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Martin Neukamm (2003):

Einige Fehlinformationen in W.-E. LÖNNIGs Buchkritik zu Kutscheras Evolutionsbiologie (2001)

                                                                      

2.2. Industriemelanismus bei den Birkenspannern als Beispiel für Selektion 

In die meisten Biologielehrbüchern findet der Birkenspanner (gewissermaßen als "Parade-Beispiel" der Selektion) Erwähnung, dessen Farbe sich den Birkenstämmen anpaßt, welche er besiedelt. Es existieren zwei verschiedene Farbvarietäten innerhalb der Populationen, eine helle (typica) sowie eine schwarzbraun pigmentierte, melanistische Form (carbonaria). Je nach Ausmaß der Luftverschmutzung und Rußimission läßt sich eine mehr oder minder starke Schwarzfärbung der Birken und dazuhin eine relative Zunahme der dunklen Varietät feststellen. Dies deutet auf den Einfluß von Selektion hin, denn die dunkle Variante ist vor dem Hintergrund die rußverfärbter Birken besser getarnt und fällt daher weniger häufig räuberischen Vögeln zum Opfer, die sich bevorzugt die weißen, besser sichtbaren Spanner herauspicken.   

Das Selektionisbeispiel greift auch Kutschera in seinem Lehrbuch auf, das von LÖNNIG in ungewöhnlich scharfem Ton kritisiert wird. Wir wollen sehen, ob die Einwände sachlich korrekt sind.

                                                                

2.2.1.     Halten sich Birkenspanner auf Baumstämmen auf ?

Einwände von LÖNNIG

Kurioserweise ist zwischen Evolutionskritikern und Fachleuten ein Streit um die Frage entbrannt, ob die Falter auf Birkenstämmen verharren oder nicht. Dem Sachverhalt wird insofern eine Bedeutung beigemessen, als geglaubt wird, der dunklen Varietät könne nur auf der freiliegenden, schwarz eingefärbten Stammregion (infolge größtmöglicher Tarnung) eine höhere Überlebenschance zukommen als der hellen Form. Daher stellen die Evolutionsgegner die Behauptung, daß sich die Nachtfalter auf Birkenstämmen aufhalten, infrage und glauben, dadurch das "Paradebeispiel für Selektion" entwertet zu haben. Inwiefern ist diese Feststellung zutreffend?

Sehen wir uns zunächst den längeren Kommentar von LÖNNIG an:

"Tatsächlich bestehen die entscheidenden Punkte aus Kutscheras Lehrbuch zu diesem Thema (2001, pp. 184-186) aus solchen 'falschen Tatsachen'. Ich greife hier nur einmal die 'falsche Tatsache' der Baumstämme als Tagesrastplatz der Nachtfalter heraus (man könnte mehrere weitere 'falsche Tatsachen' allein aus diesem Abschnitt aus Kutscheras Lehrbuch herausarbeiten). Kutschera schreibt 2001, p. 184: 'Die Nachtfalter sitzen am Tag bewegungslos auf Baumstämmen und fliegen nur während der Dunkelperiode umher (Abb. 9. 5).' (Pp. 184/185): 'Natürliche Feinde der Nachtfalter sind die Vögel. Es wurde beobachtet, daß Singvögel selektiv jene am Tag unbeweglich an Stämmen sitzenden Falter fressen, die sie optisch wahrnehmen (sehen) können: Weiße Birkenspanner auf hellem Hintergrund (bzw. schwarze auf dunkler Rinde) können aufgrund ihrer Tarnfärbung von potentiellen Feinden kaum erkannt werden...In einem unverschmutzten Wald (helle Baumstämme) wurden 984 markierte Birkenspanner ausgesetzt....usw., usf. ('Die dunkle Mutante hatte auf den weißen Birkenstämmen nur eine geringe Überlebenschance und wurde daher weitgehend eliminiert'; pp. 185/186).

