Evolution im Experiment: Bakterien, Resistenzen, neue Gene

Über Evolutionsexperimente, Antibiotika-Resistenzen und die Entstehung neuer Funktionsgene

Eine Diskussion und Erwiderung auf die Replik des Dr. W.-E. LÖNNIG zu meinem Beitrag zum  "LEDERBERGschen Stempelversuch" (1) (2)

                                                                                    

A. Einführung: Wissenschaft und Glaube

B. Zusammenfassung

C. Hauptteil: Evolution im Experiment 

1. Ist das Evolutionsgeschehen beschränkt ("rekurrent variabel")?

2. Über die Entstehung neuer Funktionsmoleküle (*)

3. Die Methodologie im Kreationismus - Wie funktioniert Wissenschaft?   

4. Die Diskussion mit der Wahrscheinlichkeit             

D. Nachbetrachtung

E. Literatur

F. Anmerkungen   

G. Nachträge                             

1. Was ist ein "wirklich neues" Gen?

2. Mikro- und Makroevolution

                                                                                           

A. Einführung: Wissenschaft und Glaube

Nachdem Darwin seinen Gedanken von der selektionierten Veränderlichkeit der Arten der Öffentlichkeit präsentiert hatte, erkannte man im Laufe der Zeit, daß eine Vielzahl an Naturbeobachtungen erst im Licht der Evolutionstheorie befriedigend erklärt werden kann. Die ursprüngliche Theorie wurde sukzessive zum Neodarwinismus und zur Sythetischen Theorie der Evolution ausgebaut, die Beiträge aus praktisch allen biologischen Disziplinen zusamenführt. Mit der Formulierung der Systemtheorie der Evolution (RIEDL) und der Synergetischen Theorie der Evolution (LORENZEN) fand diese Entwicklung ihren vorläufigen Abschluß, und es gelang im Zuge des wissenschaftlichen Fortschritts die vorhandenen Probleme der Synthetischen Theorie der Evolution besser zu lösen.

Dem evolutionstheoretischen Entwicklungsgedanken wurde und wird bis heute jedoch aus zumeist religiös-fundamentalistischen Gründen ein erheblicher Widerstand entgegengebracht. Die (im weitesten Sinne) als Kreationisten bezeichnete Gruppierung hat zum Ziel, anstelle der wissenschaftlichen Entstehungstheorie diverse Schöpfungsvorstellungen im Wissenschaftsgefüge zu etablieren und die Erkenntnisstrategie der Wissenschaft gegen einen erkenntnistheoretisch fragwürdigen "god of gaps" einzutauschen. Selbst einige renommierte Wissenschaftler, ja gar manche promovierte und habilititerte Biologen sind zu den Kritikern an der Evolutionstheorie zu zählen. Dies trifft auch auf den Mutationsgenetiker Dr. LÖNNIG zu, der in einer ungewöhnlich scharfen Philippika zu meinem Beitrag über den LEDERBERGschen Stempelversuch und seinem evolutionstheoretischen Wert Stellung bezogen hat.

Nun ist es im Interesse der Wissenschaft angebracht, die Werke antievolutionistischer Biologen eingehend zu besprechen und die Dinge im Sinne der Fachwelt und der Methodologie des praktischen Wissenschaftsbetriebs richtig zu stellen. Dies geschieht nicht deshalb, weil sie für die Wissenschaft von besonderem Wert wären. Allein der Stellung des Verfassers als promovierter Biologe sowie das Renommee der gegen die Evolutionstheorie voreingenommenen Universitätsprofessoren zwingt uns dazu, diesen Werken Beachtung zu schenken und die in ihnen propagierten Behauptungen zu widerlegen. Denn es ist bis in weite Kreise der Bevölkerung die Kunde gedrungen, daß hochgeachtete Biologen die Evolutionstheorie ablehnen. Jeder denkt sich: Ein promovierter Biologe lehnt die Evolutionstheorie ab, also muß er ernste Sachverhalte dagegen einzuwenden haben. Das Publikum ist leider selten imstande zu erkennen, daß es sich hier weniger um sachliche, sondern in aller Regel um methodologische Einwände gegen die Evolutionstheorie handelt, die auf Kriegsfuß mit der hypothetisch-schlußfolgernden Erkenntnisstrategie der Wissenschaft stehen und sich daher von den Einschätzungen der Fachwelt unterscheiden.

Den Unterschied zwischen methodologischer und sachlicher Gegnerschaft zu durchzudenken, wird man den wenigsten Lesern abverlangen können. Denn, so fragte schon der Evolutionsbiologe TSCHULOK vor 80 Jahren (im Hinblick auf die Attacke des Universitätsprofessoren FLEISCHMANNs gegen den Evolutionsgedanken), "wie soll man weiteren Kreisen so viel methodologische Einsicht beibringen, wie wir sie bei den Antievolutionisten selbst vermissen?" (TSCHULOK, 1922, S. 273). Wenn sie die Einsicht eines Normalwissenschaftlers gehabt hätten, davon darf man überzeugt sein, wären die antievolutionistischen Schriften nicht zustandegekommen.

Die wissenschaftliche Besprechung der methodologischen Irrtümer im Antievolutionismus soll hier am Beispiel von LÖNNIGs Replik gegen meinen Essay zum "LEDERBERGschen Stempelversuch" geschehen (1) (ich selbst werde von LÖNNIG mit dem Kürzel "N.N." bedacht).

                                                      

B. Zusammenfassung

Im Zentrum des Antievolutionismus steht die Behauptung, daß evolutive Neuheiten grundsätzlich nicht entstehen können. Das evolutive Geschehen beschränke sich auf die Ausschöpfung eines festgelegten Variations-Reservoirs, das immer wieder zu denselben Mutantentypen führt ("rekurrente Variation"). Entsprechend wird behauptet, das Variationspotential sei zwar groß aber letztendlich beschränkt, Höherentwicklung wird generell ausgeschlossen.

In diesem Essay wollen wir zeigen, daß empirische Belege existieren, welche die obige Behauptungen infrage stellen. Sie legen nahe, daß die "rekurrente Variation" kein unüberwindbares Naturgesetz darstellt. In der Tat gibt es Befunde, die zeigen, daß die Wiederholbarkeit des Mutationsgeschehens verschwinden kann, sobald man sich kleine "Gründerpopulationen" an neue Lebensbedingungen anpassen läßt, ganz so, wie es in der evolutionstheoretischen Vorstellung vom Punktualismus postuliert wird (siehe Haupttext). Ferner gibt es eine Fülle von Daten, die belegen, daß neue Gene und Funktionsproteine eben doch entstehen und entstehen können. Alles in allem wollen wir demonstrieren, daß die Experimentalresultate mit der Evolutionstheorie kompatibel sind und als deren Stütze herangezogen werden können.

Allerdings sind reine Beobachtungen niemals "Tatsachen" an sich. Die Beobachtung etwa, daß die Form der Kontinente unveränderlich bleibt, ist beileibe keine Tatsache, denn sie ist das Resultat unserer beschränkten raumzeitlichen Erkenntnisfähigkeit, die es durch Theorienbildung zu überwinden gilt. Entsprechend gilt es zu zeigen, daß dasselbe für die rekurrente Variation gilt. Beobachten und Theoretisieren gehen in der Wissenschaft immer Hand in Hand, ja viele Beobachtungen bleiben grundsätzlich unverstanden, wenn sie nicht im Lichte einer erklärungsmächtigen Theorie erhellt werden. Wer ein solches Vorgehen als "unwissenschaftliche Vermischung von Tatsachen und Deutungen" anprangert, der hat nicht verstanden, wie Wissenschaft überhaupt funktioniert.

Um grundlegenden Mißverständnissen vorzubeugen: Wir behaupten damit weder, daß die Experimente eine Höherentwicklung von Organismen beweisen (1) ("Makroevolution"; wobei dieser Begriff allerdings umstritten bleibt - siehe Nachtrag), noch wird festgestellt, daß alle Hauptfragen der Bioevolution mithilfe der Synthetischen Theorie der Evolution vollständig beantwortet werden können und beantwortet wurden. Wenn dem so wäre, könnten wir alle weitere Forschung (insbesondere im Bereich der Entwicklungsbiologie und Systemtheorie der Evolution) ruhen lassen. Es ist auch nicht beabsichtigt festzustellen, daß die Experimentalresultate vollständig auf die Evolution höherer Organismen übertragen werden können und die Bildung neuer Genwirkketten und Merkmalssysteme befriedigend erklärt werden kann.

Hervorzuheben ist jedoch, daß all dies aufgrund raumzeitlicher Beschränkungen sowie aufgrund der Unvollständigkeit der Theorien weder möglich noch in der hypothetisch-schlußfolgernden Methode der Wissenschaft überhaupt nötig ist. Es soll gezeigt werden, daß die im Antievolutionismus unablässig repetierte Forderung nach "experimentellen Beweisen" für Höherentwicklung auf einem methodologischen Grundirrtum beruht, denn auch die Erkenntnisgegenstände anderer Wissenschaften (Atome, Elementarteilchen, schwarze Löcher, heliozentrisches Planetensystem usw.) sind nicht durch naive Beobachtung sicher "beweisbar" (einmal ganz davon abgesehen, daß Antievolutionisten ihre Forderung nach "experimenteller Beweisbarkeit" auf ihr eigenes Modell anwenden mögen).

Bezeichungen wie "richtig", "falsch" oder "beweisbar" sind in allen empirischen Wissenschaft deplaziert. Worauf es der Wissenschaft ankommt, ist zu zeigen, daß die Beobachtungen den theoretischen Erwartungen entsprechen. In der Schöpfungsalternative gibt es jedoch keine spezifischen Erwartungen, weil sich jeder Befund (er kann aussehen wie er will) mit Schöpfung vereinbaren läßt. Der Schöpfungsgedanke ist nicht logisch falsifizierbar und daher unwissenschaftlich. Auf der anderen Seite wollen wir zeigen, daß unzählige Daten existieren, die für Höherentwicklung sprechen.

                                                          

C. Hauptteil: Evolution im Experiment

 In wieweit stützen die Ergebnisse der Evolutionsexperimente mit Bakterien den Evolutionsgedanken?

                                       

1. Ist das Evolutionsgeschehen beschränkt ("rekurrent variabel")?

In den letzten Jahren konnte gezeigt werden, daß die Anzahl der in Experimenten erhaltenen, unterscheidbaren Mutanten mit steigender Anzahl von Mutationsversuchen gegen eine Obergrenze strebt. Das bedeutet, daß bestimmte Mutanten häufig wiederkehren und viele, die theoretisch denkbar wären, gar nicht nachgewiesen werden können. Dieses Phänomen der "Begrenzung" der Mutantenzahl sowie des Wiederkehrens bestimmter Mutanten wurde von LÖNNIG als "rekurrente Variation" bezeichnet. Kurzum:

Im Zentrum von LÖNNIGs Argumentation gegen die Evolutionstheorie steht die Hypothese von der "rekurrenten Variation", das bedeutet, es wird von der grundsätzlichen Beschränktheit allen Mutationsgeschehens ausgegangen und als Begründung für die Ablehnung der Evolutionstheorie herangezogen.

LÖNNIG verweist dabei etwa auf die Experimente der von mir zitierten Autoren RAINEY und TRAVISANO, 1998, die eine Wiederholbarkeit der Mutantentypen beobachtet haben und schreibt:

W.-E. L. (1):

"(...) Die Rekurrenz ist eine Tatsache, die die Autoren zum einen selbst betonen und zum anderen aus der beschränkten Genzahl und den (zumal in der Zeit) möglichen Punktmutationen direkt ableitbar ist."

                   

Diese erste Aussage enthält gleich drei wissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Fehler: Erstens sitzt LÖNNIG einem populären Irrtum auf, denn er wirft die Begriffe "Beobachtung" und "Tatsachen" durcheinander. Beobachtungen sind entgegen der populären Auffassung keine Tatsachen, sondern Daten, und als solche immer theoriegeleitet und fehlbar. Die Beobachtung etwa, daß sich die Sonne um die Erde dreht oder die Unveränderbarkeit der Kontinente sind (naive) Beobachtungen, beileibe aber keine Tatsachen, weil die Wissenschaft ja die Aufgabe hat, das hinter der naiven Erfahrung unbeobachtbare Faktum zu erforschen, das durch Theorienbildung erschlossen wird. Die Theorien der Kontinentaldrift und die vom heliozentrischen Weltbild stellen aber die vermeintlichen "Erfahrungstatsachen" geradezu auf den Kopf.

Nach dem berühmten Wissenschaftstheoretiker Karl POPPER ist die Annahme des Induktivismus (der Methode des logischen Empirismus) irrig, Beobachtungen seien frei von theoretischer Interpretation und daher "objektiv richtig". Kurzum: Es gibt keine objektive Grenze zwischen theoretischer Spekulation und Beobachtungsaussage und daher auch keine "objektiven Beobachtungstatsachen", die eine theoretische Annahme (wie etwa die der "rekurrenten Variation") konstruieren und sicher "beweisen" könnten (vgl. CHALMERS, 2001 sowie MAHNER und BUNGE, 2000).

