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Martin Neukamm (2003):

Einige Fehlinformationen in W.-E. LÖNNIGs Buchkritik zu Kutscheras Evolutionsbiologie (2001)

                                                                                   

1. Einführung

2. Sachkritik an LÖNNIGs "Buchrezension"

2.1. Antibiotikaresistenzen bei Bakterien       

2.2. Industriemelanismus bei den Birkenspannern als Beispiel für Selektion

2.2.1. Halten sich Birkenspanner auf Baumstämmen auf?

- Einwände von LÖNNIG -

2.2.2. Die Unabhängigkeit des Selektionsszenarios von mechanistischen Detailfragen   

- Über den Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und Melanismus: Einwände von WELLS und LÖNNIG  -  

2.2.3. Über Anomalien im Zusammenhang zwischen Melanismus und Luftverschmutzung

- Müssen die Lehrbücher neu geschrieben werden? -                                       

2.2.4. Wurden KETTLEWELLs Experimente "gestellt"?     

2.2.5.   Der Evolutionsgegner WELLS und dessen Kritik an der "Birkenspanner-Story"

3. Literatur                                                   

                                                

1. Einführung:

In der Dezemberausgabe 2002 der Fachzeitschrift Biologen heute erschien ein Leserbrief des Evolutionskritikers W.-E. LÖNNIG, der sich gegen den Biologieprofessor U. KUTSCHERA richtet. KUTSCHERA hatte das Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung in Köln, an dem LÖNNIG arbeitet, im Vorfeld darauf aufmerksam gemacht, daß dieser unter dem Banner der renommierten Forschungseinrichtung antievolutionistische Thesen im Internet verbreitet. Dabei gab er zu bedenken, daß LÖNNIGs obskurante Thesen im Namen der Max-Planck-Gesellschaft abgestützt würden. Obgleich ich KUTSCHERAs Beweggrund vollkommen verstehe, halte ich die Vorgehensweise (LÖNNIGs MPI-Homepage wurde mittlerweile gesperrt) für nicht unproblematisch, liefert sie doch den Evolutionsgegnern die Möglichkeit, die Angelegenheit polemisch aufzubauschen. Tatsächlich wird KUTSCHERA auf LÖNNIGs privater Homepage sowie in der Diskussionsreihe des VdBiol mit infamen Kritiken brüskiert und menschlich wie fachlich in Mißkredit gezogen.

Ein sicher extremes Beispiel verkörpert LÖNNIGs "Buchrezension", in welcher er das Lehrbuch "Kutschera (2001) Evolutionsbiologie. Eine allgemeine Einführung" beleuchtet und ihm das Verbreiten "gravierender Fehlinformationen" unterstellt. Die Besprechung von LÖNNIGs Kommentaren gegen KUTSCHERAs "Verbotsversuche" erspare ich mir an dieser Stelle (wer sich für meine Auffassung dazu bzw. für die in Biologen heute stattfindenden Diskussion interessiert, kann diese an dieser Stelle mitverfolgen). Hier soll nur erörtert werden, was von LÖNNIGs Buchkritik zu halten ist.

                                                                                                                 

2. Sachkritik an LÖNNIGs "Buchrezension"              

Zunächst fällt auf, daß LÖNNIGs Kritik ("Einige gravierende Fehlinformationen in Herrn U. Kutscheras Lehrbuch Evolutionsbiologie; Parey Buchverlag Berlin 2001") in der Form eigentlich keine Buchbesprechung darstellt. Die Grundaussagen der einzelnen Kapitel werden nicht erörtert, eine Inhaltsangabe fehlt komplett, ein umfassendes Resümmee wird nicht gezogen. Da der größte Teil der im Buch erwähnten Argumente gar nicht abgehandelt und auch die Kreationismuskritik nur am Rande besprochen wird, fragt man sich, warum die Invektive überhaupt mit "Rezension" übertitelt wird. Thematisiert werden lediglich einige aus dem Zusammenhang herausgenommene Zitate, die überwiegend polemisch abgehandelt und mit ad hominem-Kritiken überspielt werden. Immerhin finden sich in der Generalabrechnung sachliche Einwände zu ganzen vier Punkten. Zwei davon wollen wir im folgenden zur Diskussion stellen.