Die Schwierigkeit mit solchen 'false facts' liegt für den Leser darin, dass er sie auch bei großem Scharfsinn meist nicht ohne weiteres durchschauen kann. Denn wer kommt schon angesichts der oben zitierten Behauptungen Kutscheras und vieler weiterer Lehrbuchautoren auf die Idee, dass diese Falter normalerweise überhaupt nicht auf Baumstämmen 'sitzen' weder tagsüber noch nachts? (...) Wer kommt dabei auf den Gedanken, dass die Nachtfalter tagsüber fast ausnahmslos 'in shaded areas under branches' in Ruhestellung verharren? (...) Wohl kaum ein Leser wird jeden einzelnen der in einem naturwissenschaftlichen Lehrbuch als Tatsache aufgeführten Punkte in Frage stellen wollen! Und ein Student wird viel eher bereit sein, die als Tatsachen vermittelten Punkte 'gläubig' anzunehmen! Aber nach der schon als 'kleine Sensation' zu bezeichnenden Buchbesprechung von Coyne in Nature 1998 zur der Aufdeckung dieser 'falschen Tatsachen' (Sargent et al., 1998; Majerus, 1998; Coyne, 1998) hätte ein Lehrbuchautor im Jahre 2001 das nun wirklich besser wissen können und meiner Auffassung nach sogar müssen!"

                                                                                                   

Richtig ist, daß MAJERUS und andere Forscher die freiliegenden Baumstämme nicht zur üblichen Ruheposition der Birkenspanner rechnen. Indes kommt aber die Behauptung, daß die Spanner "normalerweise überhaupt nicht auf Baumstämmen 'sitzen' (weder tagsüber noch nachts)", einer Verdrehung der Sachlage gleich, denn man wird dies keinesfalls MAJERUSens Buch entnehmen, wie dies uns LÖNNIG durch einen Literaturverweis glauben machen will. Der relevante Datensatz, der zeigt, daß sie sich (zumindest zeitweise) auch auf Baumstämmen aufhalten, findet sich auf S. 123 der erwähnten Abhandlung (MAJERUS, 1998):


Table 6.1: "The resting positions of peppered moths found in the wild between 1964 and 1996": Exposed trunk: 12,8%; Unexposed trunk: 12,8%; Branches: 31,9%; Trunk/branch joint: 42,6%

Table 6.2: "The resting positions of peppered moths found in the vicinity of mercury vapour moth traps at various locations, between 1965 and 1996": Exposed trunk: 23,6%; Unexposed trunk: 10,8%; Branches: 9,9%; Trunk/branch joint: 32,5%; Foliage: 10,8%; Man made surfaces: 12,3%


Bezugsquelle: http://www.talkorigins.org/faqs/wells/#moths            

                       

Im Hinblick auf MAJERUSens Datenerhebung findet auch GRANT erstaunlich deutliche Worte hinsichtlich dieser Frage:  

"Majerus has found moths over his 34 years of looking for them. Of the 47 moths he located away from moth traps, 12 were on trunks (that's >25%). Of the 203 he found in the vicinities of traps, 70 were on trunks (that's 34%). Based on his observations, Majerus argued that the most common resting site appears to be at the trunk/branch juncture. What is clear from his data is that they sit all over the trees, INCLUDING the trunks. So what? Kettlewell's complementary experiments in polluted and unpolluted woods compared the relative success of different colored moths on the same parts of trees in different areas, not different parts of trees in the same area.  

(GRANT, 2001)     -     Hervorhebungen im Schriftbild teilweise von mir

                                                            

2.2.2.     Die Unabhängigkeit des Selektionsszenarios von mechanistischen Detailfragen   

Über den Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und Melanismus - Einwände von WELLS und LÖNNIG     

Sollte sich im Laufe weiterer Forschung nun aber doch herausstellen, daß sich Birkenspanner fast nicht auf Baumstämmen aufhalten (eine Einschätzung, für die gegenwärtig kein empirischer Beleg spricht) hat LÖNNIG jedoch keineswegs sein "Etappenziel", die Widerlegung des von KUTSCHERA beschriebenen Selektions-Szenarios, erreicht. Zuvor müßte nämlich geklärt werden, ob dem Ruheplatz der Birkenspanner im Hinblick auf die Selektionsfrage überhaupt eine Bedeutung zukommt.

Der Evolutionskritiker WELLS vertritt ebenso wie LÖNNIG dezidiert diese Auffassung und schreibt:

"Since moths in trunk/branch joints are obscured from view, this category is usually omitted even by other defenders of the classic story, who limit themselves to combining moths on exposed and unexposed trunks to come up with a figure of 26%. And even the 26% figure is questionable, because it is not at all clear that 'unexposed trunks' are equivalent to exposed tree trunks in relation to the classic camouflage-predation story. If moths are hidden from view in cracks in the bark, does their color make any difference?"

