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Neukamm, M.; Beyer, A. (2005):

Wolf-Ekkehard Lönnig und die Affäre Max Planck (*)

Über die fragwürdigen Diskursmethoden eines Evolutionsgegners

                                  

3. Die Lönnigsche Methodologie

3.1. Der unhaltbare Empirismus

Die Lönnigsche Argumentation beruft sich, grob gesprochen, auf die (bereits von Hume widerlegte) Design-Analogie, auf das "Lückenbüßer-Argument" (s. Kapitel 4.) sowie auf einen radikalen Empirismus, der alle Aussagen infragestellt, die sich nicht in Form theoriefreier Wahrnehmungsberichte beweisen lassen. Es werden mit anderen Worten nur Sachverhalte für bare Münze genommen, die sich auf die direkte experimentelle Erfahrung zurückführen lassen bzw. unmittelbar zu beobachten und somit ohne theoretische Voraussetzungen "beweisbar" sind. Wo immer der Biologe Fakten aus der Beobachtung und aus dem Experiment zusammenträgt und durch rationales und logisches Schlußfolgern zu der Erkenntnis gelangt, daß sie auf transspezifische Evolution hindeuten, wird die Sache mit dem Einwand abgetan, daß es sich um eine wissenschaftlich ungültige "Deutung" handele, die eine Reihe ungesicherter hypothetischer Voraussetzungen enthalte, mit denen den vermeintlichen "Tatsachen" gewissermaßen Gewalt angetan werde. Auf diese Weise wird die Evolutionstheorie zu einer wilden Spekulation heruntergeredet und z.B. folgendes behauptet:

"Fast die gesamte phylogenetische Systematik aber steht und fällt mit der unbewiesenen Voraussetzung der Gesamtevolution!" (11) "Statt Evolution läßt sich hingegen weltweit die Degeneration von Arten biologisch-genetisch beweisen" (12) "Es sei an dieser Stelle nur hervorgehoben, dass weder für das Exon-shuffling noch für Ohnos Oligomerhypothese in der hypothetischen Ursuppe experimentelle Beweise vorliegen." (13) "Daß man hier einem Zirkelschluß zum Opfer fiel, wurde kaum bemerkt; das, was man beweisen wollte, daß nämlich Ähnlichkeit auf Entwicklung beruhe, setzte man einfach voraus und machte dann die verschiedenen Grade, die Abstufung der (typischen) Ähnlichkeit, zum Beweis für die Richtigkeit der Entwicklungsidee" (14) usw. usf.

       

Nun ist es zunächst einmal sehr erstaunlich, daß sich Lönnig an allen möglichen Stellen über die "unbewiesene Voraussetzung der Gesamtevolution" ausläßt. Hätte er nämlich das Wesen der naturwissenschaftlichen Beweisführung (und vor allem die philosophischen Voraussetzungen) mit der nötigen Sorgfalt zu ergründen versucht, wäre ihm möglicherweise aufgefallen, daß er sowohl an der allgemein anerkannten, naturwissenschaftlichen Definition des "Beweises" (genauer: des Beleges) als auch an der erkenntnistheoretischen Situation, in der sich die Wissenschaft befindet, konsequent vorbeiredet. An dieser Stelle sei gesagt, daß eine Theorie durch alle empirischen Daten gestützt wird, die sich unter der Voraussetzung der Theorie in einen rationalen Zusammenhang bringen lassen. Ein Beleg zugunsten einer Theorie liegt mit anderen Worten genau dann vor, wenn eine Beobachtung für sie Relevanz hat und wenn sie im Lichte der Theorie sowie unseres "Hintergrundwissens" erfolgreich interpretiert werden kann (Mahner und Bunge 2000, S. 115).

Nun kann, und das ist der eigentlich springende Punkt bei der Sache, auch das von Lönnig so hochgeschätzte Experiment nicht ohne fehlbare philosophische (sprich: "unbewiesene") Voraussetzungen Beweiskraft erlangen. So ist es, um einmal ein Beispiel zu wählen, völlig unmöglich, die Existenz von Atomen rein durch die experimentelle Erfahrung zu beweisen, denn Atome sind grundsätzlich nicht direkt wahrnehmbar. Der Chemiker muß also aus einem experimentell gewonnenen Datensatz (wie z.B. aus einem Elementspektrum) die relevante Information sozusagen aktiv "herausfiltern". Dies kann er nur, indem er das, was er wahrnimmt, mit einer Reihe hypothetischer Vorstellungen verknüpft, die ihm quasi "vorgeben", wie er das Wahrgenommene zu interpretieren hat. Er muß - um beim konkreten Beispiel zu bleiben - das Elementspektrum mit bestimmten Vorstellungen über den Aufbau und über die Vorgänge im Atom verknüpfen, sowie ein bestimmtes Hintergrundwissen (wie z.B. den Energieerhaltungssatz und vieles andere) einbeziehen, bevor er in ihm einen Beleg zugunsten der Atomtheorie "sehen" kann. Dieses Verfahren nennt man "Operationalisierung" (Mahner und Bunge, S. 91-94). Was ein Beleg ist, hängt von der Theorie ab sowie von zahlreichen hypothetischen und zu einem gewissen Grade auch spekulativen Voraussetzungen, die sich nicht im formallogischen Sinn beweisen lassen. (Noch spekulativer und weiter von der "Erfahrung" entfernt ist etwa die spektralanalytische Untersuchung von Sternen oder Quasaren, die überhaupt keiner direkten Laboranalyse mehr zugänglich zu machen sind, obwohl sich die "Deutung" als sehr tragfähig erwiesen hat.)

