Seite zu hören ist, weil der gänzliche Ausfall einer bestehenden Funktion meist letal endet. Der Umstand, daß ein Antibiotikum nicht mehr am vorhergesehenen Zielort angelangt, bezeugt eher die selektionspositive Veränderbarkeit von Strukturen und den Neuerwerb einer Funktion.                                                                                                                                                                               

2.3. Evolution gleich "Mikroevolution"?

Über das Wirken von Mutationen                             

Im Kreationismus wird immer wieder die Behauptung lautbar, das unmittelbar beobachtbare Evolutionsgeschehen beschränke sich ausschließlich auf "mikroevolutive" Variationen von im wesentlichen konstanten Bauplänen, es seien aber keine Veränderungen in den Funktionstypen festzustellen. Dazu JUNKER und SCHERER, 1998, S. 63:

"Das Mutationsgeschehen bleibt - soweit empirisch feststellbar - im mikroevolutiven Bereich."

                                                                                                                  

Gewiß, evolutive Veränderungen spielen sich über zivilisatorische Zeiträume hinweg nur auf derselben Komplexitätsebene ab, eine Entstehung neuer Organisationstypen war bislang nicht zu beobachten. Nach dem von uns zitierten Artikel von Appenzeller hatten RAINEY und TRAVISANO aus E. coli- und Pseudomonas fluoreszens-Linien jedoch unter dem Druck letaler Phagen vielfach neue Mutanten entdeckt, die sich morphologisch mehr oder minder stark von den "Wildtypen" unterschieden haben. Es wurde sogar eine Variante beschrieben, die sich morphologisch derart von der ursprünglichen unterschied, so daß man sie irrtümlicherweise zunächst für ein artfremdes Bakterium hielt (APPENZELLER, 1999).

In jüngster Zeit werden auch immer mehr Daten bekannt, welche die Bildung neuer Baupläne am Beispiel höherer Metazoen belegen. Im Jahre 1998 hatte man den molekulargenetischen Nachweis erbracht, daß der Grundbauplan des Kulturmais (zea mays) im Laufe der seit Jahrtausenden stattfindenden künstlichen Zuchtwahl aus dem "Grundtyp" der Teosinte entstanden ist (PÄÄBO S, 1999, Nature 398: S. 194-195). Der Pflanzenphysiologe Prof. KUTSCHERA von der Universität Kassel hatte die Resultate in seinem Buch kurz beschrieben und wie folgt kommentiert:

"Einen überzeugenden Beweis für die (...) Teosinte-Hypothese erbrachte die experimentelle Molekulargenetik. Kreuzungsexperimente zeigten, daß nur 5 Regionen des Genoms für die Änderungen im Bauplan der Spezies Teosinte zu Mais verantwortlich sind (...) Durch Selektion geeigneter Teosintekörner wurde während der Agrikulturrevolution (vor etwa 7500 Jahren) (...) die regulatorische Region des tb1-Gens derart modifiziert, daß über das Zwischenstadium des "Protomais" die moderne Maispflanze gezüchtet werden konnte. Dieses im Jahre 1998 entschlüsselte Beispiel (...) belegt, daß durch wiederholte Variation und Selektion relativ rasch ein neuer Pflanzenbauplan entstehen kann. Ein zentrales Postulat der Synthetischen Theorie der Evolution konnte so durch experimentelle Genomanalysen bestätigt werden."

(KUTSCHERA, 2001, S. 181)

                         

Das Datenmaterial läßt an der Unveränderlichkeit von Organisationstypen erhebliche Zweifel aufkommen. Weil die Methode der Wissenschaft keineswegs empiristisch geprägt, sondern einen deduktiv-schlußfolgernde ist, sind diese Beobachtungen geradezu als weitere Bestätigungen für die Deszendenztheorie zu werten.

