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Martin Neukamm (2003):

Einige Fehlinformationen in W.-E. LÖNNIGs Buchkritik zu Kutscheras Evolutionsbiologie (2001)

                                                                                              

2.2. Industriemelanismus bei den Birkenspannern als Beispiel für Selektion 

2.2.5   Der Evolutionsgegner WELLS und dessen Kritik an der "Birkenspanner-Story"

Die Einschätzungen der Experten, die sich mit der Populationsdynamik hinsichtlich der Birkenspanner beschäftigen, blieb in antievolutionistischen Kreisen freilich nicht ungehört. Mittlerweile hat einer der lautesten Kritiker der "Birkenspanner-Story", Jonathan WELLS vom kreationistisch angehauchten Discovery Institute, einige Repliken verfaßt und im Internet niedergelegt, die wir hier kurz beleuchten müssen.

WELLS'  Haupteinwand richtet sich dabei vor allem gegen die in MAJERUSens Buch skizzierte Tabelle, welche die prozentuale Verteilung der in die verschiedenen Baumabschnitte unterteilten Ruhepositionen grafisch darstellt. Obgleich MAJERUSens Datenerhebung zeigt, daß sich zumindest zeitweise ein signifikant hoher Anteil von Birkenspannern auf Baumstämmen niederläßt, ist die Individuenzahl, die dieser Analyse zugrundeliegt, vergleichsweise gering (insgesamt wurden die Ruhepositionen von nur 47 Exemplaren ausgewertet). WELLS glaubt daher, daß die Freilandbeobachtungen kaum repräsentativ sein könnten, denn, so behauptet WELLS, der größte Anteil der Motten halte sich meist im schattigen Geäst und nicht auf Baumstämmen auf:

 "In the decades since Kettlewell’s experiments, scientists have counted tens of thousands of peppered moths (...) Yet Table 6.1 reports only 47 moths found resting in the wild in 32 years. Does this tiny sample provide us with an accurate picture of peppered moths in general? It turns out that it is extremely difficult to find resting peppered moths in the wild (...) The reason resting moths have been so hard to find is that they probably hide beneath higher branches where they cannot be easily seen. According to one expert: 'In nature, Biston betularia probably rest high up in the canopies, on the under surfaces of horizontal branches.' (Kauri Mikkola, Biological Journal of the Linnean Society 21, 1984, p. 409) (...) Majerus, of course, does not claim that Table 6.1 represents an unbiased sample. In fact, he concludes from his extensive knowledge of the data that 'peppered moths do not naturally rest in exposed positions on tree trunks.' (p. 121)"

(WELLS, 2002)

               

Obschon diese Einschätzung richtig (gleichzeitig aber, wie im letzten Abschnitt deutlich wurde, völlig belanglos) ist, bleibt jedoch die Frage nach dem Aufenthaltsort der Motten offen. Es liegen mit anderen Worten bislang keine hinreichend validen Studien vor, die eine abschließende Klärung dieser Frage herbeiführen konnten, folglich kann sich der Forscher natürlich nur und ausschließlich an den Daten orientieren, die er empirischer Kleinarbeit zusammengetragen hat (also an jenen 47 Exemplaren, die MAJERUS während seiner Freiland-Aufenthalte penibel gezählt hat).

RUDGE, ein WELLS-Kritiker und Fachmann in der Birkenspannerfrage, stellt dazu fest:                                                  

"Wells is correct in pointing out that some studies have suggested that the moth might spend most of the day higher in the canopy and/or underneath the boughs of trees and if they did not spend the day on tree trunks this would seriously undermine the basis of Kettlewell's experiments. However, it is an overstatement to suggest, as he repeatedly does, that it is known that peppered moths do not rest on tree trunks- it is still the object of ongoing observation and experiment."