Der Normalwissenschaftler (CHALMERS) weiß also, daß Beobachtungsdaten keine Selbstevidenz besitzen, ja daß sie selbst ebenso fehlbar sind wie Theorien. Beobachtungen setzen mit anderen Worten Theorien voraus, die sogenannten "Tatsachen"  werden vor dem Hintergrund einer favorisierten Theorie bewertet, die - wenn sich der Befund als Anomalie herausstellt -  gehaltsvermehrend überarbeitet werden muß.                      

Der Wissenschaftler stellt in diesem Zusammenhang drei Fragen:

                                      

                   

Gelangt eine prüfbare und bislang erfolgreiche Theorie an eine Grenze ihrer Erklärungsmächtigkeit, muß sie also weiterentwickelt werden, so daß die Wissenschaft zu einer tieferen Theorie gelangt. Die Anomalie ist kein praktischer Falsifikationsgrund für eine erklärungsmächtige Theorie, sondern Motor des wissenschaftlichen Fortschritts! Erst wenn eine Theorie massiv mit den Beobachtungen kollidiert, wird sie praktisch falsifiziert, das heißt also, wenn sie viele Beobachtungen nicht erklären kann, wenn man kaum eine ihrer Erwartungen erfüllt findet oder wenn sie sich mit anderen wohletablierten Theorien nicht vereinbaren läßt. Wie wir zeigen wollen, gilt für die Evolutionstheorie das genaue Gegenteil!

Im Gegensatz dazu ist die Schöpfungshypothese unwissenschaftlich, weil es keine Sachverhalte gibt, die sie ausschließt. Im Gegenteil, sie ist mit jedem theoretisch denkbaren Szenario vereinbar, sie kann auch höchst gegensätzliche Fälle erklären. Die Schöpfungshypothese erklärt beispielsweise den Fall der einander ähnlichen Arten. Aber auch der gegenteilige Fall der völlig unähnlichen Arten könnte dem unergründlichen Ratschluß des Schöpfers entsprungen sein (während die Evolutionstheorie dieses Szenario nicht erklären könnte). Die Datenbasis kann aussehen wie sie will, nichts widerspricht der Schöpfungshypothese!

Zur Thematik der Falsifikation und der Unwissenschaftlichkeit der Schöpfungstheorie lesen Sie bitte meine folgenden wissenschaftstheoretischen Abhandlungen:

Die Unwissenschaftlichkeit von Schöpfungstheorien

Über die Bedeutung des Falsifikationismus in der Wissenschaft

                                                                       

Zweitens erweist sich LÖNNIGs Behauptung als voreilig, denn das Phänomen der "rekurrenten Variation" kann tatsächlich im Rahmen der evolutionären Theorie vom Punktualismus bzw. systemtheoretisch erklärt werden. Ich möchte dazu einen kurzen Ausschnitt aus meiner Arbeit über die Wirkfaktoren der Evolution zitieren:

 In der punktualistischen Vorstellung sind gutangepaßte und große Populationen in ihrer Entwicklung "träge", sie verändern sich nur langsam oder aber gar nicht. Die Selektion wirkt auf der Grundlage innerer Entwicklungsprinzipien stabilisierend. Sie verhindert "die Erzeugung zu vieler unharmonischer, unverträglicher Genkombinationen" (MAYR, 1988, S. 255). Eine solche Gleichgewichtssituation zeichnet sich durch "genetische Kohäsion" bei den Individuen aus, Mutationen führen häufig nur noch zu einer beschränkten Anzahl an Mutantentypen, zu "rekurrenter Variation". Bildet sich nun jedoch eine von der Stammpopulation räumlich isolierte Teilpopulation (ein "peripheres Isolat") aus, so unterscheidet sich die Genkombination mehr oder minder stark von der großen Population. Ein solches "unterbrochenes Gleichgewicht" kann der Theorie zufolge zu einem "schnellen" evolutiven Wandel führen, wobei sich auf der Basis "innerorganismischer" Entwicklungszwänge neue Gleichgewichte einstellen. Damit können unter dem Regime veränderter "innerer" Selektionsbedingungen sowie in einem anderen Lebensraum völlig neue Anpassungen zustande kommen. Auf lange Zeiten der Typostase folgen Epochen des schnellen evolutiven Wandels, eine Auffassung, die auch vom Fossilbefund gestützt wird.

                                                       


Die "Rekurrente Variation" läßt sich übrigens auch systemtheoretisch verstehen, wie dies z.B. RIEDL mit seiner Systemtheorie der Evolution deutlich gemacht hat. So bestehen aufgrund der hierarchisch miteinander verschalteten Gen- und Merkmalssysteme "Bürden", das heißt zahlreiche Mutation haben katastrophale Folgen für das System und nur wenige sind erfolgversprechend. Die Evolution verläuft daher streckenweise in durch die Systembedingungen vorgegebenen Entwicklungsbahnen, wodurch zahlreiche (durch die Synthetische Evolutionstheorie unerklärte) Phänomene, wie etwa die Stetigkeit von Merkmalen, Rekurrenz-Effekte, die Existenz "lebender Fossilien", Evolutionstrends und die Hierarchie des natürlichen Systems verständlich werden (RIEDL, 1975, 2003; RIEDL und KRALL, 1994). Neue bzw. niedrig bebürdete Merkmale besitzen dagegen mehr evolutionäre Freiheitsgrade und könnten (auch bei veränderten Systembedingungen) einen "explositionsartigen" Formenwandel einleiten, gefolgt von langen Zeiten der Merkmals- und "Typen-Konstanz" (Typostasis). (Wer sich für die Details und die Literatur zu dieser Frage interessiert, der sei auf meine folgende Arbeit verwiesen:

Die Struktur der Argumentation im Antievolutionismus - Lebende Fossilien

Über die Systemtheorie der Evolution, "Makroevolution" und Evolutionsmechanismen


                                                                 

Schließlich verschweigt LÖNNIG drittens, daß die genannten Autoren seine These, die uneingeschränkte Gültigkeit der "rekurrenten Variation" nachgerade empirisch widerlegt haben.

RAINEY und TRAVISANO haben Experimente mit Bakterien (Pseudomonas fluoreszens) durchgeführt. Innerhalb von drei Tagen konnten sie in einem nichtgeschüttelten Gefäß mit 6 mL Nährflüssigkeit eine kleine adaptive Radiation bei Pseudomonas feststellen. Es bildeten sich 3 verschiedene Morphen (runzlige, glatte und verschwommene Kolonienformen) heraus, die an verschiedene Zonen des Gefäßes angepaßt waren. Die Vielfalt wurde durch Schütteln wieder zerstört. Die Experimentatoren haben die Neubildung jedoch bis zu 24 Mal unabhängig voneinander beobachten können, was als Befund für die "rekurrente Variation" zu werten ist.

"Thus you can become wrinkly spreader by a variety of different paths".

 (vgl. RAINEY und TRAVISANO, 1998)

                             

Der springende Punkt ist jedoch, daß die rekurrente Variation (und damit die Wiederholbarkeit der Mutationen) immer dann völlig zusammenbricht, wenn man die Bakterienpopulation (etwa durch die Konfrontation mit hohen Selektionsdrücken) einengt, die Individuenzahl also in Lebensräumen, die neue Anforderungen stellen, drastisch reduziert. RAINEY und TRAVISANO haben dazu auf die Bakterienkulturen Bakteriophagen überimpft, die für sie tödlich sind. Die Bakterienkultur brach fast völlig zusammen. Die Population erholte sich jedoch wieder, die wenigen resistenten Bakterien diversifizierten und ... die Rekurrenz? Sie verschwand! Dies beschreibt APPENZELLER so:

"The population crashes, then rebounds as a resistant strain takes over. The resurgent strain diversifies again - but it does so differently within each microcosm, spawning odd new variants including a strain that secretes a mucoid slime (...) 'What it comes down to is just a chance thing' Rainey says. 'The phage puts the population through a bottleneck, which increases the role of chance. The reproducability goes out of the door.' Only individuals that happen to be resistant to the phage pass through the bottleneck, and the array of genes they carry varies from microcosm to microcosm. As a result, each miniature ecosystem rediversifies from a different starting point and reaches new adative peaks."

 (APPENZELLER, 1999)            Hervorhebungen im Schriftbild von mir

                               

Die Population wurde also durch ein "Flaschenhalsereignis" (in Gestalt der tödlichen Bakteriophagen) eingeengt, nur einige wenige resistente Bakterien überlebten. Als Folge dieses "Gründerereignisses" bekam jedes Bakterium neue genetische "Startbedingungen" mit auf den Weg, die "genetische Kohäsion" wurde aufgehoben, die Rediversifizierung der resistenten Stämme führte jedesmal zu vollkommen neuen, und nichtwiederholbaren Adaptationen.

("The reproducability goes out of the door! (...) As a result each miniature ecosystem rediversifies from a different starting point and reaches new adaptive peaks.")

                                              

Zusammenschau:

 

           

 Doch was schreibt LÖNNIG?

W.-E.L. (2):

„N.N. hat wesentliche Teile der Arbeit von Rainey und Travisano nicht verstanden: Nach 3 Tagen Inkubationszeit sind drei "dominant morphs" festzustellen ("named smooth, wrinkly-spreader and fuzzy-spreader"). Die Formen treten mit vollkommener Regelmäßigkeit unter den gleichen Versuchbedingungen immer wieder auf (...) Genau das ist auch zu erwarten, wenn man die oben schon mehrfach betonte Häufigkeit der Nukleotidsubstitutionen und Genmutationen in Bakterienpopulationen berücksichtigt. Der Selektionsdruck ist hier mit Sicherheit geringer als in den Lederbergschen Resistenzversuchen (in denen nur ganz wenige rekurrent auftretende Mutanten überleben können).“

                                    

Eben wurde noch ausgiebig begründet, daß es "rekurrente Variation" tatsächlich gibt. Ich habe jedoch (übrigens auch in dem von LÖNNIG kritisierten Text) anhand der Original-Zitate von RAINEY und TRAVISANO sowie APPENZELLER belegt, daß die rekurrente Variation in "Gründerpopulationen" vorübergehend verschwindet. Wie kann man LÖNNIG dazu bewegen, die Arbeiten vollständig zu lesen, das Gesagte gründlich aufzuarbeiten, die Konklusionen und Argumente wirklich verstehen zu wollen und entsprechend darauf zu antworten?

LÖNNIG schreibt desweiteren:          

W.-E.L (3):

 "Die Evolutionstheoretiker Rainey und Travisano selbst führen die Regelmäßigkeit der auftretenden Phänotypen auf Selektion und auf das "adaptive potential of the ancestral genotype" zurück. Und das ist kein "antievolutionistischer Erklärungsversuch", sondern ein völlig mit den Tatsachen übereinstimmende naturwissenschaftliche Beschreibung der genetischen Grundlagen der Versuche.

                                     

Hier steht die Frage im Raum, ob LÖNNIG meinen Einwand verstanden hat: Entgegen der Auffassung des Autors war hier nicht die Beschreibung RAINEYs, TRAVISANOs und APPENZELLERs Stein des Anstoßes, sondern der Umstand, daß die eigentlich interessanten Beobachtungen, nämlich die Aufhebung der Rekurrenz, einfach weggelassen werden. Statt dessen rückt der für den Autor "angenehme" Teil der Arbeit selektiv in den Vordergrund, der dann als "Widerlegung" der Evolutionstheorie verstanden wird. APPENZELLER nennt seinen Artikel jedoch - ganz in Anspielung auf das Flaschenhalsereignis - "Test Tube Evolution Catches Time in a Bottle" und die Aufhebung der "rekurrenten Variation" ist eine zentrale Feststellung in diesem Artikel:

"The reproducibility goes out of the door"  ("Die Wiederholbarkeit verschwindet") und: "(...) each miniature ecosystem rediversifies from a different starting point and reaches strange new adaptive peaks."

Dabei hätten wir von LÖNNIG gerne gehört, weshalb denn nun die Wiederholbarkeit verschwindet. Doch auf eine Erklärung wartet der Leser vermutlich vergebens. 

                                                                    

2. Über die Entstehung neuer Funktionsmoleküle (*)

Ein weiterer experimenteller Aspekt schlägt sich in der Feststellung nieder, daß man immer wieder die Entstehung qualitativer, struktureller Neuheiten (z.B. neuer Funktionsgene) hat dokumentieren können. Damit haben wir eine Aussage des Antievolutionismus widerlegt, der den Standpunkt vertritt, daß unter gar keinen Umständen auf evolutionsbiologischem Wege "etwas Neues" entstehen könne (nicht widerlegt ist natürlich der Schöpfungsgedanke selbst, der ja prinzipiell durch keine Beobachtung in Schwierigkeiten gerät).