                                                                                                     

Damit haben wir also den Beleg erbracht, daß bestimmte Mutationen (etwa an Regulatorgenen) tiefgreifende Wandlungen im Phänotyp bewirken können. Es gibt mit anderen Worten keinen vernünftigen (rationalen, das heißt wissenschaftlichen) Grund mehr, an der evolutiven Entstehung neuer Organisationstypen noch zu zweifeln.

Zum einen siedelt sich der empiristische Einwand, "Makroevolution" sei bislang nicht beobachtet worden, außerhalb der wissenschaftlichen Erkenntnisstrategie an, weil die Beschränkung auf ausschließlich beobachtbare Fakten der wissenschaftlichen Maxime zuwiderläuft, unseren beschränkten Erkenntnishorizont zu erweitern (näheres in Kapitel Ib.2.)

Zum anderen ist dieser Befund evolutionstheoretisch geradezu zu erwarten. Es drängt sich hier die Frage auf, wie es denn möglich sein soll, die Entstehung neuer Typen, die selbst bei Invertebraten einen Zeitraum von Zehntausenden bis Millionen von Jahren in Anspruch nimmt, in wenigen Jahren im Laborexperiment aufgezeigt zu bekommen. Artübergreifende Evolution findet bei höheren Organismen vergleichsweise langsam statt und führt oft erst nach Jahrtausenden sukzessive zu neuen Organisationstypen.

Ein weiterer Grund, der gegen erfolgreiche Simulationsexperimente im Labor spricht, ist das Fehlen geeigneter Selektionsmechanismen, die zu einem neuen Typ führen sollen. Unter einer Vielzahl von Mutanten müßten ja nicht nur solche eines "geeigneten Typs" aufgefunden, der Potenzen für eine Höherentwicklung in sich birgt. Es wäre zudem unabdingbar, solche Mutanten herauszupräparieren, bei denen sich die vielversprechende Mutation homozygot (also auf beiden Chromosomen gleichermaßen) zeigte. Diese Mutanten müßten den Ausgangspunkt für fortschreitende erfolgversprechende Mutationen darstellen. Man müßte die komplizierten Selektions- und Kreuzungsexperimente vielfach hintereinanderschalten und solange wiederholen, bis durch die schrittweise Addition von Mutationen endlich ein neuer Typ erreicht wäre.

Man kann gewiß willkürlich neue Phäntypen heranzüchten und gezielt sein Augenmerk auf ein bestimmtes Merkmal richten. Um einen neuen Organisationstyp herauszupräparieren, müssen aber neue Gewebsstrukturen auf- oder angebaut werden, die auch im Hinblick auf das "Binnenmilieu" hinreichend stabil sind und dem Organismus eine größere Komplexität und neue Eigenschaften verschaffen. Solche kleine erfolgversprechende phänotypische Veränderungen (die sich zunächst einmal auf der molekularen, zellulären oder organischen Ebene abspielen), werden im Ansatz entweder gar nicht erkannt oder aber irrtümlicherweise als "Mißbildungen" verkannt werden. Es ist dagegen kaum zu vermeiden, daß der Experimentator immer wieder Mutanten auswählt, die aufgrund innerer Mißbildungen und ungünstiger Genkombinationen untüchtiger sind als deren Vorgänger. Im Laufe der Zeit werden sich auch immer mehr unsichtbare Mutationen aufsummieren, die sich zunehmend ungünstig auf die Fitneß der Mutanten auswirken. Ab einem bestimmten Punkt sind sie derart "überzüchtet", daß sie schlichtweg absterben, noch bevor neue Typen erreichbar sind. Das Problem der Überzüchtung zeigt sich früher oder später bei allen Mutanten. Meist werden dann bestimmte Merkmale verschwinden, die vom Menschen nicht als überlebensrelevant angesehen werden, für die "innere" Stabilität und das Überleben in der freien Wildbahn aber notwendig waren. das Resultat ist Typolyse und nicht die Entstehung einer neuen Komplexitätsebene.