Halten wir daher fest: Experimente sind ebenso wie Naturbeobachtungen oder Beobachtungen, die auf historischen Ereignissen beruhen, alles andere als theoriefreie Wahrnehmungsberichte; eine rein auf die (experimentelle) Erfahrung gestützte empirische Basis gibt und kann es nicht geben (Popper 1984).


Dazu schreibt Popper (1984, S. 11): "Der positivistische [empiristische] Radikalismus vernichtet mit der Metaphysik auch die Naturwissenschaft: Auch die Naturgesetze sind auf elementare Erfahrungssätze logisch nicht zurückführbar. Wendet man das Wittgensteinsche Sinnkriterium konsequent an, so sind auch die Naturgesetze, die aufzusuchen 'höchste Aufgabe des Physikers ist' ... sinnlos, d.h. keine echten (legitimen) Sätze".

         

Wenn also auch in den sogenannten "harten" Naturwissenschaften eine theoretische Interpretation des Datenmaterials unumgänglich ist, besteht zwischen einer Naturbeobachtung und einem Experiment kein wesentlicher erkenntnistheoretischer Unterschied. Folglich ist die Rekonstruktion evolutionshistorischer ("makroevolutiver") Prozesse nicht grundlegend verschieden von der Rekonstruktion der "atomaren Wirklichkeit" (Mahner 1986, S. 41; Kitcher 1982, S. 35 ff.), und Wissenschaftsbereiche, wie die Astronomie, Geologie und Kosmologie zeigen, daß sich auch das nicht "experimentell Wiederholbare" naturwissenschaftlich erforschen läßt.

Somit erweist sich die das empiristische Verständnis, das Lönnig von der Wissenschaft hat, als naiv und unhaltbar. Für die Plausibilität der Evolutionstheorie ist es völlig irrelevant, ob der von ihr postulierte Sachverhalt (hier: die "Gesamtevolution") direkt beobachtbar ist oder nicht, besteht doch die Aufgabe der Naturwissenschaft gerade darin, Beobachtungen auf einer "tieferen unsichtbaren Ebene mit andersartigen Elementen und Verbindungsmechanismen", das heißt unter Rückgriff auf grundsätzlich unbeobachtbare Dinge und Prozesse verstehbar zu machen (Kanitscheider 1981, S. 33). Ein Wissenschaftler, der nur den Erfahrungsbericht bzw. das direkt Feststellbare als "naturwissenschaftliche Tatsache" anerkennt, ist buchstäblich auf beiden Augen "blind" - er muß sich - wie dies schon Sir Karl Popper den Empiristen ins Stammbuch geschrieben hat, zeitlebens damit begnügen, "niederrangige" empirische Verallgemeinerungen zu sammeln und Phänomene zu beschreiben, die im wahrsten Sinne des Wortes oberflächlich sind und die Beschränkungen unseres Erkenntnisapparats nicht übersteigen. Um etwa festzustellen, daß Zitronen sauer schmecken, Flammen heiß und Schwäne weiß sind, bedarf es keiner Wissenschaft, da sie ja daran interessiert ist, hinter die Kulissen solcher Phänomene zu blicken bzw. durch Theorienbildung zu erraten, was sich hinter solchen Effekten verbirgt. Ob es sich bei dem "verborgenen" Sachverhalt, den es zu erforschen gilt, um die Prozesse geht, die sich auf der atomaren Ebene abspielen oder um die historischen Prozesse im Rahmen der gemeinsamen Stammesgeschichte, ist erkenntnistheoretisch einerlei!

Lönnigs Forderung nach "Wiederholbarkeit" (15) kann sich - wenn sie überhaupt einen Sinn machen soll - nur auf die "Intersubjektivität" der Beobachtung (Mahner 2003) beziehen, das heißt die Datenerhebung muß objektiv nachvollziehbar bzw. reproduzierbar sein. Eine Naturbeobachtung ist jedoch ebenso reproduzierbar, wie ein Experiment - selbst dann, wenn sie auf historischen Ereignissen basiert. So läßt sich z.B. im Rahmen der Auswertung historischer Artefakte die Faktizität der Punischen Kriege an immer neuen Beobachtungen untermauern, und der systematische Formenwandel im Fossilienbestand läßt sich nahezu beliebig oft an immer neuen Sedimentschichten nachweisen (und somit die Evolutionstheorie belegen). Ausschlaggebend für die Plausibilität der Evolutionstheorie ist demnach nur die Frage, inwieweit es gelingt, die Erscheinungen in der belebten Welt im Lichte dieses Thesengebäudes zu erklären und zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzuführen.