Doch was schreibt LÖNNIG?

W.-E.L. (4):

 "Wissenschaftlich unseriös und unbegründbar" ist N.N.s Schlussfolgerung von Genfunktionsverlusten auf die Entstehung grundsätzlich neuer Gene und Enzyme sowie neuer Baupläne: Er kann nicht ein einziges neues Enzym, geschweige denn einen neuen Bauplan nennen, die in den oben genannten Versuchen entstanden wären.

W.-E.L. (5):

 "Die neodarwinistische Evolutionstheorie behauptet immerhin, mit ihrem Faktorensystem von Mutation und Selektion den Ursprung und die Entwicklung aller Lebensformen zu erklären. Dazu braucht die Theorie unter anderem den Nachweis der Entstehung neuer Gene und Enzyme. Und genau das war das Mißverständnis von H. von Ditfurth: Die ihm damals noch unbekannten Genfunktionsverluste hat er als Genfunktionsgewinne interpretiert. (...) "Nicht ein einziges neues Funktionsprotein kann N.N. zitieren (auch wird man in der Arbeit von Rainey und Travisano und anderen Arbeiten vergeblich danach suchen!)

                                                 

Solche Aussagen werden die Leser meines Artikels und alle, die die Literatur in dieser Frage etwas überblicken, reichlich verblüffen, kennt man doch bis heute reichlich Gegenbeispiele.

So haben beispielsweise EKLAND et al. ein Ribozym "gezüchtet", das eine spezifische katalytische Funktion besitzt. Der Ausgangspunkt dieses in-vitro-Experiments war eine RNA-Kette mit einer völlig zufälligen Nucleotidsequenz. Die mit jedem Replikationsschritt auftretenden Mutationen führten über viele Generationen und Selektionsschritte zu einer künstlichen, aus 220 Nucleotidbasenpaaren bestehenden Funktions-RNA (Ribozym) (EKLAND et. al, 1995).

Neuerdings ist es KEEFE und SZOSTAK sogar gelungen, evolutionär gleich mehrere Proteinfamilien mit einer vorgegebener Funktion aus einem Ensamble aus Zufallssequenzen zu erzeugen (KEEFE und SZOSTAK, 2001):


Die Forscher haben dazu im Reagenzglas (in vitro) eine "Bibliothek" (library) aus 4* 1014 DNA-Zufallssequenzen hergestellt und in ein Ensamble aus 6*1012 (an Messenger-RNA gebundenen) Zufallsproteinen transkribiert. Dann wurden mittels spezieller Labortechniken aus diesem Gemisch bevorzugt jene Zufallsproteine ausselektiert, welche die Eigenschaft besaßen, ATP-Moleküle (die "Energieträger des Lebens") zu binden. Aus den dazugehörigen RNA-Molekülen wurde schließlich eine neue Bibliothek aus DNA-Sequenzen zurückgewonnen. Nach acht Zyklen der Selektion und Vermehrung ist es den Forschern gelungen, aus der Molekül-Population gleich vier Protein-Familien zu isolieren, deren Vertreter in der Lage waren, an ATP zu binden. Dabei ließ sich durch Mutation und Selektion die funktionelle Eigenschaft der Moleküle erheblich verbessern. Nach weiteren Zyklen der in vitro-Selektion haben die Forscher schließlich mehrere Spezies genauer charakterisiert. Bei einer Molekül-Variante bildeten 45 der 80 Aminosäuren das katalytisch aktive Zentrum, das jedoch (wie zu erwarten war) keine signifikante Übereinstimmung mit den natürlich vorkommenden Funktionsproteinen zeigte.

Mittlerweile baut ein ganzer Industriezweig auf dem Prinzip der "evolutionären Biotechnologie" auf. Das Ziel besteht darin, für alle möglichen Anwendungsprobleme neue Biomoleküle mit vorgebbaren Eigenschaften evolutionär (nicht zielgerichtet!) zu erzeugen, wofür es bereits eine ganze Reihe spektakulärer Beispiele gibt, wie SCHUSTER hervorhebt.

SCHUSTER stellt fest:

"Zwei Optimierungsaufgaben an Biomolekülen können als gelöst angesehen werden: (i) Die Erzeugung von 'Aptameren', das sind an vorgegebene Zielstrukturen optimal bindende Moleküle und (ii) die 'Züchtung' von Molekülen mit festgelegten katalytischen Eigenschaften, Proteinenzymen aber auch katalytisch aktiven Nukleinsäuren Ribozyme und Desoxyribozymen (...)"

(SCHUSTER, 2002)

                                                             

Darf man also wirklich annehmen, daß ein Mutationsgenetiker im Jahre (2002/2003) noch nichts von der evolutionären Biotechnologie sowie ihrer Möglichkeiten gehört hat? Oder handelt es sich nicht eher um eine polemische, rein taktischem Kalkül entspringende Entgleisung, wenn LÖNNIG alle Wissenschaftler, welche die Entstehung neuer Gene exemplarisch anführen, unverhohlen der Lüge bezeichet?                                    

W.-E.L. (6):

 "Wie soll der Laie von sich aus erkennen, dass diese Behauptungen in allen wesentlichen Punkten falsch sind? - Wie soll er erkennen, dass alle entscheidenden Aussagen entweder evolutionär erdichtet oder glatt erlogen sind?"

                                                                 

Also müssen sich zweifelsohne nicht nur EKLAND, KEEFE, SZOSTAK und SCHUSTER, sondern auch BETZ et al. als Lügner fühlen, die mehrere Mutanten des Bakteriums Pseudomonas aerugimosa unter der Einwirkung mutagener Agenzien erzeugt haben, die ein neues Enzym zur Verwertung von Valeramid und Phenylacetamid durch Genmutation erworben haben (BETZ et. al., 1974). 

Als "evolutionär erdichtet" muß auch das Beispiel der Laborevolution des EBGo-Enzyms angesehen werden, der "Evolved ß-Galactosidase". Selbst Biologen, die nicht im Verdacht stehen, der Evolutionstheorie das Wort zu reden, haben immerhin eingestehen müssen, daß "die Entstehung einer Funktion (...) hierbei durch ständige Selektion der durch Mutation abgewandelten Strukturen eines zur normalen Ausstattung gehörenden Enzyms verfolgt werden (kann)." (JUNKER und SCHERER, 1998, S. 112) (**)

Die Abwandelbarkeit der Enzyme führt in der Laborpraxis häufig zum Erwerb neuer katalytischer Funktionen, das heißt, es entstehen vielfältige neue Funktionsgene. Insbesondere bei den Pseudomonaden sind Enzyme bekannt geworden, die den Abbau ungewöhnlicher, zum Teil vollsynthetischer organischer Verbindungen und Industrieabfälle (wie Herbizide, Insektizide, DDT usw.) bewirken (vgl. KÄMPFE, 1992).

Desweiteren haben REMANE et al., 1975, S. 67 ff. zwei Hormone, die in der Neurohypophyse der Wirbeltiere gebildet werden, das Mesotocin und Vasotocin bei den Amphibien miteinander verglichen. Beide Hormone bestehen jeweils aus 9 Aminosäuren und unterscheiden sich nur in zwei Positionen, ein Umstand, der nahelegt, daß sie durch Genduplikation entstanden sind. Der Austausch von nur zwei hydrophoben Resten hatte aber eine starke Funktionsänderung zur Folge. Das Vasotocin macht die Froschblase permeabel, kontrahiert den Rattenuterus und stimuliert den Wasserrückhalt in der Niere. Wird in der dritten Position des Vasotocinmoleküls die Aminosäure Isoleucin durch Phenylalanin substituiert, verschwinden die ersten beiden Eigenschaften fast völlig, während die dritte deutlich stärker ausgeprägt wird. Das so erhaltene Vasopression der Säugetiere ist wiederum ein neues Funktionsprotein; ihm kommt die Bedeutung als Antidiureticum zu.

Alles in allem wird kein Zweifel daran bestehen, daß

"the genes coding for these proteins were formed by internal gene duplication. Indeed, it seems that most eukaryontic genes werde produced by gene duplication and elongation of primordial genes or minigenes that existed in the early stage of gene evolution."

(NEI, 1987, S. 117)

                 

Müßte sich angesichts dieser Äußerungen in der Wissenschaft nun bei APPENZELLER, STEBBINS und AYALA, BETZ, LONG, NEI, KUTSCHERA, PENNISI und all den anderen Wissenschaftlern, die im Hinblick auf das angesprochene Datenmaterial an der Richtigkeit des evolutionären Entwicklungsgedankens keinen Zweifel übrig lassen, das Gefühl einstellen, als "verlogene Fanatiker" im Dienste der evolutionären Propaganda zu stehen, so wie es mir LÖNNIG vorhält? Oder ist es nicht eher so, daß LÖNNIG mit seinen Emotionsausbrüchen nurmehr bezeugt, daß er die Erkenntnisstrategie der Wissenschaft nicht verstanden hat?

W.-E.L. (7):

"Was N.N. hier als "Evolutionssprünge" bezeichnet, das sind - ohne Klärung der genetischen und molekulargenetischen Grundlagen - zunächst einmal nichts weiter als "Phänotypsprünge".  (...) Dass Phänotypsprünge noch nichts mit Evolution zu tun haben brauchen, zeigt sich besonders drastisch bei den genetischen Defekten des Menschen: Ein hypophysärer Zwerg, oder ein Mensch ohne Arme und Beine, oder mit einer Spina bifida etc., zeigt zwar einen Phänotypsprung, aber damit noch langen keinen Evolutionssprung."

                              

Im Falle der Beispiele von EKLAND, KEEFE und SZOSTAK, REMANE et al. usw. handelt es sich mit Sicherheit nicht um die von LÖNNIG ins Spiel gebrachten Degenerationserscheinungen, sondern um Beispiele für die Entstehung neuer, abgewandelter oder duplizierter Funktionsmoleküle oder Strukturen, oder aber (im Falle von KEEFE und SZOSTAK) um Funktionsproteine, die sie aus einer "Bibliothek" aus Zufallssequenzen evolutionär erzeugt haben.

Schließlich sei noch auf APPENZELLER hingewiesen, der selbst nicht nur geschrieben hat, daß man immer wieder Bakterien findet, die so verschieden von den anderen sind, daß sie zunächst nicht als der eigenen Art zugehörig erkannt wurden. Er berichtete sogar darüber, daß RAINEY und TRAVISANO ein phagenrestistentes Bakterium entdeckt haben, das sich durch die Produktion einen phagenabwehrenden Schleims auszeichnete. Dazu nochmals APPENZELLER:

"The population crashes, then rebounds as a resistant strain takes over. The resurgent strain diversifies again - but it does so differently within each microcosm, spawning odd new variants including a strain that secretes a mucoid slime (...)"

(APPENZELLER, 1999)

                         

In jüngster Zeit werden auch immer mehr Daten bekannt, welche die Bildung neuer Baupläne am Beispiel höherer Metazoen belegen. Im Jahre 1998 hatte man den molekulargenetischen Nachweis erbracht, daß der Grundbauplan des Kulturmais (zea mays) im Laufe der seit Jahrtausenden stattfindenden künstlichen Zuchtwahl aus dem "Grundtyp" der Teosinte entstanden ist (PÄÄBO S, 1999, Nature 398: S. 194-195). Der Pflanzenphysiologe Prof. KUTSCHERA von der Universität Kassel hatte die Resultate in seinem Buch kurz beschrieben und wie folgt kommentiert:

"Einen überzeugenden Beweis für die (...) Teosinte-Hypothese erbrachte die experimentelle Molekulargenetik. Kreuzungsexperimente zeigten, daß nur 5 Regionen des Genoms für die Änderungen im Bauplan der Spezies Teosinte zu Mais verantwortlich sind (...) Durch Selektion geeigneter Teosintekörner wurde während der Agrikulturrevolution (vor etwa 7500 Jahren) (...) die regulatorische Region des tb1-Gens derart modifiziert, daß über das Zwischenstadium des "Protomais" die moderne Maispflanze gezüchtet werden konnte. Dieses im Jahre 1998 entschlüsselte Beispiel (...) belegt, daß durch wiederholte Variation und Selektion relativ rasch ein neuer Pflanzenbauplan entstehen kann. Ein zentrales Postulat der Synthetischen Theorie der Evolution konnte so durch experimentelle Genomanalysen bestätigt werden."

