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IV. Evolution
und Leben: Zufall und Wahrscheinlichkeit
2.6. Die Entstehung des ersten Replikationssystems - Die Theorie vom
Hyperzyklus
Der "Hyperzyklus" wurde von EIGEN als erstes evolutionsfähiges
Replikationssystem postuliert. In dem einfachsten Hyperzyklus finden zwei
RNA-Moleküle zusammen, die sich in gegenseitiger Wechselwirkung aus
einer Substratlösung hervorbringen und "vermehren". Dabei koppeln sich
entweder zwei oder mehrere selbstreproduzierende RNA-Stränge (Ribozyme)
oder aber Ribozyme und Enzyme zu einem stabilen Autozyklus, der sich selbst
unerhält und repliziert (vgl. Abbildung 1).
Abbildung 1:
Hier wird das schematische Prinzip eines sogenannten
Hyperzyklus verdeutlicht, in dem zwei oder mehrere RNA- (RNS-) Sequenzen
mit Enzymen (E) einen Zyklus bilden und sich gegenseitig erhalten. Beide
dargestellten Sequenzen sind aufeinander angewiesen und können es sich
nicht leisten, sich gegenseitig aus dem Rennen zu werfen.
EIGEN hatte das Modell vom Hyperzyclus ersonnen, weil die großen
Fehlerraten bei der Vermehrung selbstreproduzierender Polynucleotide (Ribozyme)
die "Information" ab einer bestimmten Sequenzlänge auseinanderdriften
ließen. Nach jedem Replikationsschritt können nämlich Fehler
(Mutationen) auftreten, so daß aus einer Ursequenz ein "Kometenschweif"
ähnlicher Ribozyme entstehen kann. Diese bilden ein Mutantenensemble,
die sogenannte "Quasispezies", die hinsichtlich Kopiergenauigkeit,
Stabilität und Replikationsgeschwindigkeit miteinander in Konkurrenz
stehen. Für Polynucleotide, die ausschließlich aus stabilen
Guanin-Cytosin-Basenpaarungen bestehen, beträgt die experimentell bestimmte
Fehlerquote etwa 1%, die Kette dürfte maximal 100 Nucleotide lang sein.
Für Polynucleotide, die ausschließlich aus Adenin-Uridin-Basenpaaren
bestehen, beträgt die Ablesefehlerquote bei der Replikation etwa das
zehnfache, die Kettenlänge könnte also nur maximal 10 Glieder betragen.
Um nun eine stabile Reproduktion ohne "Informationsauflösung" über
beliebig viele Generationen hinweg zu gewährleisten, ist es unmöglich,
ein "Ur-Genom" auf einem einzelnen Molekül zu konzentrieren. Bilden
sich in einer Quasispezies jedoch zwei oder mehrere Mutanten heraus, die
ihre (eventuell durch Enzyme vermittelte) Reproduktion gegenseitig katalysieren
und stabilisieren, entstehen kooperative Systeme, die sich über
lange Zeiten stabil reproduzieren können und gegenüber allen anderen
Konkurrenten im Mutantenensemble einen entscheidenden Vorteil besitzen. Als
Bedingung muß gelten, daß jedes Ribozym aus 50-100 Kettengliedern
besteht. Für das "Ur-Gen" muß man also einen Guanin-Cytosin-Reichtum
von 50-100 % annehmen, da die RNA-Matrizen lediglich dann eine hinreichend
kleine Fehlerquote besitzen.
Wie zu erwarten ist, wird von den Evolutionskritikern die Möglichkeit
der hyperzyklischen Organisation der ersten Replikationssysteme infrage gestellt:
"Durch Experimente, welche EIGEN und Mitarbeiter
mit dem von ihnen konzipierten Evolutionsreaktor durchgeführt haben,
konnte jedoch die Entstehung eines Hyperzyklus nicht nachvollzogen werden.
Vielmehr zeigen sie nur, daß vorgegebene gekoppelte Replikationssysteme
unter entsprechenden Voraussetzungen (...) stabilisiert und optimiert werden
können (...) Je besser ein solcher Hyperzyklus funktioniert, desto weniger
geeignet ist er als Durchgangsstadium auf dem Weg zu einer primitiven
Zelle."
(JUNKER und SCHERER, 1998, S. 145)
EIGEN und WINKLER-OSWATITSCH haben jedoch mathematisch zeigen können,
daß die rezenten t-RNA-Moleküle einen Urzustand nahelegen, der
genau einer Quasispezies-Verteilung aus sich individuell reproduzierenden
Molekülen entsprach (EIGEN und WINKLER-OSWATITSCH 1981).
Anhand der variablen Sequenzen konnte die hypothetische Ursequenz mathematisch
rekonstruiert werden (KÄMPFE 1992, S. 201).