Unter diesem Aspekt wird deutlich, weshalb in Wissenschaftskreisen kaum jemand an der Evolutionstheorie zweifelt: bereits Dobzhansky hatte es erwähnt, daß sich im Lichte der Deszendenztheorie zahlreiche Befunde (angefangen mit der abgestuften Ähnlichkeit der Arten in Verbindung mit dem systematischen Wandel des Fossilienbestands, in Verbindung mit molekularbiologischen Daten, mit zellbiologischen und embryologischen Befunden in Verbindung mit unserem Wissen um die Vererbung, Variabilität und Selektion etc.) sehr gut erklären lassen und zu einem harmonischen Gesamtbild fügen. Ja, selbst einige Evolutionsgegner (wie z.B. Behe, Junker oder Scherer) gestehen offen ein, daß sich die Befunde unter Voraussetzung der Deszendenztheorie in einen vernünftigen Erklärungszusammenhang bringen lassen. Welchen Wert kann unter den Voraussetzungen ein "Gesetz der Rekurrenten Variation" (16) haben, das bestenfalls dann plausibel erscheint, wenn alle genannten Evolutionsbelege unter den Tisch fallen, so daß jeder Wissenschaftler erkennt, wie vorurteilsbehaftet Lönnig an die Interpretation des Datenmaterials herangeht?


Das wäre in etwa so, als würde ein Astronom unter Vernachlässigung der Befunde, die sich im Lichte des heliozentrische Weltmodells erklären lassen, ein "Gesetz der Sonnendrehung" formulieren, weil er beobachtet hat, daß sich die Sonne dem Anschein nach um die Himmelskuppel dreht und sich nicht von der Vorstellung lösen kann, daß die Erde nicht im Zentrum unseres Planetensystems steht. Bemerkenswerterweise bedienen sich die "Geozentriker" - eine extreme Gruppierung innerhalb des Kreationismus heute noch dieser Methodik.

            

Lönnig macht sich nicht einmal ansatzweise die Mühe, die Belege zugunsten der Evolutionstheorie systematisch zu besprechen und uns dann zu sagen, was ihm daran nicht gefällt. Er besitzt (im Gegensatz zu Junker und Scherer 1998 etwa) nicht einmal die Fairneß, anzuerkennen, daß sich unter dem Dach der Deszendenztheorie eine Reihe von Befunden in einen rationalen Erklärungszusammenhang bringen läßt. Statt dessen versucht er die Belege zu "neutralisieren", indem er Sachverhalte kritisiert, die mit den Evidenzen gar nichts zu tun haben (näheres hierzu im nächsten Abschnitt), verheddert sich dabei zwischen den Fallstricken seines empiristischen Wissenschaftsverständnisses und mutet es seinen Lesern zu, sich über die wahre Natur des wissenschaftlichen Beleges gründlicher zu informieren, als er dies getan hat, damit sie sich einen Reim auf die Frage machen können, wie es zu erklären ist, daß in Wissenschaftskreisen kaum ein Biologie ernsthafte Zweifel an der transspezifischen Evolution gelten läßt.

Natürlich, und das muß hier besonders betont werden, können wir niemanden zwingen, die methodischen Voraussetzungen zu akzeptieren, unter denen sich das oben genannte Datenmaterial in Belege zugunsten der Deszendenztheorie verwandelt. Wer immer nur Fakten als naturwissenschaftliche "Tatsachen" gelten läßt, die sich ertasten, erschmecken, hören, riechen und unmittelbar im Experiment vor Augen bringen lassen; wer nicht akzeptiert, daß im Wesen des "Beweises" ein rationaler Abwägeprozeß enthalten ist - gewissermaßen eine logische Verarbeitung des Beobachteten -, wonach man sagt, "ich muß mir dies und jenes hinzudenken, sonst reimt sich das nicht mit allem, was ich von dem oder jenem weiß", der erkennt eben die methodologischen Standards nicht an und scheidet aus dem Spiel aus, das sich Naturwissenschaft nennt. Uns bleibt daher nur die Möglichkeit, auf die einschneidenden Konsequenzen einer Auffassung hinzuweisen, wonach naturwissenschaftliche Fakten stets auf theoretisch "unbefleckte" Erfahrungssätze zurückzuführen sein müssen.

Prüfen wir also, was unter Voraussetzung der Lönnigschen Methodologie von der Wissenschaft noch übrig bliebe: Zunächst einmal müßte die Atomtheorie aufgegeben werden, denn bis auf den heutigen Tag hat noch niemand die spekulativen Entitäten wirklich beobachtet, und wir hatten ja schon an einem Beispiel erwähnt, daß eine Reihe "unbewiesener Voraussetzungen" in die Belege einfließen, die sich zugunsten der Atomtheorie anführen lassen. Auch Einsteins Konzept von der nichteuklidischen Raumzeit wäre "Metaphysik", denn auch sie läßt sich nur infolge der "theoriegeleiteten Deutung" des Beobachtungsmaterials plausibel machen. Ferner hat noch niemand ein Schwarzes Loch oder ein Elementarteilchen gesehen; es handelt sich vielmehr um abstrakte Begrifflichkeiten spekulativer Konzepte, die sich jedoch in Experiment und Beobachtung sehr gut bewährt haben. Da noch nie hat ein Mensch die Sonne betreten hat, um den thermonuklearen Zyklus anhand direkter Stoffproben zu "beweisen", wäre auch die Aussage, daß es sich bei ihr um einen stellaren Körper handele, in dem bestimmte Fusionsprozesse ablaufen, eine unerlaubte, "materialistisch motivierte Grenzüberschreitung". (17) Vergessen könnten wir auch das heliozentrische Weltmodell, war es doch Galilei zeitlebens nicht vergönnt, "von außen" einen Blick auf das Planetensystem zu werfen, um die Zentralposition der Sonne nachzuweisen. Daran hat sich bis heute nichts geändert, so daß wir es wieder mit einer "experimentell unbewiesenen" Voraussetzung zu tun haben, zumal sich augenscheinlich immer nur die Drehung der Sonne um die Himmelskuppel "beweisen" läßt!