(KUTSCHERA, 2001, S. 181)

           

Wie befremdlich muß nun rückblickend der folgende Kommentar Lönnigs in der Fachwelt klingen, nachdem ich über ein Dutzend Beispiele und Belege zugunsten der Entstehung neuer Gene und Enzyme durch Mutation und Selektion angeführt habe:

W.-E.L. (8):

"Nicht ein einziges neues Funktionsprotein kann N.N. zitieren (auch wird man in der Arbeit von Rainey und Travisano und anderen Arbeiten vergeblich danach suchen!). Evolutionssprünge im Sinne der postulierten Makroevolution (und um diese geht es hier) sind ebenfalls nicht nachzuweisen (...) Die neuen Funktionsproteine sind schlicht und einfach erfunden! So kann man jedenfalls keine ehrliche Naturwissenschaft machen!“

                                              

Ich möchte in diesem Zusammenhang ernsthaft die Frage an den Leser richten, ob es noch etwas mit "ehrlicher Naturwissenschaft" zu tun hat, wenn LÖNNIG sämtliche molekulargenetischen Belege und Experimente zu dieser Frage (die der Fachwelt zum Teil schon seit Jahrzehnten bekannt sind) einfach in den Wind schlägt ohne einzuräumen, daß die Daten - so wie sie auf dem Tisch liegen - den Erwartungen der Evolutionstheorie voll und ganz entsprechen.

Es muß festgestellt werden, daß LÖNNIG nur dann einen Grund für seine destruktive Haltung hätte, wenn man über all diese Daten nicht verfügte. Stellen wir uns vor, man hätte weder Duplikationsereignisse noch repetitive noch homologe Gene oder Genome nachgewiesen. Man stelle sich vor, es wäre nicht gelungen, in in-vitro-Experimenten Ribozyme mit neuen katalytischen Funktionen heranzuzüchten. Man stelle sich weiter vor, wir hätten keine Beispiele für die grandiose Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit der Bakterien und keine Allel- und Funktionsneubildung nachgewiesen. In solch einem Falle wäre Lönnigs Kritik nachvollziehbar. Jedes einzelne Ergebnis bestätigt jedoch die Folgerungen der Evolutionstheorie! Der Wissenschaftler kann etwa aus dem Umstand, daß es Genduplikation und Genmutation gibt die evolutionäre Folgerung ableiten, daß repetitive und homologe Gene entstehen müssen. Wenn man dann tatsächlich serienweise homologe und repetitive Gene auffindet (was der Erwartung der Theorie entspricht), zieht der Wissenschaftler den Schluß, daß es eine Evolution gibt, die sich der Duplikation und Mutation als molekulargeneetische Mechanismen bedient. Kurzum: Die Evolutionstheorie erfährt eine hypothetico-deduktive Bestätigung.

                                           

Es möge uns LÖNNIG also erklären, weshalb das Datenmaterial den Erwartungen der Evolutionstheorie entspricht, wenn ein Schöpfer die Arten unabhängig von solchen Überlegungen erschaffen hat. Warum hat der Schöpfer repetitive Gene erschaffen, zumal es blasphemisch erscheint, wenn es ihm derart an Phantasie ermangelt, so daß er ähnliche Gene erschaffen muß. Wenn man denn tatsächlich nachfragt, folgt meist der Verweis auf den "unergründbaren Ratschluß des Schöpfers", der die Dinge aus uns unerfindlichen Gründen eben so eingerichtet hat, wie wir sie beobachten. Damit ist gezeigt, daß der Schöpfungsgedanke weder logisch falsifizierbar ist noch überhaupt irgend eine Erklärung liefern kann ("dictum de omni, dictum de nullo"!)

(Vergleichen Sie bitte zu der Frage, weshalb eine Schöpfungstheorie nicht wissenschaftlich sein kann, Abschnitt 3 meines folgenden Aufsatzes: http://www.martin-neukamm.de/junker1_3.html)

                                                      

Ich glaube, daß sich ein Wissenschaftler spätestens in solch einem Moment (in dem es darauf ankommt zu zeigen, daß er hypothetisch-schlußfolgernd und wissenschaftstheoretisch sauber argumentieren kann) seinen Kredit in der Fachwelt derart überzieht, daß niemand mehr ernsthaft den Versuch unternimmt, ihn zur wissenschaftlichen Diskussion zurückzuholen. Prof. Dr. P. meinte zu LÖNNIGs Argumentationsstil denn auch entsprechend:

 "Wenn sich jemand von den [Befunden] nicht überzeugen läßt, obwohl sie größtenteils  den theoretischen Erwartungen einer kontinuierlichen Entwicklung entsprechen, dem ist nicht zu helfen. Er scheitert dann nur noch an den Unzulänglichkeiten seiner eigenen Argumente (...) Nicht falsifizierbare Aussagen sind im besten Fall Dogmen, häufig, wie in diesem Fall, aber schlichte Zirkelschlüsse. Diese sind dann allerdings auf der Ebene der Logik falsifizierbar (...) Wichtig ist es, daß man in der wissenschaftlichen Diskussion die Theorie und nicht die sogenannten "Tatsachen" für beweiskräftig hält. Letztere werden immer nur interpretiert."

                                                                                                                                                  

Zuguterletzt sei noch erwähnt, daß ich selbst auf den "Großversuch Medizin" hingewiesen habe, der binnen weniger Jahre dazu geführt hat, daß Resistenzen gegen teil- oder vollsynthetische Wirkstoffe, wie etwa das Sulfonamid Trimethoprim oder das Antibiotikum Ampicillin entstanden sind. Doch LÖNNIG:

W.-E.L. (9):

"Die mutativ bedingte Genese der Antibiotika-Resistenzen in den Lederbergschen (und anderen) Versuchen (insbesondere des "Großversuchs" durch die moderne Medizin) beruht nicht auf der Entstehung neuer Gene und Enzyme (...) Vielmehr spielt hier der plasmidbedingte horizontale Gentransfer über die Art- und Gattungsgrenzen hinweg eine ganz entscheidende Rolle (Plasmide sind dagegen bei Eukaryoten nicht bekannt und natürlicher, horizontaler Gentransfer ist bei letzteren - im Vergleich zu Bakterien - die ganz seltene Ausnahme)."

                       

Zum einen muß man aber endlich zur Kenntnis nehmen, daß Gene - bevor sie transferiert werden können - erst einmal entstanden sein müssen. Zum anderen handelt es sich bei Gentransfer und Genausfall aber nicht um die einzigen Resistenz-Mechanismen. Tatsächlich gibt es auch (obgleich seltener) mutationsbedingte Resistenzen. Hätte LÖNNIG sein anderes Auge, das er aus weltanschaulicher Observanz so pflichtbewußt zukneift, nur einen Spalt weit geöffnet, dann hätte er ohne Mühe einige Beispiele erblickt, die seine Feststellung widerlegen:

Die Bildung von Resistenzen gegen teilsynthetische (!) Antibiotika, wie das "Ampicillin" ist nicht auf "Genfunktionsverlust" zurückgeführt  worden, sondern die auf der Synthese von Enzymen, die man etwa bei H. influenza und M. catarrhalis entdeckt hat. Gegen "Chloramphenicol" sind bestimmte Staphylokokken resistent, die das Enzym "Chloramphenicol Acetyltransferase" erzeugen. Durch Mutation entstandene Resistenzen (chromosomal fixierte Resistenzen) treten mit einer Häufigkeit von 10-6 - 10-12 auf, d.h. bei der Vermehrung von Bakterien ist in dieser Größenordnung mit der Entstehung einer resistenten Mutante zu rechnen. Nach KÄMPFE, 1992 beträgt die "Funktionsproteinchance" (die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung eines bestimmten Enzyms bzw. Gens) etwa 10-10 bis 10-14. Die Resistenzen gegen vollsynthetische Sulfonamide führen regelmäßig zu Veränderungen des Stoffwechsels. Und viele Hefen und Pseudomonaden sind regelrecht in der Lage, toxische Substrate enzymatisch abzubauen oder sogar zu verstoffwechseln (siehe oben). 


Nun darf natürlich nicht verschwiegen werden, daß viele Gene in "deaktiviertem" Zustand bereits vorhanden und durch Punktmutationen wieder reaktiviert werden können. Angesichts der beschriebenen Experimente und Beobachtungen ist es aber eine ungedeckte (in jedem Falle nicht widerlegbare!) Behauptung, daß grundsätzlich jedes der beobachteten Funktionsgene in einem wie auch immer gearteten, durch "Schöpfung" entstandenen "Grundtyp" immer schon vorhanden war.       
                                                           

Der Umstand, daß sich Schöpfung grundsätzlich nicht widerlegen läßt (weil sich ja jedes experimentelle Resultat als Hinweis auf ein "durch Schöpfung" erworbenes Funktionsgen deuten läßt) wird besonders deutlich, wenn man die folgenden Stellungnahmen LÖNNIGs studiert:

W.-E.L. (10) (unter Berufung auf den Kreationisten SCHERER):

 "In einer ausreichend großen Population werden i. a. Mutanten für eine erforderlich werdende Anpassung in verschiedener Häufigkeit 'bereitgehalten'".

                      

Natürlich bestreitet niemand, daß ein begrenztes Reservoir an kryptischen oder deaktivierten Genen vorhanden ist. Für die Verallgemeinerbarkeit dieser Annahme scheint es jedoch keine Evidenz zu geben. Und findet man ein neues Gen, das im "Wildtyp" nicht nachzuweisen ist, kann man schließlich immer behaupten, daß man dieses in ihm nur noch nicht aufgefunden hat. Nichtfalsifizierbare Hypothesen sind aber, wie wir uns an Prof. P. erinnern:

"im besten Fall Dogmen, häufig, wie in diesem Fall, aber schlichte Zirkelschlüsse."

Entsprechend unwissenschaftlich sind auch die folgenden Behauptungen:

W.-E.L. (11) an anderer Stelle:

„Die Tatsache, daß es Proteingroßfamilien gibt, zu denen man teilweise auch Proteine zählt, die in weniger als 50% ihrer Aminosäuren übereinstimmen, beweist selbstverständlich ebenfalls in keiner Weise, daß die zugehörigen Gene aus einem Gen entstanden sind“.

W.E.L (12):

 "über empirisch verfolgbare Zeiträume sind die Duplikate kaum von ihren ursprünglichen unterscheidbar, so daß der evolutiven Hypothese die Beweise fehlen."

Man sieht hier, daß man mit den drei Aussagen (10), (11) und (12) jede nur denkbare Datensituation vollkommen gegen die Evolutionstheorie immunisieren kann:


Entweder sind die duplizierten Gene "über empirisch verfolgbare Zeiträume kaum von ihren ursprünglichen unterscheidbar" (was nun überhaupt niemanden verwundern kann), "so daß der evolutiven Hypothese die Beweise fehlen". Oder die molekulargenetisch beobachteten Unterschiede sind über empirisch nicht verfolgte Zeiträume so groß, daß dies alles "selbstverständlich ebenfalls in keiner Weise" beweist "daß die zugehörigen Gene aus einem Gen entstanden sind".  Mit anderen Worten: Die Datenbasis kann aussehen wie sie will, nichts entspricht, will man LÖNNIG glauben schenken, den Erwartungen der Evolutionstheorie!

                   

Wie, so darf man fragen, soll das Datenmaterial sonst noch aussehen, damit die Antievolutionisten und allen voran LÖNNIG wenigstens einmal die Möglichkeit eines transspezifischen Evolutionsgeschehens nicht grundsätzlich abzulehnen gewillt wären?

Wenn nun die Hypothese, daß zwei Gene durch ein Duplikationsereignis verbunden seien, selbst im Falle 80%iger, 85%iger und 92%iger Ähnlichkeit keine Stütze erführe, dann wäre auch der Nachweis einer 100%igen Homologie zweier Gene (also deren Identität) ohne Beweiswert - und das trotz des Umstandes, daß die Wissenschaft die Genduplikation allein schon durch den Nachweis identischer Gene (selbst ohne direkte Beobachtbarkeit des Duplikationsvorgangs!) im Erbmolekül anerkennt. Wo verbirgt sich denn in dieser Argumentationsmethode überhaupt noch die vielzitierte und von der Wissenschaft zurecht eingeforderte hypothetisch-schlußfolgernde Bewertung von Daten?

Spätestens jetzt dürfte dem Leser klar geworden sein, daß LÖNNIGs empiristische Argumentation keine wissenschaftliche ist. Um es vorwegzunehmen:


Was die Wissenschaft fordert, sind keine naiven "Beweise" im populären Sinne und auch keine direkte Beobachtbarkeit ihrer Erkenntnisgegenstände im Experiment, einzig entscheidend ist die empirische Prüfbarkeit der theoretischen Folgerungen (Deduktionen). Alle großen wissenschaftlichen Theorien (wie etwa die Atomtheorie, die Elementarteilchenphysik oder die Kosmologie) operieren mit Entitäten und Prozessen, die nicht durch die naive Anschauung "beweisbar" sind. Das heißt, man kann immer nur prüfen, ob die Daten im Lichte der Theorie interpretierbar sind. Man braucht also Befunde, die den Erwartungen der Theorie entsprechen und (was logisch dasselbe ist) möglichst viele Beobachtungen, die sich mit einer Theorie erklären lassen.