(WELLS, 2002)

                                                                    

Doch alle Experten, die in der "Birkenspanner-Geschichte" etwas Originäres zu sagen haben, erklären sich in dieser Frage völlig anders. GRANT, MUSGRAVE, RUDGE, HOWLETT und MAJERUS stellen einhellig fest, daß in luftverschmutzten Gegenden nicht nur die Baumstämme, sondern auch die abgeschatteten Äste und Blätter durch Ruß kontaminiert werden. Die Hypothese, daß Vögel auch in schattigen Bereichen nach den Faltern suchen und in umweltbelasteten Regionen bevorzugt die weiß gefärbten Birkenspanner herauspicken, gilt allgemein als empirisch hinreichend belegt:  

"After all, unexposed trunks and branches, even leaves, were also coated with pollution so moths would still be differentially camouflaged in these positions. Also, birds do not only look at exposed trunks, but also search unexposed trunks and branches (...) Howlett and Majerus have done a pilot experiment comparing predation of moths on exposed trunks with predation of moths in shadow at trunk-branch junctions, the major resting site in their field observations. Differential predation was still observed for moths placed at shadowed trunk-branch junctions. For example, in polluted woods, more pale moths were taken by birds than dark moths, regardless of whether they were on exposed trunks or shadowed trunk-branch junctions. There was no statistically significant difference between the ratio of light to dark moths taken at trunk-branch junctions and the ratios taken on exposed trunks. The study was small, and a small difference may have been missed. However, the main conclusion we can draw is that Kettlewell's experiments are not invalid."

(MUSGRAVE, 2002)

                     

"What one must ask oneself is what difference does it make if the moths rest on the underside of branches rather than on the trunks. Branches still vary in colour and pattern as a result of pollution. There may be a quantitative difference to fitness estimates, but there would not be a qualitative difference. All of this is reviewed in my book (...) Just so you know, I am in the middle of a three year long predation experiment that I hope answers all the criticisms of Kettlewell's methodology. The results should be published early in 2005. Perhaps then we can have an end to this ridiculous farce."

(MAJERUS in einer persönlichen Mitteilung)

                                                                                 

Falls sich also herausstellen sollte, daß die Birkenspanner "normalerweise überhaupt nicht auf Baumstämmen sitzen (weder tagsüber noch nachts)", wäre davon die eigentlich relevante Fragestellung überhaupt nicht tangiert.

Interessanterweise, und damit stoßen wir zu dem eigentlich relevanten Aspekt unserer Argumentation vor, trifft diese Feststellung auch für eine Reihe anderer Hypothesen, die nach den Verhaltensweisen und Lebensgewohnheiten von Räuber und Beute fragen, zu. Denn obgleich solche Hypothesen zwar die Ursachen der selektionstheoretischen Häufigkeitsverschiebung der Birkenspanner-Varietäten erklären, sind sie doch von der Selektionsfrage insofern logisch unabhängig, als sich ein selektionstheoretischer Zusammenhang auch ohne genaue Kenntnis der adaptiven Ursachen erschließen läßt.

RUDGE erklärt warum:

"(...) If the peppered moth has both dark and light forms, and if these differences are correlated with survival differences in different environments; and, (...) If the dark and light forms are heritable; and, (...) If there is a competition in nature for resources, owing to the fact that the moths reproduce far in excess of those that can possibly survive; (...) It follows that the form of the moth that is correlated with an increased chance of surviving in an environment will increase in frequency in the population inhabiting that environment over time (if it is not already in equilibrium). The reader should notice immediately that the theory need not be stated with reference to the specific survival advantage associated with dark coloration in polluted environments or pale coloration in unpolluted locals. As such, even in the absence of any reliable evidence on precisely what effect of the carbonaria gene is responsible for increased survival in areas downwind of industrial sites, the phenomenon of industrial melanism still constitutes an example of natural selection."

(RUDGE, 2002)     -     Hervorhebung im Schriftbild von mir                   

                          

Daß mit anderen Worten also ein Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und der Häufigkeit dunkler Faltervarietäten besteht, deutet allein schon auf den Einfluß der Selektion hin. Um zu diesem Schluß zu gelangen, ist es nicht erforderlich, die genaueren Details zu kennen, über die sich LÖNNIG so engagiert ausläßt. Wir können LÖNNIG also ruhig bei seiner unorthodoxen Meinung lassen, sie zeigt lediglich, daß er die metatheoretischen Zusammenhänge nicht verstanden hat.