Diese Beispiele, deren Anzahl sich beliebig erhöhen ließe, machen deutlich, wieviel Rationalismus in der Wissenschaft tatsächlich steckt. Wenn wir Lönnigs methodologisches Bekenntnis so ernst nehmen würden, wie er es von uns erwartet, bliebe daher von den Naturwissenschaften nichts Relevantes übrig. So gut wie alles, was sie an Theorien hervorgebracht haben, wären "unbewiesene Voraussetzungen". Man fragt sich, wie er es nur fertig gebracht hat, das Ptolemäische Weltbild hinter sich zu lassen, und die "wissenschaftliche Tatsache", daß sich die Sonne um die Erde dreht, gegen "unbeweisbare Behauptungen, Spekulationen und Hypothesen (aus Mangel an Beweisen, motiviert von starkem Wunschdenken und großer Glaubensbereitschaft)" (18) einzutauschen.


Nun ist es geradezu bezeichnend für die Lönnigsche Argumentation, daß seine empiristische Erkenntnistheorie augenblicklich nichts mehr Wert zu sein scheint, sobald von Schöpfung die Rede ist. So möge man Lönnig bitten, seine unablässig repetierte Forderung nach "experimenteller Wiederholbarkeit" endlich einmal auf sein eigenes Modell anzuwenden, wonach es noch weitaus schlechter dastünde, als die Evolutionstheorie. Es bedarf eigentlich keiner gesonderten Erwähnung, daß eine übernatürliche Wirkursache nicht nur nicht direkt feststellbar, sondern auch nicht indirekt (sprich: hypothetisch-deduktiv) zu belegen ist. Keinesfalls läßt sich der Schaffensvorgang des "göttlichen Designers" experimentell wiederholen!

        

Konsistenterweise haben nur zwei Möglichkeiten bestand: Entweder man läßt alle nicht direkt nachweisbaren Dinge und Prozesse (wie Atome, Elementarteilchen, transspezifische Evolution usw.) gleichermaßen links liegen und läßt es mit den Naturwissenschaften sein bewenden haben. Oder man nimmt es mit der Wissenschaft ernst, akzeptiert, daß sie sich rationaler Schlußfolgerungen bedienen muß, deren Akzeptanz nicht im formallogischen Sinne zu erzwingen ist, und zieht daraus die Konsequenz, daß auch nicht direkt feststellbare und historische Sachverhalte wissenschaftlich zulässig sind. Aber die Unterscheidung zwischen einer "harten" Naturwissenschaft und einer geschichtlichen Evolutionsspekulation ist ganz klar inkonsistent! Die Frage, inwieweit eine solche Methodologie jede auf ihr aufbauende Argumentation entwertet, soll hier nicht weiter verfolgt werden.

     

3.2. Die Verwechslung der Frage der Abstammung (Deszendenz) mit der Frage nach den Ursachen und speziellen Abläufen der Evolution

Zur Kategorie der methodologischen Irrtümer gehört auch eine Argumentationsweise, auf die wir im folgenden zu sprechen kommen wollen. Bei Lichte betrachtet sind fast alle Texte, die Lönnig auf seiner Homepage publiziert, das Produkt dieses methodologischen Irrtums, den man als Verwechslung der Grundfrage der Deszendenz (oder: der Abstammung der Arten von einem gemeinsamen Vorfahren) mit der Frage nach den "tieferen" Mechanismen (Faktoren) und den Detailschritten der Evolution bezeichnen kann.

Worum geht es? Kern der Auseinandersetzung ist die logische Grundeinsicht, daß sich ein postulierter Prozeß oder ein als veränderlich angenommener Gegenstand selbst dann empirisch stützen läßt, wenn man über dessen Natur noch nichts Spezifisches weiß. Anders ausgedrückt: Die Frage, ob ein Prozeß (oder ein postulierter Gegenstand) existiert, ist logisch unabhängig von der Frage, wie (aufgrund welcher Ursachen) der Prozeß zustandekommt bzw. wie vollständig unser Wissen über spezielle Details eines angenommenen Sachverhalts oder über die Mechanismen ist, denen zufolge sich ein postulierte Gegenstand verändert.

So ist z.B. jeder Chemiker darüber im Bilde, daß sich die Daltonsche Atomtheorie bzw. das Postulat, daß die Materie nur in gequantelten Stoffportionen vorkommt, allein schon durch den Befund belegen läßt, daß sich ein Ölfleck nicht zu einer unendlich großen Fläche ausbreitet, wenn er auf dem Wasser schwimmt. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß sich eine Vielzahl weiterer Befunde aufzählen ließe (wie z.B. das Gesetz der "konstanten" und "multiplen" Proportionen oder die diskontinuierliche Natur der Elementspektren), die Aufschluß darüber geben, daß die Materie zu diskreten Einheiten organisiert sein muß. Jedem Chemielehrbuch ist daher zu entnehmen, daß der Belegstatus der Atomvorstellung nicht von unseren Detailkenntnissen über den Aufbau der Atome abhängt oder davon, auf welche Ursachen die chemischen Umsetzungen zurückzuführen sind, welche Elementarschritte in dieser oder jener Reaktion ablaufen, nach welcher Reaktionsordnung eine spezielle Umsetzung verläuft, welchen Energiewert ein bestimmter Übergangszustand einnimmt usw.

