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V.
Evolutionsbelege
3. Molekulare Ähnlichkeiten und molekulare Stammbäume
Im letzten Abschnitt haben wir erörtert, daß die zwischen den
Arten zutagetretende Formenähnlichkeit eine zentrale Erwartung der
Evolutionsbiologie wiederspiegelt. Die Ähnlichkeiten müssen sich
bis hinab zur molekularen Ebene erstrecken, weil Evolution eben bedeutet,
daß es dem Leben "erspart" bleibt, sein Gen- und Proteinrepertoire
in jeder Generation von neuem zu "erfinden". Diese Einsicht hat zur Konsequenz,
daß diejenigen Funktionsmoleküle, die wichtige Stoffwechselprozesse
des Lebens unterhalten, bei den unterschiedlichsten Lebensformen vorkommen
müssen:
"Einfach deshalb, weil sie für Lebensfunktionen
so elementarer Art verantwortlich sind, daß sie schon zu einer Zeit
entstanden sein müssen, in der die evolutive Aufsplitterung der Nachkommen
der Urzelle in die Vielzahl der heutigen Stammeslinien noch gar nicht eingesetzt
hatte!"
(v. DITFURTH, 1987, S. 42)
Solche weit verbreiteten "Funktionsträger" (z. B. Proteine) findet man
tatsächlich in großer Zahl. Sie unterscheiden sich von Art zu
Art etwas in ihrer Primärstruktur, weil sich nach jeder Artaufspaltung
die Spezies und Proteine unterschiedlich weiter, das heißt auseinander
entwickelt haben. Dabei hatten selbstverständlich nur jene
Veränderungen eine Chance sich auszubreiten, die die Funktion der Proteine
nicht negativ beeinträchtigten. Dies sind meist
selektionsneutrale Mutationen, man spricht daher gelegentlich
von "nichtdarwinscher Evolution" (KIMURA, 1987).
Es spricht nun vieles dafür, daß die Evolutionsgeschwindigkeit
eines Proteins im Idealfalle konstant ist (MAIER, 1994). Daher
kann man unter gewissen Voraussetzungen anhand der Zahl unterschiedlich besetzter
Aminosäurepositionen einer Proteinsorte auf die
Verwandtschaftsverhältnisse zwischen ihren Besitzern schließen.
Kurz: Proteine lassen sich im Prinzip zur Konstruktion von Stammbäumen
heranziehen.
Doch inwiefern lassen sich nun diverse Proteinstammbäume als
Evolutionsbelege werten? Um die Frage zu beantworten, wollen wir im folgenden
auf eine Arbeit der Biologin DAYHOFF zu sprechen kommen, der es gelungen
ist, die zwischen den rezenten Tiergruppen bestehenden Sequenzunterschiede
beim Atmungsferment Cytochrom c in einen Stammbaum zu übersetzen
(DAYHOFF, 1969). Dabei ergab sich (hier nur in Auszügen
wiedergegeben) folgendes Bild:
Die Cytochrom c-Sequenzen von Schimpanse und Mensch unterscheiden sich
in nur einer Position, diejenigen der Säugetiere und Vögel in
durchschnittlich 9,9. Die Cytochrome c der Säuger und Amphibien differieren
in etwa 14 Aminosäurepositionen. Die Cytochrome c der landlebenden
Wirbeltiere unterscheiden sich vom Thunfisch an rund 18,5 und diejenigen
von Wirbeltieren und Insekten an etwa 26 Stellen (Zahlen nach KÄMPFE,
1992, S. 251).
Diese Zahlenverhältnisse machen deutlich, daß Mensch und Schimpanse
eng miteinander verwandt sind, die Entwicklungslinien trennten sich erst
vor relativ kurzer Zeit. Desweiteren stehen die Vögel den Säugetieren
stammesgeschichtlich näher als die Amphibien, noch ferner stehen die
Fische, und die Entwicklungslinie der Insekten trennte sich in einer noch
früheren erdgeschichtlichen Periode von der Wirbeltierlinie ab.
Für unseren Gedankengang ist jetzt folgender Befund von Bedeutung:
Übersetzt man die Sequenzunterschiede zwischen den Cytochromen c, aus
der sich die chronologische Aufspaltungsfolge der Organismengruppen ergibt,
in den entsprechenden Stammbaum, zeigt sich das Resultat, in weiten Bereichen
als identisch mit demjenigen Stammbaum, den man nach der Auswertung von
Fossilienfunden erstellen kann (vgl. v. DITFURTH, 1987)!