                                                 

2.1. Antibiotikaresistenzen bei Bakterien

Zur Frage der Antibiotika-Resistenzen liest man bei LÖNNIG folgenden Kommentar:               

"U. Kutschera schreibt in seiner EVOLUTIONSBIOLOGIE 2001, p. 227, zu den Antibiotikaresistenzen: 'Diese auf Mutation/Selektion basierende rasche Bakterienevolution ist in Krankenhäusern zu einem großen Problem geworden.' Nach meinen Erfahrungen erhält der mit den Tatsachen nicht vertraute Leser bei solchen und ähnlichen Aussagen den Eindruck, als gingen die Antibiotikaresistenzen in den Krankenhäusern direkt auf eine durch Mutation und Selektion verursachte Bakterienevolution zurück. Der 'Faktor' Selektion ist zwar zutreffend, tatsächlich aber stehen die Mutationen hier nur an zweiter Stelle und die genetische Hauptursache wird von dem Autor überhaupt nicht genannt (...) 'Grundlagen der Resistenzentwicklung sind Mutationen, Rekombinationen (beides selten) und (häufig) der Erwerb von Plasmiden, die Resistenzgene tragen' (Zetkin/Schaldach 1999, p. 1724; bold auch in diesem und den obigen Zitaten von mir)."

                                                             

Diese Auffassung wird im weiteren durch gut ein Dutzend Zitate untermauert, auf deren Wiedergabe hier verzichtet werden kann. Dennoch beinhaltet diese Position weder ein Argument gegen Evolution noch gegen KUTSCHERAs Aussage. Es gibt eine Reihe von Fachbiologen (darunter auch fachkundige Antievolutionisten), die feststellen, daß alle genetischen Veränderungen als Mutationen aufgefaßt werden können. So lesen wir beispielsweise bei den Evolutionskritikern JUNKER und SCHERER auf S. 99 ihres Evolutionsbuches explizit:

"In weitesten (!) Sinne kann man alle Veränderungen des Erbguts als Mutationen bezeichnen (...)"

(JUNKER und SCHERER, 1998)

                                                                       

In dem Lehrbuch werden auf Seite 101 Rekombinationsprozesse, wie der Gentransfer über Plasmide, ausdrücklich dem Kapitel "Mutationen auf molekularer Ebene" (7.1.2) unterstellt - ein Lehrbuch, das LÖNNIG für "hervorragend gelungen" hält. Es ist doch seltsam: Obgleich in einem evolutionskritischen Lehrbuch Rekombinationen zu den Mutationen gerechnet werden, wird das Buch in den höchsten Tönen gelobt. Sobald aber ein Evolutionstheoretiker dasselbe feststellt, wird die Aussage zu einer "Unzulänglichkeit des Autors" herabgestuft, die zum Verriß des ganzen Buchs herhalten muß.    

Doch wie man die Frage auch beantwortet haben will, es handelt sich letzlich nur um einen Streit um Worte. Sobald wir nämlich das Wort "Mutation" durch den Begriff der "Variation" ersetzen, wird deutlich, daß LÖNNIG's "Argumentation" auf Grund läuft. Denn selbstverständlich ist auch Gentransfer ein Variationsmechanismus, also ein Mechanismus zur Veränderung von Genomen, dessen evolutionäre Bedeutung kaum wegdefiniert werden kann. Damit kann man die Diskussion zu diesem Punkt eigentlich schon als erledigt ansehen.       

Doch LÖNNIG bestreitet, daß Antibiotikaresistenzen überhaupt als Beispiele für Evolution infragekommen, handelt es sich doch, wie er behauptet, vorrangig um "Verlustmutationen":                        

"Darüber hinaus handelt es sich bei der zweiten Gruppe der relativ seltenen mutationsbedingten Resistenzen in der großen Mehrheit der Fälle um Verlustmutationen - ein für die (Makro-) Evolutionsfrage entscheidender Punkt, der jedoch ebenfalls nicht im Lehrbuch von U. Kutschera genannt wird (...)"

                                                                                                                          

LÖNNIG setzt hier allerdings stillschweigend eine Terminologie als "Tatsache" voraus, die in der Fachwelt mehr oder minder umstritten ist und daher nicht als "hartes Faktum" gegen Evolution oder KUTSCHERA ins Felde geführt werden kann. Damit ist die Unterscheidung zwischen "Mikro-" und "Makroevolution" gemeint. In der Tat gibt es eine ganze Reihe von Evolutionsbiologen, die plausibel begründen, warum sie diese Unterscheidung für belanglos halten.

Dazu schreibt beispielsweise MAHNER:

"(...) worauf es in der Evolution ankommt, ist die Entstehung qualitativer Neuheit, die Entstehung von Neuartigem. Ontologisch ist es unbedeutend, wieviele Neuheiten zusammenkommen müssen, um von einer neuen Art zu sprechen (...) Ein Unterschied zwischen Mikro- und Makroevolution ist daher ontologisch nicht zu rechtfertigen. Was in der Populationsgenetik als Mikroevolution bezeichnet wird, nämlich die Genfrequenzänderungen in einer Population, sind quantitativer Natur und haben daher mit Evolution nichts zu tun (...) Seit etwa 1910 hat sich (...) die Ansicht durchgesetzt, daß Evolution qualitative Änderung bedeutet, daß Evolution Emergenz bedeutet. Emergenz ist denn auch der allgemein übliche philosophische Terminus für das Auftreten qualitativer Neuheit."