Beispiele dieser Art lassen sich beliebig viele anführen. So kann der Geologe die Theorie der Plattentektonik (etwa durch Vergleich der Umrisse der Kontinentalplatten, durch biogeographische Untersuchungen und mithilfe eines Quentchen rationalen Schlußfolgerns) belegen, ohne die genauen Ursachen oder den exakten Verlauf der Konvektionsströme im Erdmantel, die Richtung oder Geschwindigkeit der Drift der einzelnen Platten zu kennen. Ebenso läßt sich der Sachverhalt der Gebirgsauffaltung allein schon dadurch belegen, indem man Fossilien von einst marinen Lebewesen im Hochgebirge zusammenträgt und mit einer guten Portion rationalem Denken an die wissenschaftliche Fragestellung herangeht. Auch hier ist es wieder völlig unnötig, die hierfür verantwortlichen Kräfte im Detail zu kennen oder zu wissen, wie und wann sich im Detail beispielsweise der Hohentwiel entwickelt hatte.

Was all diesen Wissenschaftlern recht sein darf, kann den Biologen nur billig sein. Denn analog zur Vorgehensweise der Chemiker, Geologen, Kosmologen usw. kann der Biologe Tatsachenreihen (die abgestufte Formenähnlichkeit der Organismen, den systematischen Formenwandel im Fossilienbefund, das Auftreten bestimmter "Primitivstadien" in der Embryonalentwicklung - siehe Kapitel 5.3.2.- usw.) zusammentragen und vor dem Hintergrund unseres Wissens um die Vererbung, Variation und Selektion den rationalen Schluß ziehen, daß die Arten durch eine gemeinsame Stammesgeschichte miteinander verbunden sind. Daher sei noch einmal wiederholt, daß wir als Beleg zugunsten der Abstammungstheorie all diejenigen Befunde werten, die sich ohne Annahme einer gemeinsamen Abstammung der Arten in keinen rationalen und kausalen Zusammenhang bringen lassen.

Wohlgemerkt: wenn wir von den Belegen der Deszendenztheorie sprechen, ist von speziellen Artumwandlungen noch gar nicht die Rede! Erst dann, wenn der Biowissenschaftler genügend Datenmaterial zusammengetragen und sich vom Sachverhalt der gemeinsamen Abstammung der Arten hinreichend überzeugen konnte, kann er sich anschicken, auf dem Fundament der Deszendenztheorie den genannten Detailfragen im Rahmen von Forschungsprogrammen auf den Grund zu gehen - wohlwissend, daß sie der Grundfrage der Deszendenz logisch untergeordnet sind und am Status der allgemeinen Theorie nichts ändern können! Jedem Biologen ist daher von vorne herein klar, daß sich seit Darwin der Streit nur noch um die tieferen Faktoren und realhistorischen Details drehen kann.


Selbstverständlich ist die Deszendenztheorie prinzipiell widerlegbar, aber eben nicht aufgrund fehlender Detailerklärungen! So wäre sie z.B. dann widerlegt, wenn kein "genealogischer Nexus" zwischen den Arten existieren würde, wenn alle Spezies (oder auch nur einige neu entdeckte Arten!) über grundverschiedene Proteinrepertoires und DNA-Codes verfügen, keinerlei morphologische Übereinstimmungen zeigen und plötzlich in den ältesten Schichten Reste einer menschlichen Hochkultur zutagetreten würden. Unter rationalen Gesichtspunkten würde die Deszendenztheorie in solchen Fällen sofort ausgeschlossen (Dongen und Vossen, 1984; Popper 1994 a).

          

Lönnig stellt nun die Logik dieser Situation vollkommen auf den Kopf: Einerseits versäumt er es, die Deszendenztheorie kategorisch von den mechanismischen Hypothesen der Evolutionstheorie, den Stammbaumhypothesen und den speziellen Hypothesen zur Umwandlung dieses oder jenes Organs zu unterscheiden. So findet man in seinen Texten praktisch nur Pauschalbezeichnungen (darunter viele abwertende Schlagwörter), die von vielen Lesern mißverstanden werden, da er die Begriffe ohne erkennbare Systematik verwendet und kritisiert. So redet er (z.T. unter Bezugnahme auf verschiedene Zitate) mal von der "Synthetischen Evolutionstheorie" (19), mal vom "Neodarwinismus" (20), vom "Darwinismus" (ebd) dann wieder von der "Deszendenztheorie" (21), von der "Zufallstheorie" (22), von der "Abstammungslehre" (23), von der "Entwicklungsidee" (24), von der "Evolutionshypothese" (25), von der "materialistischen Theorie der Bioevolution" (26), vom "Postulat der Gesamtevolution" (27), von den "Umwandlungsideen" (28), von der evolutionären "Tatsachenhypothese" (29), von der "Evolutionsidee" (30), von der "Evolutionsgeschichte" (31) vom "Zufallsprozeß" (ebd) usw. usf.

Angesichts dieser Begriffsinflation und der Tatsache, daß er nirgends klar feststellt, was er eigentlich genau unter "dem Neodarwinismus", der "materialistischen Theorie der Bioevolution" und all den anderen Begriffen verstanden haben will, bleibt es andererseits nicht aus, daß er die Deszendenztheorie oder "die Fundamente" derselben mit der logisch untergeordneten Frage nach den speziellen Umwandlungen in der Geschichte der Evolution sowie mit der Ursachenfrage vermengt und verwechselt bzw. die der Deszendenztheorie untergeordneten Hypothesen über den speziellen Hergang der Evolution zur Hauptgrundlage der Deszendenztheorie umfunktioniert.