Das Spektakuläre an einer solchen Koinzidenz läßt sich erst
in vollem Umfange begreifen, wenn man sich klarmacht, daß hier zwei
verschiedene, scheinbar nicht in Zusammenhang stehende Arten von Datenmaterial
zu mehr oder minder denselben Ergebnissen führen, ganz so, wie es die
Evolutionsbiologen erwartet hatten:
"Auf der einen Seite die räumliche Verteilung
versteinerter Überreste von ausgestorbenen Vorfahren heutiger Organismen,
in den unterschiedlich alten Ablagerungen der Erdkruste just so verteilt,
wie es ihrem entwicklungsgeschichtlichen Alter entspricht. Auf der anderen
Seite der Vergleich unterschiedlicher Kopien eines sehr alten, 'fossilen'
Moleküls, dessen rechnerische Auswertung zu exakt der gleichen Chronologie
des Entwicklungsablaufs führt. Kann man immer noch [an der Evolution]
zweifeln?"
(v. DITFURTH, 1987, S. 54 f.)
Ein solches Ausmaß an Übereinstimmung wäre, so läßt
sich resümmieren, in der Tat sehr unwahrscheinlich, wenn die theoretischen
Prämissen, die der Stammbaumkonstruktion vorausgehen, in entscheidenden
Punkten falsch wären. Obschon wir damit natürlich keinen
unumstößlichen Beweis für Evolution erbracht haben (das ist
ja prinzipiell nicht möglich), müssen wir solche Koinzidenzen aus
methodologischen Gründen als Stütze der DARWINschen
Deszendenzlehre auffassen. Schöpfungstheorien bieten ja keine
überzeugenden Erklärungen für diese Stimmigkeiten an und scheiden
daher als wissenschaftliche Alternative zur Evolutionstheorie aus.
(*)
Einen hohen Grad an Übereinstimmung erhält man auch, wenn
man DAYHOFFs Cytochrom c- mit dem analogen Hämoglobin-Stammbaum oder
mit den klassischen Ergebnissen der phylogenetischen Systematik vergleicht.
MAIER stellt insgesamt fest, daß die molekulare Systematik die
vergleichende Morphologie "in praktisch allen gut abgesicherten
Fällen" bestätigt hat; ein Befund der völlig
denkunwahrscheinlich wäre, wenn die Vertreter der Abstammungslehre einem
Irrtum aufsäßen (MAIER, 1994, S. 118; vgl.
Kapitel II.1).
Doch wer sich aufgrund weltanschaulicher Überzeugungen gegen diese Einsicht
sperren will, läßt sich erfahrungsgemäß auch durch
die methodologische Begründung nicht überzeugen. Evolutionsgegner
sind daher bestrebt, die "große Reserve", die in die Ergebnisse der
molekularen Systematik einkalkuliert werden muß, zu betonen. So
illustrieren JUNKER und SCHERER unter anderen am Beispiel des Ferredoxins,
des Cytochrom c und Hämoglobins, daß die Mutationsraten stark
schwanken und widersprüchliche Stammbäume die Folge sein können.
Daraus wird allgemein geschlußfolgert, daß "(...) diese Methode
keine allgemein gültige, unabhängige Bestätigung der klassischen
Evolutionsvorstellungen liefern kann", obgleich immerhin eingeräumt
wird, daß der Cytochrom c-Stammbaum der Tiere "(...) gut mit der
klassischen Taxonomie zur Deckung zu bringen ist." (JUNKER und
SCHERER, 1998, S. 164-167).
Auch LÖNNIG benennt am Beispiel des Cytochrom c-Stammbaums einige konkrete
"Problemfälle":
"Cytochrom-c-Unterschiede zwischen Mensch und
Schnappschildkröte: 15 Aminosäurenreste; zwischen Mensch und
Klapperschlange: 14 Aminosäurenreste; zwischen Schnappschildkröte
und und Klapperschlange betragen jedoch die Unterschiede 22
Aminosäurenreste! Folglich ist der Mensch (Klasse Säugetiere) sowohl
mit der Schnappschildkröte als auch mit der Klapperschlange näher
verwandt, als die Schnappschildkröte mit der Klapperschlange (beides
Reptilien). - Der Ochsenfrosch unterscheidet sich vom Menschen hier in 18
Aminosäuren, von der Klapperschlange unterscheidet er sich jedoch in
23 Aminosäuren und von der Schnappschildkröte in 10 Resten. Folglich
ist der Ochsenfrosch (Klasse Amphibia) mit der Schnappschildkröte (Klasse
Reptilia) näher verwandt als die letztere mit der Klapperschlange (auch
Klasse Reptilia) (...) Bei vertieften Nachforschungen dürfte noch eine
ganze Reihe weiterer Schwierigkeiten zutage treten."