GRANT und WISEMAN haben in ihrer jüngsten amerikanischen Studie die Theorie übrigens erneut bestätigt, denn in praktisch allen untersuchten Fällen nahmen in Gegenden starker Luftverschmutzung die dunkel gefärbten Birkenspanner an relativer Häufigkeit zu, während sie in Luftreingebieten erwartungsgemaß abnahmen:

"Industrial melanism in peppered moths has been studied most intensively in Britain (...) In rural, unpolluted regions, well away from industrial centers, the pale phenotype (peppered with white and black scales) remained the predominant form. During the latter half of the 20th century, following legislation designed to improve air quality, melanics began to decline in frequency and are now rare where once they had been common. Similar evolutionary changes have occurred elsewhere, but records from outside Britain are fragmentary. We have extended previous surveys of American peppered moth populations and present a composite picture of the recent decline in melanism in northern industrial states-Michigan and Pennsylvania-where melanic phenotypes decreased from more than 90% in 1959 to 6% by 2001. We contrast these changes to the near absence of melanism in a southern state-Virginia-during that same period. As in Britain, the decline in melanism in American peppered moths followed clean air legislation."

(GRANT und WISEMAN, 2002)

                       

Daher läßt sich mit GRANT folgendes Resümmee ziehen:                             

"Documentation for the decline in melanic frequencies is vastly more detailed (e.g., Clarke et al. 1994, Cook et al. 1999, Grant et al. 1996, 1998, Mani and Majerus 1993, West 1994). No other evolutionary force can explain the direction, velocity and the magnitude of the changes except natural selection. That these changes have occurred in parallel fashion in two directions, on two widely separated continents, in concert with changes in industrial practices suggests the phenomenon was named well. The interpretation that visual predation is a likely driving force is supported by experiment and is parsimonious given what has been so well established about crypsis in other insects (...) Certainly there are other examples of natural selection. Our field would be in mighty bad shape if there weren’t. Industrial melanism in peppered moths remains one of the best documented and easiest to understand."

(GRANT, 1999)     -     Hervorhebungen im Schriftbild von mir                           

                                        

2.2.3.     Über Anomalien im Zusammenhang zwischen Melanismus und Luftverschmutzung            

Müssen die Lehrbücher neu geschrieben werden?

LÖNNIG bestreitet jedoch rundweg jeden Einfluß der Luftverschmutzung auf die Dynamik von Birkenspannerpopulationen und stützt sich dabei auf einige Resultate, die scheinbar der theoretischen Erwartung widersprechen. Daher wird apodiktisch festgestellt: 

"(...) there are important points to be added from the original papers, as (...) the pollution-independent decrease of melanic morphs. Zu diesen Fragen ist Popper jedenfalls falsch informiert worden, in ganz ähnlicher Weise, wie noch heute die Leser von U. Kutscheras Lehrbuch [zur Evolutionsbiologie], an dem ich diese Fehlinformation Poppers weiter veranschaulichen kann."

Hervorhebung im Schriftbild von mir

                                                                                        

Interessanterweise wird jedoch mit keinem Wort auf die Studien von GRANT, COOK, MAJERUS und anderen Forschern eingegangen, die solche einseitigen Behauptungen aufgrund jahrelanger Erfahrung schlichtweg für unbegründet halten. LÖNNIGs Schlußfolgerung wird offenbar einzig durch einen Artikel von COYNE abgestützt, der über verschiedene "anomale" Fälle berichtet hat, in denen sich die Birkenspannerpopulationen nicht wie erwartet entwickelt hatten. Obgleich solche Studien durchaus eine nähere Betrachtung Wert sind, zeigen sie jedoch lediglich, daß die Zusammenhänge komplexer gestaltet sind, als dies populärerweise in Lehrbüchern dargestellt wird.