(MAHNER, 1998)

                                  

Wird also, um im Bild der Resistenzfrage zu bleiben, beispielsweise die Struktur eines "Targetproteins" in einem Bakterium derart modifiziert, daß ein Antibiotikum-Molekül nicht mehr angreifen kann, dann handelt es sich hier ja bereits um die Entstehung einer neuartigen (wenn auch nur geringfügig transformierten) Struktur. Und wenn einzig das Auftreten solcher qualitativer Neuheiten für die Evolutionsfrage entscheidend ist, dann macht hier die Unterscheidung zwischen Mikro- und Makroevolution keinen Sinn.

Auch der mögliche Einwand, daß es sich hier um einen Fall von "Funktionsverlust" und allenfalls um eine Umformung von bereits bestehenden Strukturen handelt, hilft hier nicht weiter. Zum einen vollzieht sich die Entstehung "radikaler Neuheiten" in der Evolution generell selten. Das heißt: Auch dann, wenn Antievolutionisten von "Makroevolution" sprechen, beschränken sich die notwendigen evolutionären Entwicklungsschritte häufig nur auf die Veränderung der Struktur und Funktion von bereits vorhandenen Merkmalen (vgl. z.B. REMANE et al., 1973, S. 122).

Zum anderen erfüllt selbstverständlich auch die veränderte Proteinregion des "Targets" gleichsam eine neue Funktion, die Resistenz (natürlich nur solange das Bakterium unter dem Einfluß des Antibiotikums steht), obschon dadurch eventuell die Primärfunktion des "Targets" verlustig geht. Analoges spielt sich auch bei "makroevolutionären" Umwandlungsschritten ab, beschränkt sie sich doch in erster Linie auf den Wandel von Funktionen, wodurch die ganze Argumentation inkonsistent wird:


Beispielsweise die Tetrapoden-Extremitäten lassen sich als transformierte Fischflossen auffassen, denn es gibt auch tetrapodenähnliche Fische. Die abgewandelte Struktur büßt ihre alte Funktion ein, also müßte es sich nach LÖNNIGs Diktion hier um "Verlustmutationen" und um einen Fall von Mikroevolution handeln. Ähnliches gilt beispielsweise bei der Umwandlung des primären zum sekündaren Kiefergelenk. Auch bei der Entstehung des "Echolot-Systems" der Fledermaus waren "alle beteiligten Strukturen im Prinzip bereits vorhanden: Stimmbildung, Ohren, Gehirn, Bewegungskoordination" (MAHNER, 1998). Die "Makroevolution" beschränkt sich auch hier hauptsächlich auf den Wandel von Struktur und Funktion.

                                                                                                  

Man erkennt, daß die Unterscheidung zwischen "Mikro-" und "Makroevolution" streng genommen überflüssig wird (MAHNER und BUNGE, 2000). Die Grenzziehung beruht auf Konvention, das heißt sie unterscheidet rein quantitativ zwischen Gen- oder Phänunterschieden und erkennt qualitative Neuerungen erst dann an, wenn sie ein (willkürlich festlegbares!) Ausmaß an genotypischer oder phänotypischer Veränderung erreicht haben. Eine solche nach Gutdünken verschiebbare Grenze kann, um mit MAHNER zu sprechen, kaum noch eine ontologische Bedeutung haben.

Dies gilt umso mehr, als oftmals nur wenige Unterschiede in der Aminosäuresequenz von Proteinen bereits völlig verschiedene Funktionen zur Folge haben können (einige eindrucksvolle Beispiele erwähnen REMANE et al., 1973, S. 67 ff.). Ähnliches gilt insbesondere auch für die Regulatorgene, wobei eine oder einige wenige Mutationen das Zusammenspiel aller untergeordneten Gene verändern könnten (vgl. RIEDL und KRALL, 1994).

Zumindest ist aber, und dieser Umstand erscheint hier wichtiger, eine derart umstrittene Begriffstrennung völlig ungeeignet, um KUTSCHERA das Verbreiten "falscher Tatsachen" zu unterstellen.

Gewiß läßt sich in der Frage, ob Plasmiderwerb als Mutation bezeichnet werden kann oder ob die Begriffe "Mikro- und Makroevolution" Sinn machen, eventuell noch streiten. Im Falle des nächsten Beispiels läßt sich jedoch eindeutig der Nachweis führen, daß LÖNNIG gleich mehreren Irrtümern aufgesessen ist.                                                                                                                                 

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Copyright (c) by Martin Neukamm, 24.05.03     Überarbeitet am: 14.06.03     Last update: 14.06.03                       


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