(LÖNNIG, 1986, Kapitel V.1.1.D)
Daß Probleme in der Stammbaumrekonstruktion auftreten, ist natürlich
unbestritten und bei Lichte betrachtet auch nicht verwunderlich, ist doch
heute eine Vielzahl störender Einflüsse bekannt, die das
"phylogenetische Signal" überspielen:
Eine Problem besteht darin, daß unterschiedliche Organismenlinien
verschieden effiziente Reparaturmechanismen besitzen, so daß
unterschiedlich hohe Mutationsraten möglich sind (LI und GRAUR,
1991). Desweiteren sind Mutationen oft nicht "selektionsneutral".
Der verschieden große Einfluß von Selektion sowohl auf der Protein-
(bzw. Gen-) wie auch auf der Organismusebene kann bei den Proteinen verschiedener
Spezies zu unterschiedlichen Austausch- und Evolutionsraten führen
(NEI, 1987, S. 54, 59). Unter diesen Gesichtspunkten ist es
nicht überraschend, daß verschiedene Proteine unterschiedliche
Stammbäume stützen können (SACCONE et al.,
1995).
Allgemein ist zu beachten, daß die Zahl der nachgewiesenen
Aminosäure-Austausche immer nur ein Minimum darstellt. An manchen Positionen
einer Aminosäurekette können mehrere Veränderungen erfolgt
sein, die aus dem Vergleich zweier Arten nicht mehr ersehbar sind
(REMANE et al., 1973, S. 67). Der statistische Fehler kann
bei kleinen Proteinen und geringen Sequenzunterschieden eine Auswertung
erschweren oder gar unmöglich machen (JOYSEY, 1981; NEI, 1987,
S. 54 f.).
Auch "nicht erkannte Formen von horizontalem (lateralem) Gentransfer"
sowie Paralogie können die Ergebnisse verfälschen (MAIER,
1994, S. 118 f.). Unter lateralem Gentransfer versteht man die
Übertragung von Genen von einer Art auf eine andere, wodurch
Scheinverwandtschaften ermittelt werden können, die nicht die
tatsächliche Evolution wiederspiegeln. Von Paralogie spricht man, wenn
in einer älteren Stammart mehrere Kopien eines Gens vorlagen. Wird in
den Nachfahrenlinien nur jeweils eine der Kopien "genutzt", übt die
Selektion auf die anderen keinen Druck mehr aus, so daß der Vergleich
solch paraloger Gene zu falschen Verwandtschaftshypothesen führen kann.
Ungeachtet aller bestehenden Probleme bei der Auswertung molekularbiologischer
Daten ist einseitige Kritik jedoch fehl am Platze. Denn es läßt
sich, wie wir exemplarisch aufgezeigt haben, nicht an der Tatsache rütteln,
daß sich die Resultate der molekularen Systematik, vergleichenden
Morphologie, Paläontologie und Biogeographie (vgl. Kapitel II.2)
in vielen Fällen gegenseitig stützen. Daß dies trotz aller
Unsicherheiten und Widersprüche in dem bisher erreichten Ausmaß
gelungen ist, macht die DARWINsche Abstammungslehre zu einer
wohlbestätigten Theorie.
Das Resultat ist nicht überraschend, denn die unerwünschten
Einflüsse sind in vielen Fällen in hinreichendem Maße in
den Griff zu bekommen. So besteht weitgehend Einigkeit darüber:
"(...) daß sich Probleme mit unterschiedlicher
Evolutionsgeschwindigkeit, Paralogie und horizontalem Gentransfer umgehen
lassen, indem man mindestens zwei verschiedene Molekülsorten zu den
Berechnungen heranzieht. Als Basis dienen in der Regel
18/16S-rRNA-Stammbäume. Bei diesen Molekülen hat man die
Phänomene Paralogie und horizontaler Gentransfer bisher nicht beobachtet."
