Voriges Kapitel          Nächstes Kapitel          Übergeordnetes Inhaltsverzeichnis            Homepage

V. Evolutionsbelege         

               

5. Die Biogenetische Grundregel

Neben dem Nachweis von Rudimenten und Atavismen spricht ein weiterer wichtiger Befund für die gemeinsame Stammesgeschichte des Lebens. Schon dem deutschen Naturforscher Ernst Haeckel ist die Ähnlichkeit zwischen bestimmten in der Keimesentwicklung (Ontogenese) auftretenden Intermediär-Stadien und bestimmten ursprünglichen Merkmalen ausgewachsener Individuen (Adultmerkmalen) aufgefallen.

So existieren beim ein Monate alten Säugetierembryo Kiemenspalten und Aortenbögen, die denjenigen des Hais entsprechen. In der während des siebten Monats auftretenden Lanugo-Behaarung beim Menschen spiegelt sich das dichte Haarkleid unserer äffischen Vorfahren wider. Die Plattfische liegen mit einer Seite dem Untergrund auf. Nase, Mund und Augen sind auf die andere, nach oben gerichtete Seite verlagert. Die Fischlarve ist jedoch bilateralsymmetrisch gebaut wie ein normaler Fisch und führt die Verlagerung erst nach dem Schlüpfen aus.                         

Haeckel fand in der Evolutionstheorie die Erklärung für derartige Erscheinungen und formulierte zwischen 1866 und 1869 dazu die "Biogenetische Grundregel", die besagt, daß die Keimesentwicklung als die auszugsweise Rekapitulation der Stammesgeschichte aufzufassen sei. Da nach der Evolutionstheorie stammesgeschichtlich ältere Gene in jedem Lebewesen schlummern, müssen einige davon während der Ontogenese reaktiviert werden. Dies führt zwangsläufig zur teilweisen Ausbildung fetaler und embryonaler Baupläne, die denjeniger niedrigerer Organisationsstufen und Formentypen homolog sind und spätestens bei den adulten Individuen wieder verschwinden.

Haeckel war allerdings schon bekannt, daß nicht jedes ursprüngliche Merkmal während der Keimesentwicklung rekapituliert wird, ansonsten hätte die Ontogenese immer mehr verlängert werden müssen. Außerdem müssen Stadien existieren, die als Eigenanpassungen des sich entwickelnden Organismus zu verstehen sind und im Adultstadium ihre Funktion verlieren. Somit ist zwischen Stadien zu unterscheiden, die Ausdruck der Rekapitulationsmorphogenese sind und solchen, denen keine Bedeutung in der historischen Forschung zukommt, weil sie fetale Sonderbildungen darstellen. Haeckel hat die homologisierbaren und damit evolutionsrelevanten Stadien als Palingenesen, die Eigenanpassungen als Känogenesen bezeichnet.

Riedl hatte schließlich für jene Organanlagen, die der weiteren Differenzierung bedürfen, den Begriff der Interphäne geprägt, die Endstadien in der Morphogenese bezeichnete er als Metaphäne. Die Homologie zwischen den embryonalen Interphänen und den adulten Metaphänen ist Ausdruck der Rekapitulationsgeschichte und ein Beleg für eine gemeinsame genetische Information, die historisch geworden ist.  Die entsprechenden Adultmerkmale zeichnen sich durch eine ausgeprägte Homologie zu den embryonalen Interphänen aus. Je früher das Interphän in der Ontogenese auftritt, desto ursprünglicher ist meist auch das ihm homologe Metaphän der Adultform. Damit wird die "Lesrichtung" in der Stammesgeschichte deutlich, so daß die Biogenetische Grundregel für die historische Evolutions- und Phylogeneseforschung oft wertvolle Hinweise liefert.