(RUDGE, 2002)             

                                                            

Der Forscher befindet sich mit anderen Worten in derselben Situation wie ein Demoskop, der stichprobenartig eine Menge von 1000 Menschen in Deutschland nach ihrer politischen Präferenz befragt hat und dabei zu dem Resultat gelangte, daß fast ebensoviele Sozial- wie Christdemokraten zu wählen gedenken. Imzuge eines rationalen Entscheidungsprozesse wird er zu der Einschätzung gelangen, daß sich das äußerst fragmentische Wählerbild (selbst im Falle einer nichtrepräsentativen Umfrage!) innerhalb mehr oder minder großer Fehlerschwankung auch innerhalb der Grundgesamtheit des Wahlvolkes abzeichnet. Denn da müßte ein außerordentlicher Zufall zugange sein, wenn sich die signifikante Wählerverteilung seiner Stichprobe um ganze Größenordnungen vom Wahlverhalten der Gesamtbevölkerung unterscheiden würde!

Obgleich schon POPPER betont hat, daß es keine logische Schlußregel gibt, die diese Methode (die "unvollständige Induktion" genannt wird) rechtfertigen könnte, ist sie im Alltag und in der Wissenschaft (obgleich man mit ihr nur niederrangige Aussagen gewinnt) allgegenwärtig.

Doch WELLS ignoriert diese Tatsache in seiner Kritik nicht nur rundweg, sondern schlägt auch noch denjenigen Teil der Birkenspanner, über deren Verbleib keine letzte Gewißheit herrscht, ohne Begründung jener Kategorie zu, die sich nicht auf Birkenstämmen hält: 

"Table 6.1 lists only 47 of the tens of thousands of peppered moths that have been studied in the past few decades. This sample is obviously biased toward moths that were easily spotted by observers on the ground, and biased against moths that were hiding in the canopies. Even if all the moths in Table 6.1 (not just 13% or 26% or 68%) had been found on tree trunks, they would still represent less than 1% of all peppered moths counted during the same period."

(WELLS, 2002)     

               

Hier wird deutlich, daß WELLS also der unvollständigen Induktion jede wissenschaftliche Berechtigung abspricht und damit einer rational nicht mehr argumentablen Position anheim fällt.

Welchem Demoskop (um im Bilde der Wähleranalogie zu bleiben) würde einfallen, eine derartige Rechnung aufzumachen? Welcher Parteienforscher käme dazu, den signifikant hohen Anteil an SPD-Sympathisanten (500 von 1000) ins Verhältnis zur Gesamtzahl aller Wahlberechtigten (ca. 30 Millionen) zu setzen, damit den Anteil der SPD-Wählerschaft auf den Bruchteil eines Prozents hinabzutreiben und dann in Anlehnung an WELLS zu behaupten: "Even if all the people (...) had been asked, they would still represent less than 1% of all people asked during the same period."?

Wohl sicher keinem, denn es ist jedem klar, daß von der Wissenschaft nicht mehr viel übrig bliebe, wollte man allen Sätzen, die auf derselben (unvollständigen) Induktion beruhen, ihre Bedeutung für die Wissenschaft absprechen. Schon TSCHULOK, der vor knapp hundert Jahren eine ähnliche Argumentationsweise des Evolutionskritikers FLEISCHMANN kritisiert hat, benent weitere frappierende Konsequenzen dieser unheilvollen Methodologie:  

"Praktisch käme eine solche Anschauung darauf hinaus, daß der Chemiker jedes Stückchen Pyrit, das er in den Röstofen der Schwefelsäurefabrik bringen läßt, zunächst aufs eingehendste untersuchen müßte, denn hinter der Ähnlichkeit in Farbe und Glanz könnten sich doch noch zahlreiche Verschiedenheiten verbergen, die dem ganzen Prozeß unheilvoll werden könnten. Die Trichinenschau sollte nur dann ein geschlachtetes Schwein für den Handel freigeben, wenn alle Muskeln desselben in feine Schnitte zerlegt, unter dem Mikroskop geprüft worden sind. Denn das häufigste Vorkommen der Trichinen in bestimmten Muskeln (die daher allein untersucht werden) ist eben auch eine unvollständige Induktion."