(MAIER, 1994, S. 119)
4. Atavismen
Eine weitere Gruppe von Ähnlichkeitsmerkmalen, die auf eine gemeinsame
Stammesgeschichte des Lebens hindeutet, sind die sogenannten Atavismen (lat.
atavus: Urgroßvater, Urahn). Dabei handelt es sich um vom
Artcharakter abweichende Merkmalsausprägungen bei einzelnen Individuen,
um Mißbildungen, die in strukur- und lageähnlicher Weise schon
bei deren Ahnen- oder Stammformen in Erscheinung getreten sind (RIEDL,
1990, S. 306).
Beispielsweise bei den Pferden kommt es gelegentlich zur Bildung
von einer, in seltenen Fällen sogar von zwei überzähligen
Seitenzehen ("Griffelbeinen"), die in vollständiger Weise jenen
Zuständen entsprechen können, wie sie bei den Pferdevorfahren
ausgebildet waren. Beim Menschen kommen gelegentlich "geschwänzte",
mit einem dichten Haarkleid ausgestattete Kinder oder solche mit Halsfisteln
zur Welt, die in ihrer Lage den Kiemengängen der Fische ähnlich
sind. Bei Säugetieren kommen überzählige Brustwarzen
(Papillen) vor, die praktisch immer entlang der "Milchleiste" ausgebildet
werden, wie dies bei Säugetieren mit mehreren bauchständigen
Zitzenpaaren der Fall ist. Bei Walen und Delfinen wurde die
Ausbildung von Hinterextremitäten dokumentiert, die den Beinen der
landlebenden Vorfahren homolog sind. Und bei der Fruchtfliege
Drosophila hat man die Umbildung von Schwingkölbchen zu
häutigen Hinterflügeln beobachtet, die in ihrem Phänmuster
an die ersten vierflügligen Insekten erinnern.
Solche "Mißbildungen" lassen sich als Rückfälle in
stammesgeschichtlich ältere Entwicklungsstadien interpretieren, die
von der Existenz historisch gewordener "Organisationsmuster" zeugen und durch
Mutation, durch Störungen in der Embryonalentwicklung oder durch Kreuzung
wieder "reaktiviert" werden können (OSCHE, 1979, S. 28).
Es es deshalb nicht überraschend, daß dieser Feststellung aus
dem antievolutionistischen Lager Widerstand entgegengetragen wird.
Manchmal wird betont, daß "stillgelegte" Gene atavistischer
Merkmalskomplexe vergleichsweise schnell aus dem Genbestand verschwinden
müßten, weil auf sie kein Selektionsdruck mehr ausgeübt
würde, der sie vor der Auflösung durch zufällig eintretende
Mutationen bewahren könnte. Kein Wunder also, daß außer
Funktion gestellte, scheinbar "sinnlose" Atavismen, die mit Millionen
Jahre alten Ahnenformen in Zusammenhang gebracht werden, gar nicht mehr in
Erscheinung treten dürften, wie JUNKER (im Kontext eines von HAMPÉ
diskutierten Experimentalbeispiels) meint:
"Die atavistische Deutung würde (...) auf die
Annahme hinauslaufen, daß die betreffenden Gene seit (...) Millionen
Jahren stillgelegt seien. Das ist so unglaubhaft, daß dieses Argument
falsifizierend für die Deutung im Sinne eines Atavismus gewertet werden
muß."
(JUNKER, 2002, S. 172).
Abgesehen davon, daß solche, diversen "Ahnenmustern" entsprechende
Merkmale unabhängig von der Ursachenfrage als Atavismen
interpretierbar sind, daß also kausale Erklärungsprobleme
(man kann dies nicht oft genug wiederholen) niemals "falsifizierend"
für historische Feststellungen gewertet werden dürfen
(näheres in Kapitel Ib.3), ist das Argument von geringem
Gewicht. Denn bereits OSCHE hat darauf hingewiesen, daß scheinbar
"sinnlose" Strukturen, oder vorsichtiger: solche, die ihre Primärfunktion
eingebüßt haben, dennoch "(...) wichtige Aufgaben zu erfüllen
[haben], z. B. als Organisatoren, die in benachbarten Keimregionen bestimmte
Entwicklungsvorgänge induzieren (...)" (OSCHE, 1966, S.