Die Tatsache jedoch, daß komplexe ontogentische Stadien im Bauplan adulter Tiere oft keine Entsprechung finden, hat zu einer umfassenden Kritik an der Haeckelschen Grundregel geführt, deren Tragweite bis heute noch Gegenstand der Diskussion geblieben ist. Es zeigt sich aber, daß die Biogenetische Grundregel bis heute Gültigkeit besitzt, sofern man bestimmte Einschränkungen und Regeln beachtet, die NAEF, 1917, 1931 in seinem "Gesetz der konservativen Vorstadien" zum Audruck brachte:

Danach müssen Rekapitulationsmorphogenesen auf einzelne Organe beschränkt werden. Komplexe Ontogenesestadien sind nicht vergleichbar, weil sich unterschiedliche Strukturelemente verschieden schnell entwickeln (Heterobathmie). Außerdem können die einzelnen Organmorphogenesen zeitverschoben auftreten, so daß komplexere Strukturen keine Rekapitulation mehr zeigen und sich als Eigenanpassungen der Jugendstadien etabliert haben. Natürlich können auch Känogenesen Rekapitulation zeigen, wie alles, was eine gemeinsame Phylogenese durchgemacht hat. Sie sind miteinander allerdings nur stadiengerecht vergleichbar, nicht mit Adultmerkmalen. 

                                                           

Die Biogenetische Grundregel ist, allen Unkenrufen zum Trotz, in dieser eingeschränkten Form gültig geblieben. KÄMPFE, 1992 schreibt dazu:

"Unter Beachtung der erforderlichen Voraussetzungen behält die biogenetische Grundregel ihre Rolle, im Rahmen einer synthetischen Betrachtung Indizien für die Rekonstruktion von Phylogenesen beizubringen, weil sie auf dem Prinzip der Historizität und des Homologie-Vergleiches fußt. Darin und in den durch ihre Formulierung ausgelösten Forschungsimpulsen besteht ein wesentliches Verdienst Haeckels."

                                                                                       

5.1     Die Biogenetische Grundregel und der Entwicklungsstrukturalismus (Blechschmidt)

Der Entwicklungsstrukturalismus ist ein theoretischer Ansatz in der Entwicklungsbiologie, der zum Ziel hat, universell gültige "Form-" und "Transformationsgesetze" zu finden um die morphologische Entwicklung der Lebewesen zu beschreiben und zu erklären. Organismen werden in diesem Kontext als Systeme begriffen, die durch Feldgleichungen beschreibbar seien. Diese Form der Beschreibung ist eine makroreduktionistische, welche die Relevanz von den elementaren Entwicklungsfaktoren (Genen) in der Morphogenese zurückdrängt oder gar leugnet. Sie strebt vielmehr eine ganzheitliche (wiewohl aber keine systemische!) Beschreibung des Entwicklungsgeschehens an, in der nicht der historischen Kontingenz einer gemeinsamen Stammesgeschichte die Rolle des kanalisierenden Faktors zufällt, sondern bestimmten, sich in "Stoffwechselfeldern" manifestierenden Formgesetzen. Damit ist klar, daß dieser Ansatz von den Kreationisten favorisiert wird, weil er keine historischen Bezüge herstellt (S. 183):

                                                                           

Die Autoren: Blechschmidt habe zeigen können, daß für die Ontogenese die Voraussetzung der Phylogenese nicht benötigt würde, um sie zu verstehen. Die arttypische Formbildung im Verlauf der Ontogenese führte Blechschmidt auf differenziert agierende Stoffwechselfelder zurück.