Sehen wir uns wieder anhand einiger Beispiele an, wie Lönnig den logischen Grundfehler zum System ausgebaut hat: In der Arbeit "Auge widerlegt Zufallsevolution" (32) bespricht Lönnig die Unvollständigkeit der Synthetischen Evolutionstheorie am Beispiel der Entwicklung des Wirbeltierauges. Zu diesem Zweck wird u.a. die Frage diskutiert, wie die einzelnen (nach heutiger Kenntnis mehr als 2500) an der Augenentwicklung beteiligten Gene entstanden und verschaltet worden sind, wie der "kooperative Umbau" dieses "Gennetzes" durch Mutationen erfolgt sein kann etc. Da viele Fragen derzeit noch offen stehen und man geteilter Meinung darüber sein kann, inwieweit die Mechanismen der Synthetische Evolutionstheorie zureichen, um die Evolution des Auges vollständig zu erklären, zieht Lönnig folgendes Resümmee: (33)

"Die Erklärungsprinzipien des Neodarwinismus sind am Koadaptationsproblem so absolut gescheitert, weil seine Erklärungsmethodik nur linear, nicht aber als Netzwerk von Hunderten von genauestens aufeinander abgestimmten anatomischen und physiologischen Strukturen 'vorstellbar' ist. Bei dem Koadaptationsproblem müssten zahlreiche richtungslose Mutationen an einer Kette verschiedener Punkte (den zahlreichen Strukturen im Auge, Sehnerv, Chiasma opticum, Gehirn, Muskeln etc.) gleichzeitig und gleichsinnig, im genau passender Richtung, ansetzen (...) In dem Bemühen, dem Leser die Zufalls-Geschichte glaubhaft zu machen, arbeitet man nicht nur mit dem isolierten Organ, sondern schließlich mit der 'Vervollkommnung' der isolierten Teilstruktur (...) Da man aber vielleicht selbst manchmal ahnt, dass (...) selbst bei großen Zeiträumen keine adäquate Lösung der Ursprungsfrage gegeben ist, impliziert man einfach die Evolutionsgeschichte in der abgestuften Mannigfaltigkeit und tendiert dazu, bei Behandlung der Theorie die komplizierten biologischen Verhältnisse zu simplifizieren."

Hier werden also die "Erklärungsprinzipien des Neodarwinismus" (sprich: die Faktoren Mutation und Selektion) als unzureichend eingestuft, mit speziellen Fragen nach der Synorganisation des Auges vermengt und der regelrechte Zusammenbruch (das "absolute Scheitern") des Neodarwinismus, der "Zufalls-Geschichte" etc. konstatiert. Demnach versteht Lönnig unter dem Fundament der Deszendenztheorie nicht den Nachweis "der abgestuften Mannigfaltigkeit" (in Verbindung mit den oben genannten Tatsachenreihen, wie sie jeder Biologe als mächtige Indizien zugunsten der Deszendenztheorie wertet), sondern eben die Lösung des "Koadaptationsproblems" beim Auge, zudem die lückenlose Beschreibung der Augenevolution in allen erdenklichen Details und auch noch der Beweis auf Vollständigkeit des kausalen Erklärungsschemas der Synthetischen Evolutionstheorie!


Dies alles zeigt, wie die genannten Hauptaspekte auf unzulässige Weise durcheinander geworfen werden: Lönnig stellt die Sache so dar, als hätte die Wissenschaft versprochen, die Detailschritte in der Evolution spezieller Arten und Organe vollständig aus der allgemeinen Evolutionstheorie herzuleiten. Dies ist aber schon im Grundsatz unmöglich, weil jede (!) allgemeine Theorie immer nur allgemeine Erklärungen liefern kann! Wenn sie auch etwas Spezifisches erklären soll, muß man sie mit (den für die jeweils spezifische Art oder Gruppe charakteristischen) Randbedingungen und mit dem Wissen über systemspezifische Verflechtungen anreichern, das aber erst einmal hinreichend erforscht sein muß. Dies ist jedoch kaum möglich; jede Wissenschaft muß mit Lücken leben. Lönnigs Trick besteht also darin, die Latte so hochzuhängen, daß seine Forderungen unerfüllbar bleiben. Also auch hier ist eine erhebliche Diskrepanz zur wissenschaftlichen Vorgehensweise zu konstatieren: Wer würde von der Wissenschaft verlangen, daß die Geschichte aller Völker lückenlos dokumentiert sein muß? Wer würde die Existenz eines historischen Volks nur dann "glauben", wenn die Geschichtswissenschaft auch dessen Herkunft einwandfrei belegen kann? Wer würde auf die Idee kommen, die im Detail ungeklärte Ursache für die Entstehung des am 26. Dezember 1999 über Mitteleuropa tobenden Orkantiefs "Lothar" für eine Widerlegung meteorologischen Modelle zu halten?