846). Daher erscheint es durchaus plausibel, daß auch atavistische
Merkmale über geologische Zeiträume hinweg im Gensystem gehalten
werden, sofern die entsprechenden Gene in anderen Zusammenhängen gebraucht
werden.
Die Argumentation der Evolutionsgegner ist in diesem Punkt auch deshalb
inkonsequent, weil sie selbst eine ähnliche Argumentation gegen die
(leider auch heute noch allzuoft) von Evolutionsbiologen getroffene Feststellung,
es gäbe so etwas wie gänzlich "funktionslose" Rudimente und
Embryonalstadien, anstreben (vgl. z. B. JUNKER und SCHERER, 1998, S.
169 ff.). Wer auf der einen Seite fest darauf vertraut, daß
bislang noch nicht nachgewiesene Funktionen das Dasein bestimmter Keimstadien
im schöpfungstheoretischen Kontext "erklären" könnten,
der kann auf der anderen Seite, sobald evolutionstheoretisch argumentiert
wird, nicht all das wieder vergessen und die scheinbare "Funktionslosigkeit"
von Atavismen als Falsifikation der atavistischen Merkmals-Interpretation
werten!
Weiterhin wird die Tatsache, daß das Auftreten einiger Atavismen
als Folge einer gestörten Embryonalentwicklung (Ontogenese) verstanden
werden kann, gegen die evolutionstheoretische Interpretation aufgeboten.
So betont JUNKER, daß im Falle der atavistischen Hinterextremitäten
beim Wal: "(...) das Stehenbleiben auf einem
frühen embryonalen Stadium als Ursache für die Ausbildung von Atavismen
(...) wahrscheinlich [ist]. Damit wäre ein Rückgriff auf
stammesgeschichtliche Erklärung nicht erforderlich."
(JUNKER, 2002, S. 177). Im gleichen Sinne begreift
BLECHSCHMIDT zahlreiche Atavismen als das Resultat mehr oder minder
zufällig auftretender Variationen in der Ontogenese, als
"Grenzfälle des Normalen", die "(...) aus den ontogenetischen
Bedingungen vollständig verstanden werden", ohne daß eine
Reaktivierung evolutionär erworbener Muster angenommen werden müsse
(BLECHSCHMIDT, 1985; zitiert nach JUNKER, ebd., S. 171;
ähnlich JUNKER und SCHERER, 1998, S. 174).
Der Grund solcher Behauptungen ist, daß nicht erkannt wird, daß
es in der "Ursachenfrage" der Biologie zwei verschiedene
Erklärungsebenen gibt, die nicht miteinander verwechselt werden dürfen
(MAYR, 1964; OSCHE, 1982). BLECHSCHMIDT und JUNKER ist es zwar
gelungen aufzuzeigen, daß einige Atavismen
unmittelbar durch Störungen in der ontogenetischen Entwicklung
verursacht werden ("proximate cause"). Darüber wird aber offenbar
vergessen, daß die Entwicklungen nur innerhalb eines "genetischen Systems"
ablaufen können, das entweder die Potenz zur Bildung solcher Ahnenmuster
bereits enthält oder sie in der Keimesentwicklung rekapituliert.
Nach der Entstehungsursache des Gensystems und dessen Eigenheiten
wird hier aber gerade gefragt, so daß zu einem umfassenden
Verständnis der Formbildung auch "höhere" Ursachen
historischer Natur gehören ("ultimate causes"), die "(...)
durch das die Ontogenese steuernde genetische Programm gegeben [sind]
(...)", und historisch (selektionsgelenkt) entstanden sind
(OSCHE, 1982, S. 12).
An dieser Stelle müssen wir den Evolutionsgegnern konzedieren,
daß nicht ausschließlich Evolution, sondern auch Schöpfung
als "ultimate cause" infragekommen könnte, denn aufgrund
des Erkenntnisproblems fehlen hier die zwingenden Argumente. Das gilt aber
auch für alle anderen Wissenschaftsbereiche, und dieser Aspekt macht
wieder einmal deutlich, daß die Kontroverse nicht rein
erkenntistheoretisch geführt werden kann (wie dies zahlreiche
Antievolutioniten immerzu glauben), sondern daß sie sich immer auf
der Boden der Wissenschaftstheorie bzw.
Methodologie rückzubesinnen hat. Dabei gilt es in erster
Linie zu bedenken, daß das vorrangige Ziel der Wissenschaft darin besteht,
unverstandene Erscheinungen einer bestmöglichen
Erklärung zuzuführen (VOLLMER, 1985, S.