                                                           

Der Entwicklungsstrukturalismus ist jedoch in dieser Form sehr kritikwürdig und von zahlreichen Entwicklungsbiologen stark angegriffen worden (siehe dazu Mahner und Bunge, 2000). Zum einen ist hervorzuheben, daß er keine mechanismische Beschreibung der Morphogenese liefert, insbesondere keine, die sich auf das epigenetische System bezöge. Statt dessen wird eine rein mathematische Feldbeschreibung der Morphogenese als theoretisch hinreichend erachtet. Abgesehen von dem phänomenologischen, also rein deskriptiven Charakter einer solchen "Theorie", der jeder Mechanismus fehlt, existiert bis heute nicht einmal eine feldtheoretische Beschreibung der Morphogenese. Es ist bislang weder die Formulierung entsprechender Feldgleichungen gelungen (welche die Feldintensitäten mit den Dichten der Feldquellen in Beziehung setzten), noch die Ausarbeitung von Bewegungsgleichungen oder Kräfteformeln. Selbst wenn es gelungen wäre, in Anlehnung an die Physik entsprechende Feldgleichungen zu erstellen, wäre damit aber noch keine konsistente Beschreibung des Entwicklungssystems erreicht. In der Morphogenese spielen nämlich Zusammensetzung des epigenetischen Systems und Organismus-Umwelt-Beziehungen eine gewichtige Rolle, die die Entwicklung kanalisieren und steuern. In den "formbildenden Kräften" können diese Faktoren jedoch keine Berücksichtigung finden, weil sie den materiellen Systemen vorgelagert (ante res) sind.

Der Makroreduktionismus im entwicklungsstrukturalistischen Ansatz ist hingegen viel zu allgemein, um noch irgend etwas Interessantes über die spezifischen Details in der Morphogenese auszusagen. Aus diesem Grunde wird in der Entwicklungsbiologie heute anstelle eines entwicklungsstrukturalistischen Ansatzes ein entwicklungskonstruktionistischer favorisiert, der die Ontogenese aus konsequent epigenetischer Sicht und damit systemisch erklärt (vgl. etwa Lewontin, Gray, Griffiths, Waddington u.a.).  

                                                        

5.2     Der Entwicklungskonstruktionismus

Wir haben in Kapitel III. in unseren Ausführungen über die Systemtheorie der Evolution bereits zu den Abläufen in der Ontogenese Stellung bezogen und dabei einen entwicklungskonstruktionistischen Ansatz gebraucht, der die Morphogenese aus systemisch-epigenetischer Sicht erklärt. Rekapitulieren wir kurz:

                     

Die Morphogenese ist als ein komplexer Systemprozeß verstehbar, in dem alle Gene in regulativer Wechselwirkung stehen. Die Gesamtheit dieser genetischen Wirkbeziehungen wurde von Riedl als "epigenetisches System" bezeichnet, welches alle Stoffwechselprozesse bedingt und damit (nach Waddington) die Struktur der "epigenetischen Landschaft" prägt. Im Stoffwechsel übernehmen bestimmte Substanzen die Rolle von Genaktivatoren, die in bestimmten Zellen bestimmte Gene anschalten und so die Zelldifferenzierung steuern. Die Zellen gewinnen damit, metaphorisch gesprochen, "Lageinformation", differenzieren sich zu bestimmten Zelltypen, deren charakteristische Stoffwechselprodukte wiederum die Differenzierung anderer Zellen sowie eine Strukturierung zu Organen beeinflussen und steuern.   

                                                                          

Damit organisieren sich die Organismen quasi "aus sich selbst heraus" und nicht, wie im Entwicklungsstrukturalismus, aufgrund extern wirkender Formgesetze. Vielmehr lenkt die Gesamtheit aller (durch das epigenetische System bedingten) Stoffwechselprozesse die Morphogenese in vorgegebene Bahnen und steuert damit gleichermaßen die Formbildung. Daraus folgt, daß sich auch äußere Beeinflussungen der epigenetischen Landschaft (etwa durch Umwelteinflüsse oder Gifte) auf den Entwicklungsprozeß auswirken und die Morphogenese beeinträchtigen müssen. Wir sehen, daß die Rolle der Organismus-Umwelt-Interaktion nur in einem systemischen, epigenetischen Entwicklungsmodell eine angemessende Würdigung erfährt.

Was für Folgerungen ergeben sich aus diesem Ansatz nun für die Entwicklungs- und Evolutionstheorie? 