Daß sich mit einer Argumentationskette, wie sie LÖNNIG gebraucht, alle wissenschaftlichen Theorien, Belege und Schlußfolgerungen "widerlegen" ließen, das wollen wir im nächsten Abschnitt aufzeigen.         

                               

3. Die Methodologie im Kreationismus - Wie funktioniert Wissenschaft?

LÖNNIGs Auffassung zufolge ist nicht das methodologische Gebäude des Kreationismus und damit sein eigenes fragwürdig, sondern das der (evolutionsbiologischen) Wissenschaft. LÖNNIG impliziert in (12) und (13), daß homologe Gene "kein Beweis" für die Richtigkeit des Evolutionsgedankens darstellen, sondern eine "unwissenschaftliche Deutung".

Kurzum: Die Evolutionstheorie sei "unwissenschaftlich", weil ihre Erkenntnisgegenstände ("Makroevolution") nicht experimentell (direkt) beobachtbar und damit auch nicht "streng logisch" beweisbar seien - es handele sich hier also weitgehend nicht um experimentelle "Beweise" für eine transspezifische Evolution, sondern um "historisch-evolutionstheoretische Deutungen", die keinen naturwissenschaftlichen Charakter aufwiesen.

Daher wendet sich LÖNNIG auch mit dem folgenden Hinweis an seine Leserschaft:

W.-E.L. (13): 

"Lassen Sie sich bitte nicht durch eventuelle Ausweichmanöver in Gegendarstellungen von der eigentlichen Fragestellung ablenken. Es geht hier zuallererst um die behauptete Entstehung 'neuer Funktionsproteine und Baupläne' in Evolutionsexperimenten wie den Lederbergversuchen (...) Es geht in der vorliegenden Diskussion nicht um historisch-evolutionstheoretische Deutungen (wie der übrigens gar nicht unproblematischen Entstehung der Hämoglobingene aus letztlich einem Myoglobingen nach zufälligen Genduplikationen) etc., sondern in erster Linie um die behauptete experimentelle Verifizierung der Evolutionstheorie durch Neubildung von Genen, Enzymen und Bauplänen, und zwar in jederzeit reproduzierbaren mutationsgenetischen Experimenten mit Bakterien."

                                                                                

Zunächst: Bei den oben beschriebenen Experimenten von BETZ et al., bei den von KÄMPFE erwähnten Pseudomonaden sowie im Falle der "Evolved ß-Galactosidase" handelt es sich in der Tat um veritable Beobachtungen bzw. Experimente, die Funktionsneubildung belegen (auch bei den von REMANEs angestellten Sequenzvergleichen der Enzyme Vasopressin, Vasotocin und Mesotocin handelt es sich um funktionelle Veränderungen, deren experimentelle Erzeugung man im kaum anzweifeln könnte). Schließlich haben eben auch PÄÄBO und KUTSCHERA gezeigt, wie durch künstliche Zuchtwahl aus der Teosinte der neue Phänotypus des Kulturmais entstanden ist.

Abgesehen davon sieht man hier, daß die Einwände gegen Evolution nur im Lichte einer Wissenschafts-Philosophie bestand haben, welche die Gleichsetzung von Wissenschaft mit Empirismus als machbar und legitim verkauft. Der Empirismus ist eine erkenntnistheoretische Richtung, die als Quelle der Erkenntnis die (Sinnes-) Erfahrung ansieht. Ihm zufolge kann neues Wissen nur infolge direkter und damit theoriefreier Beobachtung entstehen. Daraus resultiert eine restriktive Philosophie:

Wissenschaft und Philosophie müssen sich auf das jederzeit Feststellbare beschränken und transphänomenale, das heißt nur indirekt beobachtbare und historische Entitäten und Prozesse beiseite lassen, weil letztere nicht streng logisch beweisbar seien. 

LÖNNIGs methodologischer Irrtum besteht nun darin, daß sich die meisten der wissenschaftlichen Theorien eben gerade nicht auf das direkt Beobachtbare und unmittelbar Feststellbare beschränken und regelmäßig der naiven Erfahrung widersprechen. Um es noch deutlicher zu formulieren: Wissenschaft kann nicht empiristisch sein:

                                                                        

Beispiele:

  1. Die gesamte Reaktionskinetik basiert auf der Atomtheorie. Die Existenz von Atomen kann jedoch nicht im naiven Sinne "bewiesen" werden. Statt der Existenz diskreter Materieeinheiten (Atome) läßt sich immer die beliebige Teilbarkeit der Materie "beweisen". Weder für die Quantelung der Materie noch für eine Grenze der Teilbarkeit gibt es experimentelle Beweise. Die Gesetzmäßigkeiten bei chemischen Umsetzungen sind jedoch Belege für die Quantelung der Materie, die Spektren der Elemente, der fotoelektrische Effekt sowie der FRANCK-HERTZ-Versuch können durch das BOHRsche Atommodell erklärt werden, und die RUTHERFORDschen Streuversuche wurden im Lichte der (unbewiesenen!) Atomtheorie erfolgreich gedeutet, die annimmt, daß kleine kompakte Atomkerne in verhältnismäßig großen Abständen von Hüllen-Elektronen umkreist werden.

  2. Auch die Paläontologie kann die Existenz früherer, heute ausgestorbener Lebensformen nicht "beweisen". Anstelle des Nachweises eines allumfassenden Aussterbeprozesses läßt sich hingegen die genealogische Konstanz der Tier- und Pflanzenwelt in der naiven Erfahrung beweisen. Die sonderbaren Windungen und Formen im Gestein sind aber ein gewichtiger Beleg für die Theorie von der einstigen Existenz von heute extinkten Lebensformen, weil die Ähnlichkeit der Strukturen mit den Formen heutiger Lebewesen im Lichte der paläontologischen Vorstellungen widerspruchsfrei erklärt ("gedeutet") werden können. Dazu muß man sich aber die Weichteile quasi "dazudenken", was im Kreationismus schon einen unerlaubten, "metaphysischen" Akt darstellen müßte!

  3. Schließlich steht und fällt die Himmelsmechanik mit der "unbewiesenen" Voraussetzung vom heliozentrischen Weltbild! Statt der Bewegung der Erde um die Sonne läßt sich hingegen die Bewegung der Sonne an der Himmelskuppel durch naive Beobachtung "beweisen". Es gibt keine naive Beobachtung, welche die These, daß die Sonne im Zentrum des Planetensystems steht und die Erde sich dreht, "beweisen" könnte. Es kann nur deshalb kein vernünftiger Wissenschaftler mehr an der Theorie zweifeln, weil sich viele Befunde im Lichte des heliozentrischen Weltbildes interpretieren lassen, wie etwa die Wirbelbildung der Wolken, die Schleifenbewegung der äußeren Planeten am Firmament oder die Entstehung zweier antipoder Flutberge (die man als Manifestation einer aus Gravitation und Fliehkraft resultierenden Gezeitenwirkung - so wie man sie bei um ein massives Zentrum rotierenden Körpern vorfindet - sieht).

             

Beobachtungen können also immer nur im Lichte einer nie sicher beweisbaren Theorie interpretiert werden. Sichere Beweisbarkeit gibt es nur in der Logik oder der Mathematik, nicht jedoch in faktischen Wissenschaften, weil alle Beobachtungen immer auf viele mögliche Ursachen zurückführbar sind.


Kurz: Die methodologische Beweissituation besteht demzufolge in der Existenz möglichst vieler Beobachtungen, die widerspruchsfrei in den theoretischen Bezugsrahmen integrierbar sind. Je mehr Befunde den Erwartungen (Deduktionen) der Theorie entsprechen bzw. im Lichte der Theorie erklärt werden können, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit ihres Scheiterns und desto größer ihr Bestätigungsgrad.

(vgl. MAHNER und BUNGE, 2000). 


(Nebenbemerkung: Der Umstand, daß LÖNNIG bislang mit keiner Silbe auf die von mir aufgezeigte Unverträglichkeit seiner eigenen methodologischen Argumentation mit der in allen Naturwissenschaften gebräuchlichen hypothetisch-schlußfolgernden Methode Stellung bezogen hat, sondern statt dessen von "Ausweichmanövern" spricht, zeigt, daß ihm die Ausweglosigkeit seiner wissenschaftstheoretischen Situation bewußt geworden ist. Zu dieser Einschätzung paßt, daß er seinen Lesern den Rat gibt, wissenschaftstheoretische Argumente vollkommen zu ignorieren bzw. sich in der Diskussion unter gar keinen Umständen auf "historisch-evolutionstheoretische Deutungen einzulassen". Das eigentliche "Ausweichmanöver" besteht also darin, blindlings an der inkonsistenten empiristischen Argumentation festzuhalten und damit die Hoffnung zu verbinden, diejenigen Leser, die seinen methodologischen Irrtum nicht durchschauen, auf seine Seite zu ziehen).

                                                                    

Wenn man LÖNNIGs Einwand also konsequent zu Ende durchdenkt, erkennt man, daß sich mit seinem methodologischen Verständnis alle großen wissenschaftlichen Theorien infrage stellen und als "außerwissenschaftliche Deutungen" degradieren ließen. Daher ist es keineswegs ein Zeichen methodologischer Extravaganz, wenn die Evolutionsbiologen ihre Erkenntnisgegenstände nicht sicher beweisen können. Entscheidend ist, daß es einen erdrückenden Datenbefund gibt, der evolutionsbiologisch erklärt werden kann und so überhaupt erst seinen Sinn bekommt. Eine ungeheure Zahl an Beobachtungen entspricht im Wesentlichen den Erwartungen der Evolutionstheorie und wird durch sie erst befriedigend erklärt.

Dazu zählen beispielsweise: Die morphologischen Ähnlichkeiten der Arten, die systematische Aufeinanderfolge der Organisationstypen im Fossilbefund, die Existenz von Übergangsformen, rudimentären Organen, Atavismen, ontogenetischen Entwicklungsstadien, der molekulargenetische Nachweis von Gen- und Chromosomenmutation (Genduplikation usw.), homologen und repetitiven Genen, von Adaptationen bei Bakterien, Entstehung neuer Gene und so weiter und so fort.

                                            

Es kann also kein ernstzunehmender (Normal-) Wissenschaftler, also ein Forscher, der unvoreingenommen die Daten betrachtet und rational bewertet, an der Evolutionstheorie mehr einen Zweifel hegen. Man darf mit Fug und Recht behaupten:


Das Reaktionsgeschehen in der Chemie ergibt nur im Lichte der Atomtheorie einen Sinn, so wie die Erscheinungen in der belebten Theorie nur im Lichte der Evolutionstheorie einen Sinn ergeben! Ansonsten könnte man gegen die Atomtheorie einwenden, daß sie ihre Atome nicht "bewiesen" habe, sondern aus den Experimenten nur deren Existenz schlußfolgert!           

(Während jeder erkennt, daß der Chemiker mit dieser Äußerung eine wertneutrale, methodologische Feststellung trifft, ist DOBZHANSKI für dieselbe Aussage hinsichtlich der Evolutionstheorie von den Kreationisten vehement gerügt worden. Man unterstellte ihm einfach eine dogmatische Ausrichtung seines Weltbildes und eine logische Verirrung, ohne zu erkennen, daß methodologisch beides dasselbe ist!)

                                      

Zusammenschau:

Was die Wissenschaft fordert, sind nicht streng logische Beweise und direkte Beobachtbarkeit ihrer Erkenntnisgegenstände im Experiment, sondern die empirische Prüfbarkeit der theoretischen Folgerungen (Deduktionen). Das heißt, man braucht Befunde, die den Erwartungen der Theorie entsprechen und (was logisch dasselbe ist) möglichst viele Beobachtungen, die sich mit einer Theorie erklären lassen.

              

Die Zusammenhänge zeigen, daß man unter strikter Einhaltung der empiristischen Methodologie nicht einmal das geozentrische Weltbild überwunden hätte (!), weil selbstverständlich auch GALILEIs Hauptaussage (die Sonne stehe im Zentrum des Planetensystems) nicht durch die naive Erfahrung "beweisen" werden kann. Jede große Theorie, die zu einer wissenschaftlichen Revolution geführt hat, besitzt transempirischen Charakter und stellt die naive Erfahrung in entscheidenden Punkten auf den Kopf.

               

4. Die Diskussion mit der Wahrscheinlichkeit 

Es wird von Antievolutionisten nun noch ein weiterer Kritikpunkt gegen die Evolutionstheorie ins Felde geführt. Der Kreationist bemüht regelmäßig Beispiele von Biomolekülen oder morphologischen Strukturen,

"verleiht ihnen eine mathematische Scheinpräzision und weist nach, daß für die Entstehung des fraglichen Merkmals mindestens so und so viele Teilschritte erforderlich seien und daß die Wahrscheinlichkeit, alle diese Schritte zufällig und gleichzeitig zu bekommen, extrem klein und damit das Auftreten des Merkmals praktisch unmöglich sei." (VOLLMER, 1986).