        

Wenn eine Detailerklärung noch aussteht, hat dies darum zunächst einmal nur mit der logischen Einsicht zu tun, daß Randbedingungen von System zu System und von Art zu Art verschieden, meist historisch einmalig, chaotisch und nicht ohne weiteres bekannt sind. (Dies gilt wie betont auch in der Meteorologie und Physik, wenn sie es mit komplexen und chaotischen Systemen zu tun hat.) Selbst die vollständigste Theorie kann zunächst gar nichts über bestimmte Detailfragen (wie z.B. die Bildung der "synorganisierten Strukturen" der Orchideen Coryanthes) aussagen! Im Gegensatz dazu ist das Prinzip der Synorganisation in allgemeiner Form sehr wohl schon erklärt worden, und nicht minder zahlreich sind auch die Beispiele, wonach anhand biologischer Details mechanismische Modelle zur Entstehung evolutiver Neuheiten erörtert werden; vgl. z.B. Ganfornina und Sanchez ("Generation of evolutionary novelty by functional shift"); Gehring und Ikeo ("Pax 6: mastering eye morphogenesis and eye evolution"); Copeley ("Evolution of a metabolic pathway for degradation of a toxic xenobiotic: the patchwork approach"); Schultes und Bartel ("One sequence, two ribozymes: implications for the emergence of new ribozyme folds"); Keefe und Szostak ("Functional proteins from a random-sequence library"); Nurminsky et al. ("Chromosomal effects of rapid gene evolution in Drosophila melanogaster"); Seffernick and Wackett ("Rapid evolution of bacterial catabolic enzymes: a case study with atrazine chlorohydrolase"); Prum und Brush ("The evolutionary origin and diversification of feathers"); Long et al. ("The origin of new genes: glimpses from the young and old"); Patthy ("Modular assembly of genes and the evolution of new functions") usw.


Ganfornina und Sanchez (1999); Gehring und Ikeo (1999); Copley (2000); Schultes und Bartel (2000); Keefe und Szostak (2001); Nurminsky et al. (2001); Seffernick und Wackett (2001); Prum und Brush (2002); Long et al. (2003); Patthy (2003) usw. usf.

             

Auch wenn in den genannten und in Myriaden anderen Arbeiten über die Entstehung evolutionärer Neuheiten viele Fragen noch offen bleiben, deutet sich zumindest an, daß Lönnigs Evolutionskritik über weite Bereiche nicht dem aktuellen Wissensstand entspricht. Zumindest belegen die Arbeiten, daß er die Situation verzerrt darstellt, denn er so tut, als hätte die Evolutionsbiologie praktisch keine kausalen Modelle, als wäre nichts erklärt und als blieben ihr nichts als offene Fragen. In der ihm eigenen Rhetorik wird dann das Fehlen von Detailerklärungen als "absolutes Scheitern" des Neodarwinismus alias "Zufallstheorie" usw. gewertet und diese Einschätzung auch noch auf die "Deszendenztheorie" alias "materialistische Theorie der Bioevolution" alias "Evolutionshypothese" usw. übertragen.

Es sei am Rande die Frage erlaubt, wie kleinlaut Lönnig eigentlich werden müßte, wenn man die enorme Wissensprogression, die seit Darwin in der Mechanismenfrage einzug gehalten hat, mit den armseligen "Allerklärungen" der ID-Lehre vergleicht, wenn man die breite Palette an Review-Artikeln, die darin präsentierten Erkenntnisse, Modelle und Einsichten in die filigranen Zusammenhänge und Mechanismen der Evolution mit den geistlosen Analogien der Design-Lehre vergleicht, deren Wissensfundus seit Jahrenhunderten (mindestens seit Paley) stagniert. Denn wo sind denn die kausalen Erklärungsmodelle der ID-Lehre, wo die Review-Artikel über die Mechanismen der Schöpfung neuer Arten? Es ist für jeden, der Augen hat, offensichtlich, daß die ID-Lehre im direkten Vergleich mit der Evolutionstheorie (ungeachtet ihrer Wissenslücken) noch weitaus schlechter dastünde, so daß sich auch die ausgefeilteste Rhetorik gegen die Evolutionstheorie als Bumerang erweisen muß, der mit ungleich größerer Wucht auf die ID-Lehre zurückprallt. Doch wir wollen unserer Argumentation nicht weiter vorgreifen und uns nach der kurzen Abschweifung wieder dem eigentlichen Thema zuwenden - der systematischen Verwechslung der Grundfrage der Deszendenz mit den Detailfragen nach den Ursachen und Abläufen der Evolution.

Auch das folgende Beispiel macht den logischen Irrtum in der Evolutionskritik deutlich: Lönnig demonstriert mit Vorliebe am Beispiel der Entstehung der Saugfalle der fleischfressenden Pflanze Utricularia vulgaris, wie bruchstückhaft unser Wissen über die einzelnen Detailschritte noch ist. Angesichts der zur Zeit noch offenen Frage, wie bzw. über welche Zwischenstufen die evolutionäre Entwicklung dieser Art verlief, wird das Organ sogleich als "Beispiel(e) von Tausenden zur Widerlegung des Neodarwinismus" gehandelt.