                                                                                         

                                                                                   

Zusammenschau:

(1) Im Entwicklungskonstruktionismus streng epigenetischer Prägung sind Ähnlichkeiten in den Ontogenesestadien Ausdruck historischer Kontingenz.

(2) Ein Entwicklungsstrukturalismus bleibt hingegen in der Embryologie fruchtlos, weil er nichts mechanismisch beschreibt und nichts erklärt. Damit ist auch der "Erklärungsansatz" Blechschmidts obsolet. 

(3) Daraus folgt: Ontogenesen können nur epigenetisch erklärt werden, wodurch Bezüge zur Stammesgeschichte herstellt werden. Anders ausgedrückt: Die Keimesentwicklung sowie die in ihr in Erscheinung tretenden Intermediärstadien sind außerhalb eines entwicklungsgeschichtlichen Rahmens nicht verstehbar, weil die charakteristischen Homologien auf ähnliche epigenetische Systeme und damit Entwicklungskanäle hindeuten, die historisch geworden sind.

(4) Auf der anderen Seite ist wiederum die Evolution ohne entwicklungsbiologische Aspekte nicht hinreichend zu begreifen, weil das epigenetische System und seine "Landschaft" für die Übersetzung genetischer in phänotypische Faktoren verantwortlich ist. Damit zeichnet sich erstmals die Chance einer Vereinheitlichung entwicklungs- und evolutionsbiologischer Theorien auf dem Felde einer konsequent systemischen Beschreibung der Entwicklungsvorgänge ab. 

                                                                                                                                    

Mithilfe der epigenetischen Betrachtung läßt sich auch ein weiterer Einwand unserer Autoren entkräften, der gegen die biogenetische Grundregel Haeckels aufgeboten wird:

                                                                            

Die Autoren: Die als Rekapitulation gedeuteten Entwicklungen würden zu Unrecht als "Umwegentwicklung" bezeichnet, weil beim "gegenwärtigen Stand der Forschung" jeder scheinbar funktionslosen Embryonal- bzw. Fetalstruktur eine wichtige Funktion zugewiesen werden könne. Derartige Strukturen könnten daher ebenso als "Konstruktionsprinzipien eines gemeinsamen Schöpfers" angesehen werden.

                                                                                                                                                 

Die Feststellung, palingenetische Strukturen seien funktional, läuft auf eine Banalität hinaus, und man darf fragen, was damit als widerlegt oder bewiesen gilt. Natürlich müssen ontogenetische Stadien im Organismus harmonieren und dürfen die Fitneß des Individuums keinesfalls negativ beeinflussen. Die intermediären Stadien sind ja im Entwicklungskonstruktionismus Ausdruck von latent vorhandenen "Entwicklungskanälen", die stammesgeschichtlichen Ursprungs sind. Weil die anzestralen Formen keine "unfertigen" Lebewesen waren, müssen auch intermediär auftretende Organe und Baupläne im Rahmen der Ontogenese ihren Nutzen haben.

                                                                                                                                                            

5.3     Die Biogenetische Grundregel im Licht der modernen Allometrieforschung

Bereits vor über vierzig Jahren konnte ein neu aufgekommener Forschungszweig gewichtige Indizien für die approximative Gültigkeit der Biogenetischen Grundregel erbringen, der den folgenden Einwand des Antievolutionismus entkräftet:

Die Autoren: Im Rahmen der Rekonstruktion der Evolution würden widersprüchliche und wenig stichhaltige Aussagen gemacht. Der naturwissenschaftliche Beweis für die Verknüpfung zwischen Ontogenese und der "hypothetischen" Stammesgeschichte sei bis heute nicht erbracht!