                       

W.-E.L. (14):

„Darüber hinaus ist bewiesen worden, dass die evolutive Entstehung völlig neuer, ganz spezifischer Funktionsproteine außerhalb des Bereichs der Wahrscheinlichkeit der sich auf unserer Erde abspielenden Zufallsprozesse liegt [diese Aussage ist in voller Übereinstimmung mit den praktischen Ergebnissen der Mutationsforschung; vgl. dazu auch die ausführliche Diskussion zum Thema Genduplikationen: http://www.mpiz-koeln.mpg.de/~loennig/Genduplikationen.html]."

                       

Nun haben jedoch seit Generationen Wissenschaftler, wie zum Beispiel v. DITFURTH, DOSE und RAUCHFUSS, MAHNER und viele andere vorgerechnet und erklärt, weshalb solche Schlußfolgerungen auf falschen Voraussetzungen beruhen. Ich selbst habe LÖNNIG früher schon etliche Erklärungen zu dieser Frage geliefert, eine Erwiderung habe ich nie darauf bekommen. Hier wird offenbar der Versuch unternommen, in weiteren Kreisen, die mit der Materie nicht hinreichend vertraut sind, durch den Gebrauch eines fehlerhaften Arguments zu überzeugen. Tatsächlich wird in einer Weise multipliziert und potenziert, daß darüber die Voraussetzungen vergessen werden, unter denen die Schlüsse berechtigt wären (vgl. MAHNER, 1986) .

Zunächst läßt sich demonstrieren, daß das oben beschriebene Experiment von KEEFE und SZOSTAK (und eine Reihe weiterer) auf der Grundlage der von Antievolutionisten gebrauchten wahrscheinlichkeitstheoretischen Voraussetzungen gar nicht hätte erfolgreich verlaufen können:


Wären nämlich die Voraussetzungen, die Antievolutionisten ihren Wahrscheinlichkeitsberechnungen zugrundelegen, auch nur annähernd richtig, müßte im Hinblick auf das Experimentalergebnis von KEEFE und SZOSTAK jetzt folgende Rechnung aufgemacht werden:

Bei einem der evolutionär (in vitro) erzeugten Funktionsproteine bilden 45 der insgesamt 80 Aminosäuren das "aktive Zentrum". Die Bildewahrscheinlichkeit beträgt demnach 1 : 2045, also ungefähr 10-60. Mit anderen Worten: Hätten die Forscher alle Ozeane dieser Erde mit einem Gemisch aus lauter völlig verschiedenen Proteinmolekülen gesättigt und die Prozedur in jeder Sekunde (!) seit Bestehen des Kosmos (seit 14 Milliarden Jahren) unter völlig neuen Startbedingungen wiederholt, könnten sie guter Hoffnung sein,  zum gegenwärtigen Zeitpunkt gerade einmal "ein Polypeptid mit 45 konstanten Positionen" und den gewünschten katalytischen Eigenschaften zu finden. Es scheint also völlig ausgeschlossen, daß die Forscher im Labor auch nur eines der erwähnten Funktionsproteine zu erzeugen in der Lage sind. Im Experiment wurden jedoch gleich mehrere Proteinfamilien entdeckt und damit die antievolutionistischen Voraussetzungen widerlegt (wenn man so will: als "Glaubensinvestitionen ohne Kongruenz mit der Realität" enttart), sofern man nicht annehmen will, daß auch just für die Experimentalergebisse der "gezielt-intelligente" Eingriff einer transnaturalen Wesenheit notwendig war.    


                   

Allgemein läßt sich zeigen, daß man mit diesem Argument alle Ereignisse beliebig unwahrscheinlich machen und sie als nichtrealisierbar ausgeben könnte:

Man denke sich einen Spieler, der die Aufgabe bekäme, hundertmal in Folge zu würfeln und die Zahlen der Reihe nach auf ein Blatt Papier zu schreiben. Jetzt läßt sich feststellen, daß die Wahrscheinlichkeit, die realisierte Zahlensequenz zu bekommen (1/6)100, also "fast Null" beträgt. Der Auffassung des Kreationismus entsprechend muß nun der Schluß gezogen werden, daß die Entstehung solcher Zahlenreihen "außerhalb des Bereichs der Wahrscheinlichkeit der sich auf unserer Erde abspielenden Zufallsprozesse" liege. Tatsächlich lassen sich jedoch beliebig viele - wenn auch jedesmal verschiedene, niemals wieder dieselben - gleich unwahrscheinlichen Zahlenfolgen erwürfeln.  

Der entscheidende Punkt ist hierbei, daß beim Würfeln keine Notwendigkeit besteht, eine ganz bestimmte Konfiguration (wie sie beobachtet wird) so und nicht anders zu realisieren. Die Unwahrscheinlichkeit jeder einzelnen Konfiguration wird durch eine immens große Zahl an alternativen (potentiellen) Konfigurationsmöglichkeiten aufgewogen. Anders ausgedrückt:

Jeder ungekoppelte Zustand ist Ausdruck einer großen Entscheidungsfreiheit, die mit einem geringen Maß an Entscheidungsnotwendigkeit und daher mit einer großen Zahl an Realisierungsmöglichkeiten korreliert.  

Ganz entsprechend verhält es sich in der Evolution. Sie "spielt" gewissermaßen mit den Nucleotidbasen und Genen solange, bis eine bestimmte Konfiguration entsteht, die dem System irgend einen beliebigen Adaptationsvorteil beschert. An das jeweils Erreichte schließen sich (wie beim Würfeln) weitere Schritte an, die positiv selektioniert werden. Damit erreicht der Organismus stufenweise eine größere Komplexität (und rückblickend auch einen "unwahrscheinlicheren" Zustand). Es herrscht jedoch keine Notwendigkeit, jeweils ganz bestimmte Entwicklungsschritte zu kumulieren, denn es gibt unabschätzbar viele Möglichkeiten, ein System selektionspositiv weiterzuentwickeln, während wir immer nur eine einzige - nämlich die tatsächlich realisierte - beobachten können.

Etwas anders verhält es sich unter Berücksichtigung der Kopplung von elementaren Strukturen zu einem komplexen Organ (was der Verschaltung oder Synorganisation zu einem Funktionssystem entspricht). Steigende "Systemisierung" führt zu vermehrter Entscheidungsnotwendigkeit (also zu einer sinkenden Zahl an Anpassungsmöglichkeiten), weil die Genfunktionen ein kompliziertes Wirkungsgefüge bilden und der Spielraum der möglichen, selektionspositiven Möglichkeiten zunehmenden Beschränkungen obliegt. Die Systemisierung bringt kurzerhand Folgelasten mit sich, die gleichzeitig durch weitere passende Mutationen ausgeglichen werden müßten.

Was jedoch nicht unberücksichtigt werden darf ist der Umstand, daß die steigende Vernetzung von Organen zu einem komplizierten Gesamtbauplan wiederum zu einer Erhöhung der Realisierungschance eines bestimmten Zustandes führt, weil jetzt das Evolutionsgeschehen immer mehr dem Zufall entzogen wird, die Evolution gewissermaßen eine "Kanalisierung" erfährt:

"Die Erfolgschancen der Zufallsänderung von Entscheidungen und jene der Notwendigkeiten der Ereignisse (der Merkmale) sind voneinander nicht unabhängig (...) Dabei zieht das Wachsen bestimmter Notwendigkeiten einen Abbau der Möglichkeiten des Zufalls nach sich, während dieses verringerte Repertoire der Entscheidungen eine Kanalisation der möglichen Ereignisse zur Folge hat (...) Die funktionelle Bürde vieler Merkmale und der selektive Ausschuß wachsen. Gleichzeitig aber werden im Fall gleichbleibender Anpassungsziele zahlreiche Entscheidungen redundant (...) Der Anpassungsvorteil steigt dabei exponentiell mit der Zahl der vermeidbaren Entscheidungen, wobei die Zunahme der Realisierungschancen eines bestimmten Zustandes wieder der Abnahme der Möglichkeiten des Zufalls entspricht (...)"

(RIEDL, 1990, S. 352 f.)

                                                                         

Schließlich konnte VOLLMER zeigen, daß Berechnungen, wie sie etwa JUNKER und SCHERER am Beispiel der Entstehung des Bakterienmotors präsentieren, wenig Relevanz besitzen sind, weil hier nicht nur die Entscheidungsfreiheit der Evolution, sondern auch die Möglichkeit von morphologischen Strukturen und Genen Doppelfunktionen zu besitzen oder gänzlich nichtadaptiert (selektionsneutral oder an selektionspositive Gene gekoppelt) zu entstehen, völlig unberücksichtigt bleibt (vgl. JUNKER und SCHERER, 1998, S. 129 ff.). Entsprechend muß ein koadaptiertes System nicht spontan "als Ganzes" entstehen, sondern kann stufenweise über bereits vorhandene Funktionselemente, die eine Doppelfunktion oder aber noch gar keinen Selektionsvorteil besitzen, aufgebaut werden. So hat VOLLMER am Beispiel der Entstehung des Auges oder des Flugapparats der Vögel aufgezeigt, wie die Entwicklung erfolgen konnte und so die Kalkulationen zur Unwahrscheinlichkeit von LÖNNIG, 1989 widerlegt (das hierbei in Betracht zu ziehende Synorganisationsproblem wurde bereits diskutiert; siehe oben, VOLLMER, 1986, S. 23 ff. sowie meinen Essay zum Thema "Makroevolution": http://www.martin-neukamm.de/junker3.html)

                                 

Ein weiterer Aspekt, der bei der Erhebung von Wahrscheinlichkeiten meist unbeachtet bleibt, ist, daß die Entstehung neuer Gene oder Proteine gar nicht völlig regellos und zufällig vor sich geht, wie landläufig gemeint wird. Die Bildung einer Nucleotidkette erfolgt ab einer bestimmten Größe matrizengesteuert, was zur Folge hat, daß sich bestimmte Konfigurationen bevorzugt ausbilden. Auch der Austausch von Aminosäuren (oder Nucleotidbasen) gegen andere erfolgt nicht total zufällig, sondern hängt von physico-chemischen Faktoren ab. Die inhärenten chemischen Eigenschaften greifen enorm in die Zufallsverteilung der Substitution ein, in der Evolution wird mit anderen Worten der Zufall zurückgedrängt.

Selbst die abiotische Entstehung von Proteinoiden durch Verkettung von Aminosäuren erfolgt nicht stochastisch sondern läuft nach thermodynamischen und reaktionskinetischen Regeln ab. Die Aminosäuresequenzen werden durch die chemischen Eigenschaften der Aminosäuren selbst sowie durch die Reaktionsbedingungen beeinflußt (vgl. FOX, 1965 und KÄMPFE, 1992). Anthropomorph gesprochen spielt die Natur gewissermaßen mit "gezinkten Karten".


Zu den Paradebeispielen in der Frage der Wahrscheinlichkeiten zählt das Cytochrom- c, ein Enzym, das aus 104 Aminosäuren besteht und in der Atmungskette eine wichtige Aufgabe übernimmt. Antievolutionisten rechnen nun vor, daß die Wahrscheinlichkeit, das Enzym durch Zufall zu erhalten, bei 20 verschiedenen Aminosäuren 20-104, also "fast Null" beträgt. Hier wird aber übersehen, daß nur 34 der 104 Aminosäuren das aktive Zentrum des Enzyms bilden, das für die katalytische Funktion des Enzyms verantwortlich ist. Die restlichen Aminosäuren sind weitgehend frei wählbar. Außerdem wird verkannt, daß das Protein nicht von Beginn an seine spezielle und optimale Funktion, die es heute einnimmt, zu besitzen brauchte. Es hätte schon genügt, wenn das Enzym irgendeine Funktion als Elektronenüberträger (oder eine beliebige andere Funktion) besaß, die den Organismen einen Überlebensvorteil bot. Seine heutige Funktion hätte es auch später durch Kettenverlängerung oder durch entsprechende Mutationen erreichen können. Selbst für den Fall einer völligen Zufallsentstehung (eine Annahme, die wie wir gesehen haben, aufgrund physico-chemischer Aspekte für biotische Prozesse irrelevant ist) haben DOSE und RAUCHFUSS unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte für das Cytochrom c eine Bildewahrscheinlichkeit von 10-10 (und nicht "fast Null") berechnet, wodurch die Realisierungschance in den Bereich des Wahrscheinlichen rückt (vgl. DOSE und RAUCHFUSS, 1975, S. 185 f.; MAHNER, 1986)


Zu ähnlichen Resultaten gelangte auch KAPLAN, der die "Funktionsproteinchance" (also die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung eines ganz bestimmten Proteins) mit 10-10 bis 10-14 abschätzte (vgl. KÄMPFE, 1992).