Interessant ist ferner, daß die rezenten t-RNAs genau die angesprochenen
Eigenschaften (einen hohen Guanin-Cytosin-Anteil von ca. 80% sowie eine
durchschnittliche Kettenlänge von 76 Nucleotiden) und damit dieselben
Zahlenverhältnisse aufweisen, die die Theorie mathematisch erwarten
läßt. Nimmt man hingegen eine geheimnisvolle "creatio ex
nihilo" an, bleiben die Befunde unerklärt.
2.7. Die Entstehung des genetischen Codes
In der belebten Welt wird alle genetische "Information" auf dem
DNA-Molekül gespeichert, das die gesamte "Bauanleitung"
der Organismen enthält. Die DNA besteht abwechselnd aus einem Nucleotid-
und einem Phosphatmolekül, die zu einer langen helical verdrillten
Doppelschraube (Doppelhelix) verbunden sind (vgl. Abbildung 2).
Jedes Nucleotid besteht wiederum aus einem Desoxyribosezuckermolekül,
an dem chemisch eine von 4 verschiedenen Nucleotidbasen bindet, welche die
"Buchstaben" des genetischen Codes verkörpern. Der gesamte DNA-Text
besteht also aus 4 Buchstaben, nämlich den Nucleotidbasen Adenin
(A), Guanin (G), Cytosin (C) und Thymin (T) bzw.
Uridin (U) in der RNA anstelle des Thymins.
Abbildung 2:
Ausschnitt aus einem DNA-Molekül (Kalottenmodell).
In der DNA sind zwei Fadenmoleküle spiralförmig umeinander gewickelt,
die durch die Nucleotidbasen zusammengehalten werden. Die blauen bzw.
organgefarbenen senkrechten Balken stellen hier die Nucleotidbasen dar; sie
repräsentieren den genetischen Code. Die Spirale besteht aus einem Zucker
(Desoxiribose), der chemisch mit Phosphorsäure verknüpft ist. Es
existieren 4 verschiedene Nucleotidbasen: Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin
(bei der RNA anstelle Thymin: Uracil). Die Reihenfolge (Kombination) dieser
Basen in dieser Doppelspirale ("Doppelhelix") charakterisiert das Genom des
vorliegenden Organismus und repräsentiert dessen gesamte Erbanlagen
und damit die Eigenschaften des Lebewesens.
Sollen nun in einer Zelle Teile der Bauanleitung (zur Produktion eines Proteins)
abgelesen werden, wird die Doppelhelix an einer bestimmten Stelle aufgedrillt
und eine Kopie in Form eines "Messengers" (m-RNA) angefertigt,
der zum "Ablesen" (Translation) in den Zellkern geschleust wird. Die Buchstaben
des Messengerstrangs werden dort der Reihe nach abgelesen, während jeweils
3 Buchstaben (ein bestimmtes Basentriplett) für eine bestimmte
Aminosäure (ein "Wort") codieren. Mit dem Ablesen werden den "Wörtern"
die für sie codierenden Aminosäuren zugewiesen, die der Reihe nach
zu einem Protein verkettet werden, bis ein "Stop-Codon" erreicht ist, das
die Synthese abbricht.
Interessant ist, daß alle Lebewesen einen recht einheitlichen
("universellen") Triplettcode besitzen, was für die gemeinsame
Abstammung und die Evolution des Lebens spricht.
"Inzwischen hat sich aber herausgestellt, daß
bei zahlreichen Organismen unterschiedliche Abweichungen vom sogenannten
'universellen Code' vorkommen (...) Damit ist der genetische Code zum Problemfall
für die Evolutionstheorie geworden."
(JUNKER und SCHERER, 1998, S. 162)
Tatsächlich fand man vor einigen Jahren Abweichungen im genetischen
Code, die vor allem die Mitochondrien der Säugetiere betreffen. So codiert
in den Mitochondrien das Basentriplett UGA für die
Aminosäure Tryptophan, während es im "universellen
Code" die Aufgabe des Stopcodons übernimmt. Andererseits
sind die Tripletts AGA und AGG in den Mitochondrien
Stop-Signale, während sie im universellen Code für
die Aminosäure Arginin stehen. Besonders auffällig
ist hier, daß der mittleren Base G (Guanin) in der Frühzeit der
Entstehung des genetischen Codes offenbar eine variable Bedeutung zukam.
Es erheben sich in diesem Zusammenhang vornehmlich drei Fragen: Warum codiert
ein bestimmtes Basen-Triplett für eine bestimmte Aminosäure? Wie
entwickelte sich der genetische Code, und lassen sich schließlich die
Abweichungen im Code mit dem gängigen Entstehungsmodell erklären?