RUDGE, der sich seit Jahren mit der Dynamik von Birkenspannernpopulationen beschäftigt hat, räumt ein, daß eine ganze Reihe von Faktoren in die Populationsdynamik hineinspielen, welche die idealen Erwartungen stören, betont aber zugleich, daß das multikausale Geschehen weder den gut untersuchten Zusammenhang zwischen Rußimission und Allelhäufigkeit noch die selektionstheoretische Erklärung widerlegt:

"Wells is correct in pointing out that the phenomenon of industrial melanism has proven to be more complicated than textbooks would have us believe. The reason why the explanation is turning out to be complicated, however, is not that an evolutionary explanation in terms of natural selection is not applicable. Rather, it is because the phenomenon itself has turned out to be more complicated, as revealed by numerous additional investigations conducted by Kettlewell and other researchers since. For instance (...) its fairly clear (as Kettlewell was well aware) that the environment of the moths can become darkened by factors other than soot (...) We have good reasons to believe the phenomenon of melanism has been a recurring pattern in nature in many animal groups and for a variety of reasons. Smoke from volcanoes in the past in all likelihood had a very similar effect to industrial pollutants in darkening the environment downwind from the source. Moreover, when one considers that the environment can become dark due to other factors (e.g. increased humidity), and further that melanic coloration might have other effects on the health of the moth (e.g. thermoregulation), it becomes possible to understand how an 'anomalous' population in a rural area might have a high frequency of melanic forms as a result of differential bird predation even in the absence of pollution (...) The fact that the oversimplified explanation recounted in textbooks does not fit every population within which the phenomenon has been found to occur is entirely predicable given the unique and contingent nature of biological phenomena."

(RUDGE, 2002)                                   

                                                                 

Obgleich also einzelne (oftmals idealisierte) Gesetze nur in seltenen Fällen reale (oft einer Vielzahl von Einflüssen unterliegende) Systeme vollständig beschreiben, ist doch jedem klar, daß sie dadurch keineswegs an wissenschaftlichem Wert einbüßen. Man überlege sich exemplarisch anhand des NEWTONschen Kraftgesetzes (F=m*a), in wievielen Fällen es tatsächlich eine vollkommene empirische Bestätigung erfahren hat. Jeder, der beispielsweise den Einfluß des Luftwiderstandes beim freien Fall oder die Bodenreibung eines Körpers unberücksichtigt läßt, wird in den überaus häufigsten Fällen "Anomalien" feststellen ohne jedoch der Idee anheimzufallen, daß die "Studien" gleichsam die NEWTONschen Gesetze widerlegt hätten! Welcher Wissenschaftler käme jetzt ernsthaft dahin, sich lediglich auf derartige Anomalien zu versteifen um damit all jene Fälle zu entwerten, in welchen die Theorie sich als erklärungsmächtig erwiesen hat?

Ähnliche Betrachtungen lassen sich etwa auch für die idealen Gasgesetze MAXWELLS, das BOHRsche Atommodell usw. durchführen, und eine wieviel größere Berechtigung haben sie dann erst recht bei den kompliziertesten Systemen die wir überhaupt kennen, nämlich den Biosystemen? Müssen nicht all diejenigen, welche eine Revision von Schulbüchern anmahnen, die von "gravierenden Falschaussagen" und "Widerlegungen" sprechen, nicht ebenso das NEWTONsche Gravitationsgesetz, die spezielle Relativitätstheorie und vieles weitere aus den Lehrbüchern verbannen? Man sieht, daß LÖNNIGs Methodologie, widersprüchlich wie sie ist, keinen wissenschaftlichen Test bestünde.    

                                                     

2.2.4.     Wurden KETTLEWELLs Experimente "gestellt"?

Nun hätte es bereits schon genügt, bei KETTLEWELL nachzuschlagen, um sich von der Tatsache zu überzeugen, daß dunkle Birkenspanner auf rußgefärbten Birken größere Überlebenschancen haben. Dessen Freilandexperiment wird von KUTSCHERA wie folgt beschrieben:

"In einem unverschmutzten Wald (helle Baumstämme) wurden 984 markierte Birkenspanner ausgesetzt, wobei eine Hälfte der Motten der dunklen und die andere der weißen Variante angehörten. Nach einiger Zeit wurden Stichproben der Population eingefangen und ausgezählt. Resultat: Es konnten etwa zweimal mehr helle als dunkle Falter gefunden werden. Das komplementäre Experiment (Freisetzung markierter Falter in einen stark verschmutzten Wald mit dunklen Baumstämmen) führte zum umgekehrten Resultat: Die dunklen Birkenspanner waren nach einiger Zeit in der Überzahl, während die weißen infolge Vogelfraß eine Minderheit darstellten. Diese Evolutionsexperimente zeigen, daß verschiedene Varianten (...) unterschiedliche Überlebensraten haben und somit von Freßfeinden (Vögeln) selektiv aus der Population eliminiert werden."