Die Natur sieht sich mit all diesen Problemen gar nicht konfrontiert. Ihr stehen nicht nur Zeiträume von hunderten von Jahrmillionen zur Verfügung, sie testet auch jedes einzelne Individuum beständig auf seine Fitneß, während in der künstlichen Zuchtwahl dagegen nur willkürlich bestimmte Phänotypen ausgewählt werden können. Darüber hinaus bilden sich in kleinen Gründerpopulationen während einer gewissen Inzuchtphase vorteilhafte Mutanten schnell homozygot aus, was zu großen phänotypischen Unterschieden im Vergleich mit den Stammpopulationen zu "durchbrochenen Gleichgewichten" und schneller Evolution führen kann.

           

Obgleich sich transspezifische Evolutionsprozesse unserer unmittelbaren Beobachtung entziehen, zeigen die Züchtungserfolge der vergangenen Jahrtausende, daß neue Varianten entstehen können, die sich von den Wildtypen bereits mehr oder minder stark unterscheiden. Das Augenmerk sei hier beispielsweise auf Arabidopsis, Zea mays oder die Resultate in der Hundezucht gelenkt. Ferner kennt man heute bei Drosophila schon diverse artüberschreitende Evolutionssprünge, die im begrenzten Rahmen synergetisch zur Entstehung neuer Funktionen geführt haben. So hat sich gezeigt, daß die großen Unterschiede in der Lebens- und Verhaltensweise zwischen Drosophila sechellia und D. simulans auf einige wenige Mutationen zurückführbar sind (MORELL, 1999). Auch KÄMPFE, 1992 hat gelegentlich auf artüberschreitende, systemische Evolutionssprünge bei Drosophila hingewiesen, die keineswegs zu Funktionsverlusten geführt haben.

Gleichwohl findet man aber immer wieder Beispiele für Organismen, die im Laufe der Evolution wichtige Organe und Funktionen eingebüßt haben, was für Strukturabbau (Typolyse) spricht. So kennt man die Höhlensalmler, deren Augen zurückgebildet sind und die Galápagoskormorane, die ihre Flugfähigkeit verloren haben. Diese Phänomene sind jedoch Ausdruck der Ökonomisierung, weshalb die Hypothese von der typolytischen Artbildung, die auf LÖNNIG zurückzuführen ist, keine durchgehende Gültigkeit besitzt. Funktionsverlust und Typolyse sind mit anderen Worten lediglich Zeichen extremer Spezialisierung.

                                         

2.4. Rekurrente Variation

In den letzten Jahren konnte gezeigt werden, daß die Anzahl der in Experimenten erhaltenen, unterscheidbaren Mutanten mit steigender Anzahl von Mutationsversuchen gegen eine Obergrenze strebt. Das bedeutet, daß bestimmte Mutanten häufig wiederkehren und viele, die theoretisch denkbar wären, gar nicht nachgewiesen werden können. Dieses Phänomen der "Begrenzung" der Mutantenzahl sowie des Wiederkehrens bestimmter Mutanten wurde von Lönnig als "rekurrente Variation" bezeichnet.

"Die Regelhaftigkeit der Mutationserscheinungen weist auf ein vorgegebenes, zwar reichhaltiges, aber letztlich begrenztes Variationspotential der Lebewesen hin."

(JUNKER und SCHERER, 1998, S. 68)

                       

Diese Behauptung erweist sich als voreilig, denn das Phänomen ist auch im Rahmen der evolutionären Theorie vom Punktualismus sowie systemtheoretisch zu erklären. In der punktualistischen Vorstellung sind gutangepaßte und große Populationen in ihrer Entwicklung "träge", sie verändern sich nur langsam oder aber gar nicht. Die Selektion wirkt auf der Grundlage innerer Entwicklungsprinzipien stabilisierend. Sie verhindert "die Erzeugung zu vieler unharmonischer, unverträglicher Genkombinationen" (MAYR, 1988, S. 255).