Die rezenten Organismen haben einen nichtüberlappenden,
kommafreien Triplettcode, das heißt, jeweils 3 Nucleotidbasen
auf der RNA kodieren für eine Aminosäure, die mit anderen zu einem
Protein aneinandergereiht werden. Der Code ist heute
eindeutig, das bedeutet, jedes Basentriplett codiert nur für
eine einzige Aminosäure. Gleichzeitig ist er stark
degeneriert, für die meisten Aminosäuren stehen mehrere
Triplettcodes zur Verfügung. Schließlich fällt auf, daß
die dritte Base stark variieren kann, ohne daß das Codon seine Bedeutung
verliert; "informationsrelevant" sind also vorwiegend die ersten
beiden Basen. Entsprechend der 4 Basen existieren 43 =
64 Kombinationsmöglichkeiten. Wenn nun durchschnittlich jeweils drei
Codons für die 21 natürlich vorkommenden Aminosäuren codieren,
bleiben drei Tripletts übrig, die als Stop-Codons beim Ablesen des
genetischen Codes fungieren. Versucht man aus dem heutigen Zustand die
Entstehungsgeschichte des genetischen Codes nachzuvollziehen, so ergibt sich
folgendes Bild:
Die Variabilität der dritten Base im Codon legt nahe, daß sie
zunächst in allen Fällen entbehrlich war. Es existierte also
wahrscheinlich ein Dublett-Code, der für 42
= 16 Aminosäuren codieren konnte. Der Code wäre für die 13
in Simulationsexperimenten in bedeutenden Mengen gewonnenen Aminosäuren
ausreichend gewesen, wobei bei 64 unterschiedlichen Tripletts jeder
Aminosäure vier Codons zugeordnet gewesen wären. Interessanterweise
besitzen heute noch sechs der just in Simulationsversuchen erhaltenen
Aminosäuren 4 Codons; die Beobachtung kann mit dem Modell also ganz
gut erklärt werden.
In einem noch früheren Stadium könnte evenutell nur die
mittlere Codonbase über die zugehörige Aminosäure
entschieden haben, die Aminosäuren also gruppenweise einer einzigen
Base zugeordnet gewesen sein. Dieser primitive Zustand war
mehrdeutig, jedes Triplett codierte also für mehrere
Aminosäuren gleichzeitig. Tatsächlich codiert im heutigen Code
U als mittlere Base für die hydrophoben
Aminosäuren, C für die
intermediären und G sowie A für die
polaren und amidischen Aminosäuren (wie Arginin, Tryptophan
usw.) sowie für den Stop-Befehl. Es scheint also, als
ob der rezente Code aus einem mehrdeutigen protobiontischen Zustand
hervorgegangen ist, in dem alle mittleren Basen gruppenweise für
Aminosäuren codierten, wobei A und G für Stop-Codons und polare
sowie amidische Basen gleichzeitig codierten.
Das Entstehungsmodell erklärt demnach, weshalb AGA,
AGG sowie UGA einmal als
Stop-Codons fungieren und einmal für
Arginin und Tryptophan (als Stellvertreter der
Gruppe der amidischen Aminosäuren) codieren. Der von JUNKER
und SCHERER hervorgehobene Unterschied im Gencode ist somit kein "Problemfall"
der Evolutionstheorie, sondern entspricht den Erwartungen des Entstehungsmodells
vom genetischen Code. Es ist davon auszugehen, daß die Abweichungen
vom Universalcode bereits zu einer Zeit auftraten, in der der Code noch
mehrdeutig war, ein Umstand, der mit der Endosymbiontenhypothese der
Zellbiologie konform geht. Ihr zufolge sind urtümliche Eubakterien mit
Urprocaryonten-Zellen verschmolzen, während sich erstere zu Mitochondrien,
den "Kraftwerken" der modernen Eucyte, umgebildet haben.
Interessant ist, daß nicht irgendwelche mittleren Basen (wie etwa
Uracil oder Cytosin) für den Stopbefehl codieren, sondern sowohl im
universellen wie auch im mitochondrischen Code die Basen Guanin oder
Adenin. Ebenso interessant ist der Umstand, daß im Mitochondrialcode
die zweite Guaninbase nicht für irgendeine Aminosäure codiert,
sondern just für eine amidische, nämlich für das
Tryptophan, genauso, wie es das Modell erwarten läßt. Die
Beobachtungen verhalten sich mit anderen Worten völlig konsistent zur
Evolutionstheorie, wenn man annimmt, daß sich in bestimmten Eubakterien
und den Urkaryonten die Gencodes beim sukzessiven Übergang vom mehrdeutigen
Einbasencode zum rezenten Triplettcode im Sinne des favorisierten Modells
unterschiedlich spezialisierten, bevor sie eine Endosymbiose eingingen.
Beide Modelle erfahren durch die Daten - ungeachtet offener mechanistischer
Fragen - gleichermaßen eine Stütze.
Zweite, völlig neu bearbeitete Fassung, (c) 12.02.2002
Last
update:
12.02.02
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(c) M. Neukamm, 30.08.2000