277). Eine Erklärung ist, um unseren Ausführungen vorzugreifen,
die Schöpfungstheorie aber nicht zu liefern imstande, so daß sie
auch nicht als wissenschaftliche Alternative in Betracht zu ziehen ist.
Da hilft es dem Evolutionskritiker zunächst einmal wenig darauf hinzuweisen,
daß Mißbildungen nur in "Ausnahmefällen" als Atavismen
interpretiert und erklärt werden könnten, weil in den meisten
Fällen einfach nur (als Folge einer "homöotischen Mutation") eine
im Organismus bereits vorhandene Struktur an einer anderen Stelle des
Körpers nochmals zur Ausbildung kommt. Als das Resultat solcher
Doppelbildungen könnten, so wird gemutmaßt, beispielsweise
die Hinterextremitäten der Wale und die überzähligen Seitenzehen
des Hauspferdes verstanden werden, wodurch sie natürlich sofort aus
der Gruppe der evolutionsbiologisch relevanten Atavismen ausgeschieden
wären:
"Sie [die Hinterextremitäten der Wale] lassen
sich (...) als mißgebildete 'Kopien' von Teilen der
Vorderextremitäten deuten. Daher ist es nicht zwingend, eingeschlafene
Gene zu postulieren, die 'versehentlich' reaktiviert werden und dadurch zum
Auftreten von Atavismen führen."
(JUNKER und SCHERER, 1998, S. 174)
Sicher ist, das sei unseren Kritikern zugestanden, die Unterscheidung zwischen
Atavismen und "bloßen Fehlern" oft schwierig, und so manch als Atavismus
geglaubtes Merkmal mag sich im Nachhinein als einfache Miß- und
Doppelbildung herausgestellt haben. Jedoch, auch das sei betont, bleiben
genügend signifikante Beispiele übrig, die unter die
evolutionshistorische Erklärung subsummiert werden können.
Bei aller berechtigten Kritik wird einfach nicht zur Kenntnis genommen, daß
die meisten der sogenannten"spontanen Atavismen" nur schwerlich
als Doppel- und Ersatzbildungen interpretiert werden können, wie RIEDL
meines Erachtens zurecht festgestellt hat (vgl. RIEDL, 1990, S.
284). Hier haben wir es nämlich nicht einfach nur mit "Kopien"
von im Organismus regulär an anderen Stellen schon vorhandenen
Phänmustern zu tun, sondern mit Merkmalen, die in zahlreichen Charakteren
derart aufeinander abgestimmte Veränderungen erfahren
haben, daß "sinnvoll" organisierte Strukturen, die bereits
bei den Ahnen der betreffenden Individuen in ähnlicher Weise realisiert
waren, zum Vorschein kommen.
Das vielleicht augenscheinlichste Beispiel eines spontanen Atavismus
ruht in der Mutante des dreizehigen Pferdes: Die zusätzlich
ausgebildeten Seitenzehen weisen nicht nur hinsichtlich der Knochenzahl,
der Gelenke und Insertionsstellen genau dieselben Verhältnisse auf,
wie man sie noch bei den fossil erhaltenen Pferdevorfahren vorfindet, auch
die zugehörigen Muskeln sind noch funktional und lagegerecht angeordnet
(RIEDL, a.a.O.). Man sieht hier, wie auch in vielen anderen
Fällen, daß zahlreiche Charaktere von bereits "ausrangierten"
Merkmalskomplexen struktur- und lagegerecht wieder zusammengetragen
werden.
Liefert das "Schöpfungsparadigma", so ist jetzt unter methodologischen
Gesichtspunkten zu fragen, eine wissenschaftliche Erklärung für
diesen merkwürdigen Befund? Kommt sie mit anderen Worten als
wissenschaftlich tragfähige Alternative zur Evolutionstheorie in Betracht?
Diese Fragen muß der Wissenschaftler aus folgenden Gründen verneinen:
Zum einen läßt sich, wie wir oben erörtert haben, nicht aus
den "entwicklungbiologischen Randbedingungen" heraus verstehen,
weshalb das epigenetische System just so "konzipiert" wurde, daß in
ihm die Potenz zur Bildung solch beeindruckender Strukturähnlichkeiten
enthalten ist (das epigenetische System kann ja nicht seine eigene
"Vorgeschichte" erklären). Und wer hier das Wirken eines
Schöpfers als Finalursache postuliert, hat die Frage nur auf
eine "höhere Ebene" ausgelagert, aber nicht überzeugend erklärt,
warum der Schöpfer die Möglichkeiten zur Bildung solcher
Ähnlichkeiten in das Gensystem "hineingelegt" und über geologische
Zeiträume hinweg bewahrt haben soll.