Eine solche Gleichgewichtssituation zeichnet sich durch "genetische Kohäsion" bei den Individuen aus, Mutationen führen häufig nur noch zu einer beschränkten Anzahl an Mutantentypen, zu "rekurrenter Variation" (siehe Kapitel II). Bildet sich nun jedoch eine von der Stammpopulation räumlich isolierte Subpopulation (ein "peripheres Isolat") aus, so unterscheidet sich die Genkombination mehr oder minder stark von der großen Population. Vorteilhafte aber rezessive Allele können dort schnell homozygot auftreten und sich damit nicht nur im Genotyp, sondern auch im Phänotyp bemerkbar machen, was zum Durchbruch der Gleichgewichtssituation führt. Ein solches "unterbrochenes Gleichgewicht" kann der Theorie zufolge zu einem "schnellen" evolutiven Wandel führen, wobei sich auf der Basis "innerorganismischer" Entwicklungszwänge neue Gleichgewichte einstellen.

Damit können unter dem Regime veränderter "innerer" Selektionsbedingungen sowie in einem anderen Lebensraum völlig neue Anpassungen zustande kommen. Auf lange Zeiten der Typostase folgen Epochen des schnellen evolutiven Wandels, eine Auffassung, die auch vom Fossilbefund gestützt wird. Diese Anschauung konnte mittlerweile anhand von Evolutionsexperimenten mit Bakterien im Ansatz belegt werden. Sobald Bakterien durch "Flaschenhälse" gezwängt werden, verschwindet das Phänomen der "rekurrenten Variation", was nur evolutionstheoretisch erklärt werden kann:              

"'What it comes down to is just a chance thing', Rainey says. 'The phage puts the population through a bottleneck, which increases the role of chance. The reproducability goes out of the door.' Only individuals that happen to be resistant to the phage pass through the bottleneck, and the array of genes they carry varies from microcosm to microcosm. As a result, each miniature ecosystem rediversifies from a different starting point and reaches strange new adaptive peaks."

(APPENZELLER, 1999)                                                                                                                         

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Fußnote (*):       

Nun wird gegen diese Fälle regelmäßig eingewandt, daß es sich "nur" um den Nachweis von "Punktmutationen" handele, also um Fälle von "Mikroevolution". Daß es sich über empirisch überschaubare Zeiträume um keine spektakulären Beispiele für den Erwerb grundlegend neuer, durch Genduplikation und Abwandlung zustandegekommener, Enzymbaupläne handeln kann, ist unbestritten und natürlich ebenso nicht verwunderlich. Dafür, daß der Einwurf dennoch nicht überzeugen kann, sind zwei Gründe anzuführen: Erstens handelt es sich um Belege für die Entstehung von Allelen, die für neue Enzyme mit neuen Funktionen codieren, wie es die Evolutionstheorie erwarten läßt. Wenn das entsprechende ursprüngliche Gen dupliziert (verdoppelt) wird, dann kann es - analog zu den beschriebenen Fällen - mutieren und sukzessive neue Funktionsgene hervorbringen, der Evolution also eine "Spielwiese" darbieten. Zweitens erfolgt jede Genneubildung über die schrittweise Kumulation von Punktmutationen, die erst im Laufe größerer Zeiträume zu abnehmenden Ähnlichkeitsgraden führen kann. Man kann die neuen Gene durch Homologiebetrachtungen dem entsprechenden "Urgen" zuordnen (Beispiele in NEI, 1987, S. 116). Bei den beobachteten Beispielen liegt also kein grundsätzlicher, sondern nurmehr ein dem Grade nach bestehender Unterschied zu denjenigen Evolutionsbeispielen vor, die eine tiefgreifende Umgestaltung der Nucleotidsequenzen und als Folge dessen völlig neue Genfunktionen bezeugen. 

 

Zweite, völlig neu bearbeitete Fassung, (c) 23.01.2002                                                          

Last update: 23.01.02                              

                  

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