                                                                    

Tatsächlich gelang es den Evolutionsbiologen um Gerhard Heberer, in der modernen Allometrieforschung nachzuweisen, daß sich in der Keimesentwicklung der Lebewesen morphologische Details aus entsprechenden Vorfahrenlinien wiederspiegeln. Die Allometrieforschung bedient sich des Größenvergleichs von Organen und morphologischen Strukturen bei heute lebenden Artengruppen und ihren (mutmaßlichen) fossilen Vorfahren. Die paläontologisch dokumentierten Größenveränderungen und die damit verbundenen Proportionsänderungen der Organe in der Phylogenese können mit den während der Keimesentwicklung (Ontogenese) auftretenden Größen- und Proportionsänderungen verglichen und mit Hilfe von Allometrieformeln in einen klaren Zusammenhang gestellt werden. Besonderes wertvolle Beiträge konnte die Allometrieforschung für die Aufklärung der Evolution der Haustiere leisten.

                     

Es hat sich gezeigt, daß die Allometrie-Beziehungen in der Ontogenese des Hauspferds, gemessen am Wachstum des Gesichtsschädels im Verhältnis zum Gesamtschädel sowie die entsprechenden Größenverhältnisse in der phylogenetischen Reihe von Hyracotherium bis Equus nahezu gleich sind. Mit anderen Worten: Das Größenverhältnis des Gesichts- zum Gesamtschädel sowie dessen zeitliche Änderung ist in Ontogenese und Phylogenese fast dasselbe.

(vgl. KÄMPFE, 1992 aus HEBERER, 1959)

           

Wir haben es hier also mit einer praktisch quantitativen Entsprechung der Größenverhältnisse zwischen Gesichts- und Gesamtschädel in der gemutmaßten Phylogenese und Ontogenese zu tun, vor allem hinsichtlich der zeitlichen Entwicklung. Die hohe Korrelation beider Entwicklungsverläufe gilt heute als ein starker Beleg für die Richtigkeit der Annahme Haeckels und dafür, daß eine historische Entwicklung (Phylogenese) stattgefunden haben muß. Zufällige Übereinstimmungen sind hier aus Wahrscheinlichkeitsgründen auszuschließen, wir finden die Erwartungen der Theorie Haeckels in vollem Umfange bestätigt.

                                                                                        

Tatsächlich läßt sich aus Sicht der Schöpfungsgeschichtler für die oftmals auftretenden Übereinstimmungen in der zeitlichen Änderung morphologischer Größenverhältnisse keine plausible Erklärung finden. Sie sind gezwungen, auf beliebige "Erklärungen" auszuweichen, die auf den "unergründbaren Rattschluß des Schöpfers" Bezug nehmen, mangels Prüfbarkeit in der Wissenschaft jedoch keinen Raum beanspruchen können. Diese Befunde entsprechen jedoch ganz den Erwartungen der Evolutionstheorie, weil sie sich in ihren hypothetico-deduktiven Rahmen eingliedern lassen bzw. aus ihren Postulaten logisch folgen. Dieser Umstand spricht einmal mehr für einen biohistorischen Prozeß und damit für transspezifische Evolution.                                                                                    

Allometrische Übereinstimmungen zwischen der Ontogenese und der ihr mutmaßlich entsprechenden Phylogenese können nicht zufälliger Natur sein und belegen die approximative Richtigkeit der Biogenetischen Grundregel, die in der Ontogenese die auszugsweise Rekapitulation der Phylogenese sieht.                   

       

                                                                            

6. Rudimentäre Organe

Bei nahezu allen Spezies existieren (nach dem Kriterium der Lage und dem Kriterium der Kontinuität) funktionslose oder aber funktionsabgewandelte homologe Pendants zu Organen und Strukturen verwandter Taxa, die jedoch bereits mehr oder weniger stark zurückgebildet sind. Diese Rückbildungen bezeichnet man als Rudimente. Rudimente sind, ganz gleich wo sie auftreten, Relikte eines historischen Prozesse, gewissermaßen "Anpassungen von gestern". Daher sind sie auch im Bereich der kulturellen und technischen Evolution des Menschen zu finden.