Auch der mögliche Einwand, daß der Kreator beim Erschaffen der
Arten eben auf bestimmte funktionale Zwänge Rücksicht zu nehmen
hatte, wodurch Systembedingungen entstanden sind, die die Potenzen zur
"atavistischen" Formbildung latent mit sich führen, liefert keine
Erklärung. Denn ein Schöpfer kann prinzipiell alles und muß
deshalb auch auf keine innerweltlichen Gesetze und Zwänge Rücksicht
nehmen, die - will man den Evolutionsgegnern Glauben schenken - ja von ihm
selbst eingerichtet worden sind!
Damit kommt dem Evolutionsgegner meines Erachtens nur noch der
Zufall zupaß, demzufolge die morphologischen
Übereinstimmungen einfach als das Resultat mehr oder minder wahllos
auftretender Variationen, eben als zufällige Entwicklungsstörungen
zu interpretieren sind, die keinen Sinn machen. Beim tieferen Nachdenken
scheidet aber auch diese Interpretation als Erklärung aus, denn:
"Wenn wir berechnen, mit welcher
Zufallswahrscheinlichkeit zu erwarten wäre, daß solche, den alten
Mustern ähnlichen Bildungen durch den Zufall zusammengefügt werden
könnten, wenn wir also die Mutationswahrscheinlichkeit mit der Anzahl
der abgestimmt veränderten Einzelmerkmale potenzieren, dann sehen wir
sofort, daß das Wirken des Zufalls ganz auszuschließen ist.
Tatsächlich kann man nur auf das Umschalten auf ein konserviert erhaltenes
altes Muster von Determinationsentscheidungen schließen."
(RIEDL, 1990, S. 308)
Wen das alles noch immer nicht überzeugt, der sei darauf hingewiesen,
daß es auch atavistische Merkmale gibt, deren Geschichte noch
offensichtlicher aus der Struktur rekonstruierbar ist. So kennt man
beispielsweise Kakteen mit atavistisch angelegten Blättern
und ohrenlose Robben mit atavistischen Ohrmuscheln. Daß
hier alte genetische Programme wieder in Betrieb genommen werden, legt die
Konstruktion nahe. Selbst JUNKER räumt ein, daß die
Schöpfungstheorie im Hinblick auf derartige Strukturen in
Erklärungsnöte gerät (JUNKER, 2002, S. 177).
Wie man es auch dreht und wendet, das Auftreten solcher Merkmale vermag nur
derjenige sinnvoll zu erklären, der die gemeinsame Stammesgeschichte
als wohlbestätigtes Faktum anerkennt. Deshalb kann aus
wissenschaftstmethodischen Gründen die Schöpfungstheorie nicht
als ernstzunehmende Alternative der Evolutionstheorie infragekommen.
_____________________________________________
Fußnote (*):
Insgesamt läßt sich feststellen, daß es der
Schöpfungsalternative unmöglich ist, die Realhistorie anhand
theoretischer Vorgaben zu rekonstruieren und das Resultat dann z. B.
paläontologisch oder biogeographisch abzustützen, wie dies den
Evolutionsbiologen gelungen ist. Daß es überhaupt so etwas wie
eine gewinnbringende Rückkopplung zwischen Schöpfungstheorien und
verschiedenen Wissenschaftsbereichen gibt, ist von Schöpfungstheoretikern
bislang noch nicht aufgezeigt worden. Das wäre aber dringend erforderlich,
um ihren heuristischen Wert und damit ihre Wissenschaftlichkeit unter Beweis
zu stellen (vgl. Kapitel Ia.1). Die Feststellung, daß
die Ergebnisse der vergleichenden Biologie und Paläontologie auffallend
oft miteinander korrespondieren, muß der Schöpfungstheoretiker
unerklärt zur Kenntnis nehmen.
Zweite, völlig neu bearbeitete Fassung (c) 05.04.2003
Last
update:
05.04.03
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(c) M. Neukamm, 30.08.2000