Zusammenfassend erkennt man also, daß die Wahrscheinlichkeitsberechnungen nicht das leisten, was sich Antievolutionisten erhoffen. Die angenommenen Voraussetzungen erweisen sich als falsch, weil sich Berechnungen, welche die physico-chemischen (selektiven) Aspekte sowie die Entscheidungsfreiheit in der Evolution unberücksichtigt lassen, als irrelevant herausstellen.

                      

D.  Nachbetrachtung

LÖNNIGs Antwort auf meine Arbeit zum LEDERBERGschen Stempelversuch fiel unerwartet schroff aus, was man dem Umstande zuschreiben kann, daß es ihm kaum gelungen ist, in der Sache etwas Substantielles beizutragen, denn die Argumentation gegen Evolution findet fast ausschließlich auf einem methodologischen Boden statt, der mit den Methoden der Naturwissenschaft nicht in Einklang zu bringen sind.

Um grundsätzlichen Mißverständnissen vorzubeuen: Niemand wollte LÖNNIG fachliche Inkompetenz vorwerfen (seine Kenntnislücken erstrecken sich - soweit mir bekannt ist -  hauptsächlich auf den wissenschaftstheoretischen Bereich). Daher sollte man LÖNNIG nicht ankreiden, daß er offenkundig noch nie etwas von der hypothetico-deduktiv-schlußfolgernden Methode der Wissenschaft oder der Unhaltbarkeit des Empirismus gehört hat. Auch nicht vorwerfen sollte man LÖNNIG die Fragwürdigkeit seiner Aussagen im Hinblick auf die "rekurrente Variation", die Entstehung neuer Funktionsgene, zur Frage der Wahrscheinlichkeit oder die fehlende Kenntnis auf dem Gebiet der neuesten Ergebnisse zur molekulargenetischen und Genomforschung. Niemand kann heute mehr überall Bescheid wissen, und ich selbst bin nicht frei von Fehlern (1).

Was wir jedoch mit aller Entschiedenheit zurückweisen müssen ist die Tatsache, daß ihn solche Defizite nicht daran hindern, sich unter Berufung auf dessen irrige, zugleich aber höchst dezidiert vertretene Behauptungen und Schlüsse sein eigenes methodologisches Gebäude zu errichten, von dem aus er mit Verachtung auf seine Fachkollegen berabblickt und ihnen die schwersten fachlichen, logischen und charakterlichen Verfehlungen vorwirft (2). In dieses Gesamtbild fügt sich auch der folgende Kommentar würdig ein, der nur einmal mehr als Beleg dafür zu werten ist, daß LÖNNIG offenbar einzig an der Destruktion einer vermeintlich konkurrierenden, wissenschaftlichen Theorie und der infamen Verleumdung ihrer Adepten gelegen ist: 

W.-E.L. (15):

"In der nun folgenden geschichtlichen Einführung von Herrn N.N. zu den Lederbergschen Versuchen wimmelt es nur so von historisch ungenauen und falschen Behauptungen. Wenn man vielleicht auch einwänden kann, dass die genaue Historie des Neodarwinismus für die eigentlichen Fragen nach den Faktoren und Abläufen des Ursprungs der Organismenwelt vergleichweise unbedeutend ist (wie oben schon angedeutet), so wirft die Fehlerhaftigkeit von N.N.s Ausführungen jedoch ein Schlaglicht auf seine generelle "Methodik", die er auch bei seinen naturwissenschaftlichen Ausführungen praktiziert. Anstatt gründlich nachzuforschen, wie es sich tatsächlich verhält, erfindet N.N. die Geschichte so, wie er sie aufgrund seiner mangelhaften Kenntnisse zur Thematik für möglich hält und gibt dann dieses Phantasieprodukt als wahre Historie aus.

                                         

Nachdem es mir jedoch unter fachlichem Beirat, wissenschaftstheoretisch begründet sowie unter Rekurs auf empirische Daten und zum Teil mit Blick auf die neueste Literatur gelungen ist, LÖNNIG über ein Dutzend Falschbehauptungen nachzuweisen, erscheint diese Einschätzung irrelevant. Dies gilt umso mehr, je menschenverachtender die Auseinandersetzung letztlich geführt wird (LÖNNIG hatte mich - und in ähnlicher Form auch andere - (coram publico!) bereits als alles mögliche, zum Beispiel als "im Geiste äußerst beschränkten ('very simple minded'), aber äußerst aggressiven ('but very aggressive'), bornierten und verlogenen Neodarwinisten" bezeichnet.) (2)

Wie sich schnell herausstellte, hat LÖNNIG diejenigen Punkte, die seine Auffassung widerlegen oder zumindest infrage stellen, vollkommen ausgeklammert, so daß sich schließlich auch die folgende Behauptung als unwahr erwies:

W.-E.L. (16):

„Im Folgenden diskutiere ich die Aussagen des Verfassers (N.N.) Satz für Satz, indem ich zunächst seine Behauptungen vollständig wiedergebe, um dann - orientiert an den historischen und biologischen Tatsachen - eine sachliche Kritik durch Umformulierungen mit Begründungen vorzunehmen (...)"

                                           

An dieser Stelle seien beispielsweise auf meine Ausführungen zu dem von LÖNNIG diskutierten Dilemma von HALDANE verwiesen, dessen Berechungen und Schlußfolgerungen schon von WALLACE klar widerlegt wurden, indem er zeigen konnte, daß er sich fehlerhafter Rechen-Modelle bediente. Da LÖNNIG meinen Text gelesen hat, darf man davon ausgehen, daß er mit der Widerlegung von Wallace vertraut ist. Anstatt jedoch seinen Irrtum einzugestehen, zog er es vor, den für ihn unangenehmen Punkt auszuklammern und weiterhin auf der Richtigkeit von Haldanes Schlußfolgerungen zu beharren! (Der Leser urteile selbst, ob dies den Anforderungen an eine „vollständige“ und ehrliche Besprechung genügen mag.)

                         

E. Literatur

Appenzeller T (1999) Test Tube Evolution Catches Time in a Bottle, Science, 284, S. 2108-2110

Betz JL, Brown PR, Smyth MJ and Clarke PH (1974) Evolution in action. Nature 247, S. 261-64

Chalmers AF (2001) Wege der Wissenschaft. Einführung in die Wissenschaftstheorie. Springer, Berlin, 5. Auflage

Dose K, Rauchfuss H (1975) Chemische Evolution und der Ursprung lebender Systeme. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft

Ekland EH, Szostak, JW, Bartel, DP (1995) Structurally complex and highly active RNA ligases derived from random RNA sequences. Science 269, S. 364-370.

Junker R, Scherer S (1998) Evolution - Ein kritisches Lehrbuch, Weyel

Kämpfe L (1992), Evolution und Stammesgeschichte der Organismen, Gustav-Fischer

Keefe AD, Szostak JW (2001) Functional proteins from a random-sequence library. Nature 410, S. 715-718

Kutschera U (2001) Evolutionsbiologie. Eine allgemeine Einführung. Parey-Verlag, Berlin.

Lönnig WE (1989) Auge widerlegt Zufallsevolution. Köln (Selbstverlag)

Long M et al. (2001) Gene Duplication and Evolution. Science, 293, S. 1551 ff.

Mahner M (1986) Kreationismus - Inhalt und Struktur antievolutionistischer Argumentation. Berlin

Mahner M, Bunge M (2000) Philosophische Grundlagen der Biologie, Springer-Verlag, Berlin.

Mayr E (1988) Spezies - warum und wie? In: Mayr E (1988) Eine neue Philosophie der Biologie. Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo, Piper-Verlag. S. 257

Nei M (1987) Molecular Evolutionary Genetics, Columbia University Press, New York

Pennisi E (2001) Genom Duplications: The Stuff of evolution? Science 294, S. 2458-2460

Rainey PB, Travisano M (1998) Adaptive radiation in a heterogenous environment. Nature, 394, 69-72

Remane et al. (1975) Evolution. Tatsachen und Probleme der Abstammungslehre. München

Riedl R (1975/1990) Die Ordnung des Lebendigen. Parey-Verlag, Berlin

Riedl R (2003) Riedls Kulturgeschichte der Evolutionstheorie. Springer

Riedl R, Krall P (1994) Die Evolutionstheorie im wissenschaftstheoretischen Wandel. In: Wieser W (Hrsg.) Die Evolution der Evolutionstheorie. Von Darwin zur DNA. Heidelberg, Berlin, Oxford, S. 234-266

Schultes EA, Bartel DP (2000) One sequence, two ribozymes: Implications for the emergence of new ribozyme folds. Science 289, S. 448-452.

Schuster P (1994) Molekulare Evolution an der Schwelle zwischen Chemie und Biologie. In: Wolfgang Wieser (ed.) Die Evolution der Evolutionstheorie, S. 49-76. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg.

Schuster P (2002) Sequenzen, Strukturen und Phänotypen in der molekularen Evolution. Internet-Artikel unter: http://www.tbi.univie.ac.at/~pks/PUBL/02-pks-006.pdf

Stebbins GL, Ayala FJ (1985) The evolution of darwinism. Sci. Amer. 253, S. 54-64

Tschulok S (1922) Deszendenzlehre. Jena, Gustav-Fischer

Vollmer G (1986) Kann es von einmaligen Ereignissen eine Wissenschaft geben? In: Was können wir wissen? Bd. 2 die Erkenntnis der Natur, Hirzel, Stuttgart

                   

F. Anmerkungen:

(1) (Änderung 24.08.03): Ungeachtet persönlicher Animositäten muß ich fairerweise einräumen, daß es LÖNNIG gelungen ist, einige in meiner älteren Arbeit über den LEDERBERGschen Stempelversuch erhobenen Behauptungen fachlich fundiert infragezustellen. Nach jahrelanger Beschäftigung mit dem Thema Evolution/ Antievolutionismus bin daher auch ich zu dem Schluß gelangt, daß zahlreiche der dort vertretenen Positionen zu apodiktisch formuliert, teilweise "naiv" und/oder sachlich nicht haltbar sind. Abgesehen von meinen historischen Ungenauigkeiten hat LÖNNIG Recht, wenn er behauptet, daß weder die Resultate des Stempelversuchs oder eines anderen Bakterienexperiments bereits eine "Gesamt-Evolution beweisen", noch daß das alleinige Wirken von Selektion/Milieuselektion bereits Evolution hinreichend erklärt. Ferner haben mir meine wissenschaftstheoretischen Studien vor Augen geführt, daß die "naive Beweisterminologie" sowie die alleinige und vermeintlich theoriefreie Anwendung der induktiven (experimentellen)  Methode (beide widerlegten Extrempositionen werden von LÖNNIG und anderen Antievolutionisten noch heute uneingeschränkt vertreten!) in der Wissenschaft nicht in konsistenter Form anwendbar bzw. möglich ist (so gilt heute der von POPPER scharf kritisierte Empirismus weitgehend als überwunden - nähere Erläuterungen im Text). Da ich kurzerhand nicht mit fragwürdigen Argumenten überzeugen möchte, folgt an dieser Stelle eine Neubewertung der Diskussion.

Dies sollte LÖNNIG keine Rechtfertigung liefern, um sich im Tone triumphierender und z. T. extrem menschenverachtender Herablassung über seine "Konkurrenten"und deren Lernprozesse zu echauffieren. So hat sich immer wieder gezeigt, daß er allen Diskussionen über wissenschaftstheoretische Hauptfragen, die ihn zwingen würden, sein Weltbild bzw. seine methodologische Position infragezustellen, beharrlich aus dem Wege geht (vgl. Haupttext sowie beispielsweise: http://www.vdbiol.de/debatten/evolution/neukamm4.html; http://www.martin-neukamm.de/junker).

LÖNNIGs Diskussion ist unter folgender URL einsehbar: http://www.weloennig.de/Bakterienresistenzen.html

(2) Ich möchte hier besonders hervorheben, daß sich in dieser Frage viele andere Evolutionskritiker, wie etwa JUNKER und SCHERER wohltuend von LÖNNIG abheben. Deren Texte sind überwiegend fair, sachlich und ohne polemische Attitüden verfaßt; menschenverachtende, persönlich verletzende Herabsetzungen und böswillige Diffamierungskritiken wird der Leser dort vergeblich suchen. Besonders gut gefällt mir, daß sie versuchen, schöpfungstheoretische Überlegungen in ihre Kritik einzubeziehen; das heißt sie messen oft ihre eigenen Positionen an den Argumenten, die sie gegen Evolution ins Felde führen. Darüber hinaus versuchen sie, die Argumente der "Gegenseite" wirklich zu verstehen und verschließen sich nicht von vorn herein dogmatisch jeder wissenschaftstheoretischen Grundsatzdiskussion (vgl. dazu: http://www.martin-neukamm.de/rezension_junker2.html).