                                                            


Beispiele aus der Technik: Rudimente in der Mode, z. B. Knopflöcher im Rever, zu denen gar keine Knöpfe mehr existieren. In der Technik: PKWs mit Trittbrettern, die nur als Überbleibsel aus der Kutschenzeit aufzufassen sind. Auch der militärische Gruß ist das Rudiment einer im Mittelalter üblichen Verhaltensweise, die heute noch das Hochklappen des Visiers der Ritterrüstung andeutet.

                                                                           

All diese Beobachtungen in der Biologie und Technik stimmen mit dem opportunistischen Funktionsprinzip der Evolutionstheorie überein, sie folgen also logisch aus den Grundaussagen der Evolutionstheorie und entsprechen damit ihren theoretischen Erwartungen. Deshalb fußt in der Existenz von Rudimenten ein echter Beleg für Evolution.

                                                                     


Beispiele aus der Biologie: Pythonschlangen haben Reste des Beckens und der Hinterextremität im Körper behalten. Anderen Schlangen fehlen selbst solche Reste völlig. Auch die Wale haben die Hinterextremität und das Becken bis auf ein Rudiment zurückgebildet; deren Knochenrudimente liegen im Körper verborgen. Bei einer Reihe von Schleichen findet man die verschiedenen Rückbildungsstufen der Extremitäten. Die Walzenschleiche verfügt über 5 Zehen, die Marokkanische Schleiche nur noch über 4, die Erzschleiche lediglich über 3 Zehen. Die Syrische Schleiche verfügt über lediglich eine Vorderextremität, die als einzehiger Stummel rudimentär vorhanden ist. Beim Menschen findet man das Haarkleid ohne nennenswerte Funktion, welches das Rudiment einer ursprünglich reichen Behaarung unserer stammesgeschichtlichen Vorfahren darstellt. Auch die Ohrmuskulatur und das Steißbein sind Beispiele für Rudimente. (vgl. OSCHE, 1979)

                                                                                                                                                                 

Die Hypothese, daß die rudimentären Organe rezenter Vertreter einst primordiale Aufgaben übernommen haben bzw. bei Organismen verwandter Taxa heute noch übernehmen, welche bei ihren Besitzern bestenfalls in Gestalt von Restfunktionen sichtbar sind, kann durch taxonomische Merkmalsvergleiche vielfach belegt werden. Bei verwandten Taxa oder aber extinkten Formen (Fossilienreihen) ist das entsprechende Organ nämlich häufig noch in seiner ursprünglichen Struktur ausgebildet. Ungeachtet dieses Umstandes, vertreten die Autoren auf S. 170 ihres Buches eine dezidiert andere Meinung:

                                          

Die Autoren: Das Argument der Funktionslosigkeit sei fraglich, da Funktionslosigkeit kaum empirisch belegbar sei. Die Naturwissenschaft sei immer nur in der Lage, Funktionen noch nicht gefunden zu haben. Außerdem konnte man Funktionen einiger Rudimente aufklären: So seien die Klauen der Python hilfreich bei der Bewegung der Schlangen im Geäst, die Extremitätenknochen der Wale dienten als Ansatzstellen für die Muskulatur etc.

                                 

Nun ist es richtig, daß rudimentäre Organe vielfach Restfunktionen übernehmen, deren essentieller Charakter jedoch verlorengegangen ist. Tatsächlich können Pythons auch ohne Afterklauen leben, ein Mensch kommt problemlos ohne Blinddarm, Mandeln, Haare oder eine Nickhaut aus, obgleich gewisse Rudimentär-Funktionen nachgewiesen worden sind. Sie haben aber in jedem Falle ihre Primärfunktion ganz oder aber in erheblichem Maße eingebüßt, was taxonomisch gezeigt werden kann.