(KUTSCHERA, 2001, S. 185)

                                                            

LÖNNIG, dem solche Aussagen aus mir unerfindlichen Gründen nicht ins Konzept zu passen scheinen, hat nur eine Erklärung parat: Die Experimente müssen gestellt worden sein! KETTLEWELL habe, so wird behauptet, das Experiment just so arrangiert, daß die Birkenspanner auf Baumstämmen landeten, auf denen sie sich normalerweise gar nicht aufhalten:

"Wer kommt auf die Idee, dass die Nachtfalter statt dessen von Kettlewell und anderen Versuchsveranstaltern zumeist auf die Baumstämme gesetzt (oder tagsüber ganz in deren Nähe freigelassen) wurden oder sogar aufgeklebt worden sind (aber nicht von Kettlewell)? (...) After summarizing Kettlewell’s presentation of the Biston betularia instance, Coyne (1998) states the main points of the critical recent observations as follows: (...) The peppered moth normally doesn’t rest on tree trunks (where Kettlewell had directly placed them for documentation) (...) Kettlewell’s behavioral experiments have not been replicated in later investigations." 

Hervorhebung im Schriftbild von mir

                                                               

Schützenhilfe bekommt er in dieser Frage insbesondere wieder von dem Kreationisten WELLS, nicht jedoch (wie suggeriert wird) von MAJERUS und allen anderen Forschern, die in dieser Frage hinreichend Erfahrung gesammelt haben. Die Behauptung, KETTLEWELL habe die Spanner direkt auf den Birkenstämmen postiert, wo sie "normalerweise gar nicht verharren", ist, wie MUSGRAVE betont, schlichtweg erdichtet:

"In contrast, the direct and indirect predation experiments, and the mark release experiments, moths were released onto trunks AND branches (Kettlewell, 1955, pages 327, 332 and Kettlewell 1956, page 287). Note that, the moths were not only released on trunks. Furthermore, they were released onto shaded or shadowed areas of the trees (cf. moths on trunks in the shadow of branches in Majerus's Trunk-branch joint category). Thus in these experiments the moths were released in to areas typically occupied by about 50% of moths, and the experimental results will be more representative of the moth population in general than the filmed experiments. In these experiments differential predation was demonstrated."

(MUSGRAVE, 2002)                       

                                             

Ähnlich äußert sich dazu auch GRANT (siehe auch GRANT, 1999; COOK, 2000; MAJERUS, 2000):

"It is true that the photos showing the moths on trunks are posed (just like practically all wildlife pictures of insects are) BUT THEY ARE NOT FAKES. No one who reads Kettlewell's paper in which the original photos appeared would get the impression from the text that these were anything but posed pictures."

(GRANT, 2001)     -  Hervorhebungen im Schriftbild teilweise von mir

                                                             

Schließlich schreibt MAJERUS selbst einige klärende Worte, um den Irrtümer, die in seinem Namen verbreitet werden, einen Riegel vorzuschieben und bittet zugleich alle Außenstehende, die sich für berufen halten, solche Behauptungen aufstellen, erst einmal eigene Erfahrungen auf diesem Gebiet zu sammeln und sich mit der Materie vertraut zu machen:

"I would point out that none of the photographs of live peppered moths taken by myself, which appear in the book were staged. All show peppered moths where they were found in the wild. End-note: It is difficult to have an informed discussion of a complicated ecological system with those who have little or no experience of the system. My advice to anyone who wishes to obtain a fully objective view of this case is to a) read the primary papers that I based my review upon, and any other relevant papers, and b) gain some experience of this moth and its habits in the wild. Of all the people I know, including both amateur and professional entomologists who have experience of this moth, I know of none who doubts that differential bird predation is of primary importance in the spread and decline of melanism in the peppered moth."