_____________________________________________________________________                 

G. Nachträge:

1.) Was ist ein "wirklich neues" Gen?

Wenn darüber gesprochen wird, welche molekulargenetischen Ergebnisse die Entstehung neuer Funktionsgene belegen, sollte man zunächst die Frage erörtern, was man unter einem "neuen" Funktionsgen oder -Protein überhaupt zu verstehen hat. Dazu ist es ganz aufschlußreich, LÖNNIGs Antwort auf diese Frage zu beleuchten. LÖNNIG schreibt:

W.-E. L. (17): "Dabei verstehe ich insbesondere im Zusammenhang mit dem Begriff Makroevolution unter "neuen" Genen und Enzymen nicht solche, die zu 99% (und mehr) noch mit den "alten" Sequenzen identisch sind, sondern solche, die 'wirklich neue' Sequenzen aufweisen."

                       

Zunächst fällt auf, daß LÖNNIG (nachdem er mir wiederholt vorgeworfen hatte, ich sei nicht in der Lage, Beispiele von "neuen Funktionsgenen" zu zitieren), jetzt plötzlich nichts mehr von der Funktionalität als Kriterium qualitativer Neuheiten wissen will, sondern auf die Sequenz(un)ähnlichkeit als Bewertungskriterium ausweicht. Diese Position ist ontologisch höchst problematisch, denn erstens wird an keiner Stelle näher ausgeführt, was LÖNNIG unter "wirklich neuen" Sequenzen zu verstehen gedenkt und zweitens führt diese Auffassung zu reichlich absurden Konsequenzen.

Dem Leser, der sich bislang noch kein Bild über molekulargenetische Mechanismen der Genbildung machen konnte, soll kurz erläutert werden, wie nach heutigem Verständnis Gene (in Anlehnung an KÄMPFE, 1992) u.a. entstehen: Zunächst muß eine "alte" Sequenz verdoppelt (dupliziert) werden. Dieses Duplikat kann dann durch Genmutation verändert ("umsequenziert") werden, woraus der Evolution gewissermaßen eine "Spielweise" erwächst. Das abgewandelte Gen wird sich zunächst durch eine hohe Sequenzähnlichkeit relativ zu der "alten" Sequenz (dem "Urgen") auszeichnen. Nach und nach wird infolge der Genmutation der Grad der Ähnlichkeit allmählich abnehmen.

           

Wollte man nun die Entstehung eines "wirklich neuen" Gens nach dem Grade der Ähnlichkeit (von Sequenzen) und nicht nach ihrer funktionellen Bedeutung beurteilen, wie LÖNNIG vorschlägt, dann wären zwei sequenzähnliche Gene, die jedoch u. U. schon völlig verschiedene Funktionen erfüllen (und daher zweifelsfrei neue Gensorten darstellen, wie z.B. die von REMANE erwähnten Neurohypophysen-Hormone Mesotocin und Vasopression) keine "wirklich verschiedenen" oder neuen Gene! Wo aber wäre dann die Grenze zu ziehen - bei einer Sequenzähnlichkeit von 80 - 50  oder 10%? Solche rein quantitative Grenzziehungen beruhen auf Konvention und können daher keine ontologische Bedeutung haben.

Dieses Spiel könnte man schließlich auf der atomaren Ebene weitertreiben und z. B. behaupten, mit der Umwandlung eines Urankerns in ein stabiles Blei-Isotop ontologisch keine "wirklich neue Atomsorte" erhalten zu haben, denn schließlich sind beide Isotope (auf subatomarer Ebene) einander sehr ähnlich: Beide bestehen aus (ähnlich vielen) Protonen, Neutronen und Elektronen; das Blei-Isotop ist also "nicht wirklich" ein neues chemisches Element. Damit wären dann auch so verschiedene Dinge wie ein Stück Metall oder ein Kunststoff keine "wirklich verschiedenen" Stoffsorten. Die Folge ist ein radikaler Reduktionismus, der den Emergenzbegriff der Wissenschaft vollkommen ad absurdum führt!

           


Neuer Nachtrag (24.08.03): LÖNNIG hat in seiner Diskussion (ohne daß ich bisher davon wußte) seine Definition eines "wirklich neuen" Gens zwischenzeitlich nachgetragen. Darunter versteht er "a novel protein that has no significant similarity to any known sequence identified to date" (Hervorhebungen von LÖNNIG). Also sind Gene nur dann "wirklich" neu, wenn sie überhaupt keine signifikanten Ähnlichkeiten mit den uns bekannten Genen aufweisen.

Damit ist natürlich vollkommen klar, daß gemäß dieser Definition restlos alle homologen, durch Genduplikation/Genmutation entstandenen bzw. in Abstammungsrelation zu einem uns bereits bekannten Gen stehenden Genen von vorn herein nicht als Evolutionsbelege anerkannt werden, völlig gleichgültig, wie radikal sich deren funktionale Eigenschaften von anderen Genen auch unterscheiden mögen. Selbstverständlich wären dann die meisten "makroevolutionären" Umbildungen und evolutionären Neuheiten auch keine "wirklichen Neuheiten", denn diese entstehen in der Regel durch Abwandlung bereits vorhandener Strukturen und Funktionen.

Auch im Falle solcher Gene, die LÖNNIG als "wirklich neu" bezeichnet, müßte man zunächst auf "Repetitivität" prüfen. Denn ein "radikal neues" Gen (also ein solches, das keine strukturellen Ähnlichkeiten mit anderen Genen aufweist) kann z. B. auch durch die wiederholte Genduplikation vieler kleiner DNA-Abschnitte entstehen. In solch einem Falle bestehen die Gene aus der vielfachen Wiederholung (Repetition) immer derselben (bereits vorhandenen) Grundsequenzen und sind somit auch keine "wirklich neuen" Gene. Auch solche repetitiven Gene deuten also - selbst wenn sie sich von den Sequenzen anderer Genen signifikant unterscheiden - auf Genduplikation (Evolution) hin. Der Prozeß läßt sich jedoch kaum empirisch verfolgen, denn solche Mehrfachduplikationen - gefolgt von zahlreichen "Shuffling-Schritten" - dürften Jahrmillionen in Anspruch nehmen.

Kurzum: LÖNNIGs Definition "wirklicher Neuheiten" ist darauf angelegt, die Entstehung evolutionärer Neuheiten per definitionem auszuschließen bzw. es von vorn herein in den Bereich der "Makroevolution" zu verschieben! Da  der Mechanismus Genduplikation/Genmutation die Entstehung "radikaler (nichthomologer) Neuheiten" nicht leisten kann, kann er folgerichtig auch nichts zur "Makroevolution" beisteuern. So können dann "ganz bequem" alle Evolutionsbelege zurückgewiesen werden. Es steht außer Frage, daß solch eine Umdefinition von "qualitativer Neuheit" (siehe 2.) "Mikro- und Makroevolution") nicht diskursfähig ist.


                                                                                                

2.) "Mikro- und Makroevolution"

Gegen die meisten experimentell erzeugten Neuheiten wird natürlich regelmäßig eingewendet, daß es sich "nur" um den Nachweis von "Punktmutationen" bzw. um Fälle von "Mikroevolution" handele, nicht aber um "Makroevolution":

W.-E.L. (18):

" (...) Tatsache ist allerdings, dass die evolutive Bedeutung von Mutation und Selektion bis auf den heutigen Tag nur für die Mikroevolution nachgewiesen ist, und selbst dort nur in begrenztem Maße."

                        

Dies trifft jedoch - wählt man LÖNNIGs Aussage (17) als Maßstab - zum einen nicht auf die neuesten in vitro-Evolutionsexperimente von EKLAND et al. sowie KEEFE und SZOSTAK zu (siehe dazu vor allem die wahrscheinlichkeitstheoretischen Betrachtungen im Haupttext)!

Zum anderen handelt es sich bei der Unterscheidung zwischen "Mikro-" und "Makroevolution" um eine nicht unumstrittene Begriffstrennung: Wo hört Mikroevolution auf, wo beginnt Makroevolution?

Oft wird behauptet, im Falle von Makroevolution müßten völlig andere und neuartige Mechanismen wirken als im Falle von Mikroevolution. An dieser Feststellung ist zwar richtig, daß das reduktionistische "Mutations-Selektions-Erklärungsschema" der Synthetischen Evolutionstheorie nicht ausreicht, um alle Evolutionsphänomene (vollständig) zu erklären. Daher spricht rein formal sicher nichts dagegen, solche Phänomene, die sich allein durch Mutation/Milieuselektion erklären lassen, als Fälle von "Mikroevolution", dagegen solche Phänomene, für deren Erklärung das konventionelle Schema allein nicht ausreicht, als "Makroevolution" zu bezeichnen.

Da es sich hier allerdings um ein erkenntnistheoretisches Problem zu handeln scheint, ist nicht ausgeschlossen, daß z.B. systemtheoretische Zusammenhänge, die in der Standardtheorie der Evolution nicht berücksichtigt werden (allgemein aber zu Erklärung von "Makroevolution" benötigt werden) auch bei Vorgängen, die allgemein "noch" als Fälle von "Mikroevolution" verstanden werden, eine Rolle spielen. So weisen beispielsweise LÖNNIG und SAEDLER, 2002 darauf hin, daß "chromosome rearrangements", eigengesetzliche Variationen, "developmental constraints" usw. bereits bei "einfachen" ("mikroevolutionären") Umwandlungen zum Tragen kommen und im Rahmen der jeweiligen Systembedingungen verstanden werden müssen - daß also mit anderen Worten selbst in solchen Fällen das Mutations-Selektions-Erklärungsschema keine vollständigen Erklärungen liefert.


Wenn (falls) also z. B. kooperative (synergetische) und entwicklungsbiologische - in der "Makroevolution" auftretende - Effekte bereits in zahlreichen Fällen von "Mikroevolution" eine Rolle spielen und das Mutations-Selektions-Erklärungsschema als simplistisch entlarven, worin besteht (oder bestünde) dann das qualitativ benennbare Abgrenzungskriterium zwischen "Mikro-" und "Makroevolution"? Handelt es sich dann wirklich um eine streng ontologisch (!) gerechtfertigte Unterscheidung?

Dazu schreibt MAHNER:

"... worauf es in der Evolution ankommt, ist die Entstehung qualitativer Neuheit, die Entstehung von Neuartigem. Ontologisch ist es unbedeutend, wieviele Neuheiten zusammenkommen müssen, um von einer neuen Art zu sprechen. Neue Sorten sind auch schon ontologisch neue Arten von Dingen. Nur die Biologen bevorzugen einen etwas strenger definierten Artbegriff, d.h. sie sprechen in der Regel erst dann von einer neuen Art, wenn sich so viele qualitative Veränderungen angesammelt haben, daß reproduktive Isolation vorliegt. Es erscheint mir daher sinnvoll, ontologische Arten von taxonomischen Arten zu unterscheiden, wobei alle taxonomischen Arten ontologische Arten sind, aber nicht umgekehrt. Ein Unterschied zwischen Mikro- und Makroevolution ist daher ontologisch nicht zu rechtfertigen."

(MAHNER, 1998; URL: http://www.iavg.org/iavg027.htm)     -     Hervorhebungen von mir

                             

LÖNNIG (z. B. W.-E.L. (17)) glaubt, das grundsätzliche Problem der "Makroevolution" bestehe im Entstehen und "Neu-" und Umarrangieren von Genen und Genwirkketten. Doch kann es nicht (z. B. durch das erwähnte "chromosome rearrangement") auch im Falle von "Mikroevolution" bereits zu genetischen Umgestaltungen kommen? Und haben wir mit der Entstehung einer neuen "Enzym-Variante" nicht schon etwas qualitativ Neues geschaffen, falls sie eine neue Funktion ausübt? Bei Bakterien bekommen wir etwa durch Variation eines (eventuell duplizierten) Enzyms eventuell den Abbau eines neuen Substrates (siehe obige Beispiele). Haben wir hier nicht schon einen qualitativ neuen Enzymtyp erreicht?

Es kommt hinzu, daß in Fällen "makroevolutionärer" Umbauschritte, wie z.B. bei der von Evolutionsgegnern oft angeführten Entstehung des komplizierten "Echolot-Systems" der Fledermäuse, "(...) alle beteiligten Strukturen im Prinzip bereits vorhanden sind: Stimmbildung, Ohren, Gehirn, Bewegungskoordination. Die notwendige evolutive Veränderung beschränkt sich somit hauptsächlich auf die Funktionen dieser Strukturen" (MAHNER, a.a.O.). Damit entfällt auch der Einwand, das Charakteristikum "mikroevolutionärer" Prozesse bestehe darin, es lediglich mit "Variationen" von "bereits vorhandenen Strukturen" zu tun zu haben.  

                       


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Dipl.-Ing. (FH) Martin Neukamm, 09.02.2002                                                 Last update: 24.08.2003