So lassen sich etwa die Skelettrudimente der Grönlandwale sowie die Extremitäten der landlebenden Wirbeltiere aufgrund ihrer Homologisierbarkeit als "grundbauplangleich" erkennen. Oberschenkel-, Schien- und Wadenbein, sowie ein Fußknochen sind noch deutlich, wenn auch sichtlich zurückgebildet, nachweisbar (OSCHE, 1979). Auch weniger gut erkennbare Homologien (z.B. bei anderen Walen) sind nach dem Kriterium der Lage eindeutig als solche zu erkennen. Dasselbe trifft etwa auch auf die Pythonknochen zu. (OSCHE, 1979).

Die Argumentation der Autoren ist jedoch noch in einer anderen Hinsicht problematisch, lautet ihre These doch wie folgt:

                                       

"Die Evolutionstheorie ist nicht belegbar, da Rudimente möglicherweise - im Gegensatz zur Theorie - eine Funktion übernehmen könnten."

                                                                                            

Wie die Autoren jedoch bemerken, sei "Funktionslosigkeit nicht empirisch belegbar", das heißt mit anderen Worten: Die Hypothese der "funktionalen Rudimente" ist nicht falsifizierbar; wir haben es also mit einer unwissenschaftlichen Aussage zu tun! Der antievolutionistische Einwand ist damit nicht prüfbar und hat einzig die Funktion, ihr Schöpfungs-Paradigma gegen Falsifikation zu immunisieren. Statt dessen wird versucht, durch Inversion der Aussage (Die These der "Funktion von Rudimenten" ist nicht falsifizierbar -> Die These der "Funktionslosigkeit von Rudimenten" ist nicht beweisbar) die Begründungspflicht umzukehren.

                                                                                           

Mit anderen Worten: Nun müssen mit einem Male scheinbar nicht mehr die Antievolutionisten ihren Einwand begründen oder dessen Falsifizierbarkeit aufzeigen, sondern die Evolutionstheoretiker sollen ihr Hypothese, die aus der Evolutionstheorie deduziert und hypothetico-deduktiv durch die Beobachtungen belegt worden ist, in streng logischem Sinne "beweisen" (obgleich dies angesichts der Nichtfalsifizierbarkeit des Einwandes ausgeschlossen werden kann). Damit hat dieser Einwand wieder einen empiristischen Bezug, so daß wir ihn als wissenschaftstheoretisch unbegründet einstufen können (vgl. dazu Kapitel I. sowie MAHNER und BUNGE, 2000).

                                                                                              

Die Unbrauchbarkeit dieser Argumentationsstrategie in der Wissenschaft wollen wir anhand zweier einfacher Beispiele verdeutlichen. Die Logik der Antievolutionisten ist vergleichbar mit derjenigen, die hinter den folgenden Aussagen steckt:

                                                            

                                                                           

Ein ganz anderer Gesichtspunkt ist die Tatsache, daß selbst die (neue) Funktion eines Rudiments evolutionstheoretisch zu erwarten ist, da sie opportunistisch wirkt und daher rudimentären "Anpassungen von gestern" im Laufe der Zeit wieder neue Adaptationen zuschreibt. Evolution bedient sich immer der vorliegenden Ressourcen und stattet daher im Laufe der Zeit Rudimente mit neuen Funktionen aus.

                                                                                  

Nach Auffassung der Autoren sollen logisch nichtfalsifizierbare und theoretisch unbegründbare Einwände nicht nur nicht ungültig sein, sondern unter Abwandlung in eine logische Konfusion gar gegen die Theorie sprechen können! Eine solche Argumentationskette ist jedoch unseriös und pseudowissenschaftlich.

                                                   


Voriges Kapitel          Nächstes Kapitel          Übergeordnetes Inhaltsverzeichnis            Homepage

Copyright by Martin Neukamm, 30.08.2000             Alle Rechte vorbehalten.                          GOWEBCounter by INLINE

Zweite, völlig neu bearbeitete Fassung (c) 07.09.2001