(TSCHULOK, 1922, S. 271)

               

RUDGE machte in einer persönlichen Stellungnahme nochmals mit folgenden Worten deutlich, daß wir die Wissenschaft vergessen könnten, wenn WELLS' Argument auch nur annähernd von Bedeutung wäre:                               

"Nothing is proven definitively in science in the manner textbooks or Wells naively suggests. One would think that someone with a Ph.D. in biochemistry would have noticed discrepancies between textbook representations of claims in biochemistry and journal articles by biochemists. Sadly he apparently has not. It is interesting to reflect on the fact that many of the claims scientists make about stars in general are based on observations of one star for which we have fairly extensive but not complete records, namely the sun. This is the nature of science - people use experiments and observations as a basis for making more general claims about phenomena they have not observed, including galaxies we have never been to and events in the past (...) The suggestion that we only can claim to know that the resting place of the Peppered moth is on the surface of tree trunks is when we have observed many, most or all peppered moths that have ever existed is patently ridiculous."

(RUDGE in einer persönlichen Stellungnahme)   

                                          

Man sieht also, daß WELLS' Kritik wirklich einen Zusammenbruch beinhaltet, aber nicht den Zusammenbruch der Birkenspanner-Story, sondern den Zusammenbruch seiner Methodologie. Dies wird umso deutlicher, je mehr uns bewußt wird, daß die tiefgründigen wissenschaftlichen Erkenntnisse gar nicht induktiv gewonnen werden, sondern in erster Linie transempirischen Charakter haben, daß also wissenschaftliche Theorien mit Prozessen und Dingen operieren, die sich jedweder Beobachtung verschließen und nur hypothetisch-schlußfolgernd (hypothetico-deduktiv) bestätigt werden können:

"(...) we should recognize that Darwin's situation is not at all unique- scientists in all fields regularly make and substantiate claims about entities and processes they cannot or have not observed in nature with reference to indirect evidence. This includes claims about solar systems we've never visited, the discovery of atoms, and historical claims about the past."

(RUDGE, a.a.o.)         

                                                     

Literatur:

Cook LM (2000) Changing views on melanic moths. Biological Journal of the Linnean Society, 69, S. 431-441

Grant BS (1999) Fine Tuning the Peppered Moth Paradigm. From Evolution 53 (3), S. 980-984

Grant BS (2001) Wells' Chapter on Peppered Moths. URL: http://www.talkorigins.org/faqs/wells/#moths

Grant BS, Wiseman (2002) Recent history of melanism in American peppered moths. J Hered, 93(2), S. 86-90

Junker R, Scherer S (1998) Evolution. Ein kritisches Lehrbuch. Weyel

Kutschera U (2001) Evolutionsbiologie. Eine allgemeine Einführung. Parey

Lönnig WE (2003) Rezension: Einige gravierende Fehlinformationen in Herrn U. Kutscheras Lehrbuch Evolutionsbiologie. URL: http://www.weloennig.de/RezensionKutschera.html

Lönnig WE, Saedler H (2002) Chromosome rearrangements and transposable elements. Annual Reviews of Genetics 36, S. 389-410

Mahner M (1998) Diskussion: Evolutionstheorie. URL: http://www.iavg.org/iavg027.htm

Mahner M, Bunge M (2000) Philosophische Grundlagen der Biologie. Springer

Majerus MEN (1998) Melanism: Evolution in action. Oxford, New York, Oxford University Press

Majerus MEN (1999) Peppered Moths - round 2 (part 2 of 2) URL: http://www.talkorigins.org/faqs/wells/#moths

Majerus, MEN (2000) A bird's eye view of the peppered moth. Journal of Evolutionary Biology, 13, S. 155-159

Musgrave (2002) Dr. Musgrave Reply. URL: http://members.tripod.com/aslodge/id77.htm

Remane A et al. (1973) Evolution. Tatsachen und Probleme der Abstammungslehre. München

Riedl R, Krall P (1994) Die Evolutionstheorie im wissenschaftstheoretischen Wandel. In: Wieser W (Hrsg.) Die Evolution der Evolutionstheorie. Von Darwin zur DNA. Heidelberg, Berlin, Oxford, S. 234-266

Rudge D (2002) Cryptic Designs on the Peppered Moth (Book review of Jonathan Well's Icons of Evolution). International Journal of Tropical Biology and Conservation (Revista de Biologia Tropical) 50 (1), S. 1-7

Tschulok S (1922) Deszendenzlehre. Jena, Gustav-Fischer

                                                                                                                                  

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Copyright (c) by Martin Neukamm, 24.05.03     Überarbeitet am: 14.06.03     Last update: 14.06.03


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