(MAJERUS, 1999)     -     Hervorhebungen im Schriftbild von mir        

                    


Was hat, so könnte man fragen, der vielfach mißinterpretierte MAJERUS nun tatsächlich gemacht? Zunächst hatte er festgestellt, daß die Belege KETTLEWELLS nicht ausreichend waren, um die These zu bestätigen, daß sich die Tarnfarbe der Birkenspanner infolge der Selektionseinwirkung in den Populationen verändert. MAJERUS hat dann eigene Versuche durchgeführt, um KETTLEWELLS These zu bestätigen. Angefochten wurde also nicht KETTLEWELL's Grundaussage, sondern einzig gegen das von ihm verwendete Datenmaterial!  

                                                                                   

Ingesamt fragt man sich, welchen Zweck LÖNNIG mit der Kritik am etablierten Erklärungsmodell zum Industriemelanismus eigentlich verfolgt. Welcher Sinn steckt dahinter, evolutionäre Beispiele (und dazuhin die Reputation der vortragenden Autoren) zu demontieren, wenn sich angesichts der Argumentation (die zeigt, daß LÖNNIG auf diesem Gebiet keinerlei Erfahrung hat) praktisch jeder Fachmann die Haar rauft? Die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines solchen Unterfangens stellt sich einmal mehr, als deutlich wird, daß hier das eigentlich anvisierte Ziel (nämlich die Kritik am sogenannten  "Paradigma Makroevolution") völlig aus den Augen gerät. Wer nämlich der Selektion (im Wechselspiel mit genetischer Variation) von vorn herein keine "schöpferische" Kraft zutraut, sondern in ihr nur einen Faktor zur Elimination untüchtiger Varianten zu erkennen glaubt, der kann  nicht ausgerechnet die "Birkenspanner-Geschichte" gewinnbringend in sein Argumenationsgebäude einflechten. Denn die sich hier abspielende Verschiebung von Genfrequenzen wird der Evolutionskritiker von vorn herein als Beispiel für "Mikroevolution" einstufen. Was also, so ist zu fragen, ist mit der Demontage des Selektionsbeispiels eigentlich gewonnen?(*)

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Fußnote (*):                     

Auch die Mechanismen der "chromosome rearrangements" und Transposon-Verlagerung, die verschiedentlich gegen die Rolle der Milieu-Selektion ins Felde geführt werden (vgl. LÖNNIG und SAEDLER, 2002, S. 394), machen zwar deutlich, daß die Entstehung evolutiver Neuheiten durch "innere Entwicklungsprinzipien" (developmental constraints) flankiert werden kann, daß also Evolution streckenweise in determinierten Entwicklungsbahnen verläuft, die unter anderem durch die - wie LÖNNIG dies nennt - "eigengesetzlichen Variationen" infolge der entwicklungsbiologischen Bedeutung von Transposons vorgegeben werden könnten. Hier deutet sich zweifellos an, daß die Milieuselektion eine weitaus geringere Rolle im evolutionären Geschehen zu spielen scheint, als dies die gradualistische Standardtheorie behauptet.  Doch natürlich, und das leuchtet unmittelbar ein, hat die Umweltselektion nach wie vor (gewissermaßen als "letzte Prüfinstanz")  darüber zu entscheiden, ob sich eine neue (ontologische) Spezies in ihrem Habitat behaupten kann. Im Hinblick auf GRANTs sorgfältige Dokumentation, die zeigt, daß die Ausbreitung des schwarzen Birkenspanners in Großbritannien mit den Erwartungen der Selektionstheorie korrespondiert (siehe http://www.talkorigins.org/faqs/wells/#moths), und im Hinblick darauf, daß praktisch alle Experten WELLS' anderslautender Behauptung energisch widersprechen, können LÖNNIGs Einwände also nicht überzeugen.

Im übrigen scheint LÖNNIG nicht zu bemerken, daß er mit den o.g. Mechanismen der Evolution mehr Variationspotential zugesteht, als ihm lieb sein kann. Immerhin legt der verhältnismäßig hohe Grad an genetischer Übereinstimmung zwischen den Organismen nahe, daß weniger die Entstehung neuen Genmaterials als vielmehr die Reorganisation des bestehenden Repertoirs in der Evolutionsfrage von entscheidender Bedeutung ist, weil sich dadurch das Zusammenspiel der Gene verändern kann. Inwieweit der zur Rede stehende Mechanismus dies allerdings zu leisten vermag, bleibt indes abzuwarten.

                                                                                  

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Copyright (c) by Martin Neukamm, 24.05.03     Überarbeitet am: 14.06.03     Last update: 14.06.03                       


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