U. Kutschera wurde hier mit folgenden Worten kritisiert: "Und auch hier kam ja keine wirkliche Argumentation. Hier wurde einfach behauptet, Utricularia - eines der vielen Argumente gegen die herrschende Evolutionstheorie ... sei ein Musterbeispiel für die Richtigkeit der Evolutionstheorie" (80) In der Tat: Die Unkenntnis der Evolutionsschritte von Utricularia ändert nichts an den Belegen, die für den evolutionären Ursprung der Spezies sprechen. Entscheidend ist auch hier, daß der Biologe auf der Basis der wohlbestätigten Deszendenztheorie den Schluß ziehen kann, daß die historischen Vorfahren bei den Blattpflanzen zu suchen sind, auch wenn wir noch nicht wissen, wie dies im Detail geschah. Außerdem ersteht die Saugfalle sichtbar durch Blattmetamorphose. Die Saugfalle ist mit anderen Worten einem Blatt homolog, so daß hier die Deszendenztheorie erneut durch die Tatsache der abgestuften Formenähnlichkeit bestätigt wird (Kutschera 2004, S. 288 f.).

               

Angesichts solch irreführender Behauptungen unterliegt der wissenschaftstheoretische und biologische Laie unwillkürlich dem Trugschluß, als würde sich die Abstammungsfrage in abertausende gesonderter Einzelprobleme - und jedes davon wiederum in hunderte von Sonderproblemen - auflösen, die allesamt untersucht und von der Evolutionstheorie erst einmal vollständig gelöst werden müßten, bevor der Sachverhalt der gemeinsamen Abstammung der Arten als wissenschaftlich untermauert gelten könne.

Es ist klar, daß der Kreationist unter dieser Voraussetzung sofort weiterfragt, sobald man eine mögliche Lösung für ein spezielles Problem präsentiert hat (wie z.B. das Modell von Gehring und Ikeo (1999) über die Augenevolution oder das -simplistischere, jedoch nicht zwingend falsche - Modell, wonach sich das Wirbeltierauge Schritt für Schritt, unter Wahrung von Funktionalität und Adaptivität vom Pigmentfleck über das Becher- und "Nautilusauge" herausbildete): "Wie entstand die durchsichtige und gekrümmte Hornhaut des Auges?' (...) 'Wie entstand die Linse mit ihren Einrichtungen, ihrem Anpassungsvermögen an Nähe und Ferne?' (...) 'Wie entstand die Netzhaut, die auf einem einzigen Quadratmillimeter 100 000 bis 180 000 lichtempfindliche Stäbchen oder Zapfen trägt?' (...)" usw. (34).

Dieses Spiel läßt sich also ad infinitum weitertreiben - und wird auch weitergetrieben, obwohl Vollmer (1986, S. 28) noch die Hoffnung hegte: "Dieses Argumentationsmuster wird sich aber schließlich doch leerlaufen; es muß einfach langweilig werden." Womit er offenbar nicht gerechnet hat, war die Beharrlichkeit vieler Evolutionsgegner, die kein Problem damit haben, Dutzende von Seiten für die nutzlosesten Diskussionen über dieses oder jenes Problem bei der Entstehung irgendeines morphologischen Details zu vergeuden, nur um - nachdem die Lücke geschlossen wurde - einen Schritt hinter die Frontlinien zurückzutreten und das Spiel an einem anderen Detail von vorne zu beginnen. Bloß taugt das überaus bequeme Schema der Evolutionskritik weder zur Widerlegung der Synthetischen Evolutionstheorie noch (und erst recht nicht) zur "Widerlegung" der Deszendenztheorie.

Der methodologische Irrtum ist übrigens auch ohne diffizile Begründungen sehr leicht zu durchschauen - man braucht dazu ja nur den Sachverhalt "Evolution" durch einen beliebigen anderen wissenschaftlichen Sachverhalt zu ersetzen und die Kritik - unter Beibehaltung der Lönnigschen Redensarten - am Beispiel einer anderen Theorie (wie etwa der Atomtheorie) durchzuspielen. Und man würde feststellen, daß man mit den Lönnigschen Argumentationsmethoden jede beliebige, wissenschaftlich wohlbestätigte Theorie aus den Angeln heben könnte! Man bräuchte, um wieder die Chemie als Beispiel zu wählen, nur darauf hinzuweisen, daß dieser oder jener Mechanismus zur Beschreibung dieser oder jener speziellen Reaktion noch unbekannt sei, ferner einige überholte historische Vorstellungen in der Geschichte der Atomtheorie aufzuzählen, sämtliche Erklärungserfolge der Theorie sorgfältig unter den Tisch fallen zu lassen und könnte so in scheinbar wissenschaftlichem Gestus (und unter Verdrehung des Popperschen "Falsifikationismus") reihenweise Argumente zur "Widerlegung" der allgemeinen Atomtheorie generieren. Dies könnte z.B. folgendermaßen aussehen:


Die Erklärungsprinzipien der Atomisten sind am Problem der Reaktionskinetik absolut gescheitert, weil deren Erklärungsmethodik auf simplistischen stoßtheoretischen Betrachtungen beruht. So sind die Atomisten nicht in der Lage, den Mechanismus komplexer chemischer Umsetzungen, wie etwa der MAILLARD-Reaktion oder die Musterbildung und Synorganisation der Moleküle bei der BELUSSOV-ZHABOTINSKY-Reaktion im Detail zu erklären, geschweige denn die reaktionskinetischen Verhältnisse quantitativ vorherzusagen. Bis heute müssen sich die Atomisten mit idealisierten Vorstellungen, semiempirischen und ab-initio-Verfahren behelfen, die jedoch nur für einfache Fälle halbwegs akzeptable Näherungslösungen liefern. Ferner hat die klassische Elektrodynamik BOHRs Vorstellung der Bahnbewegung der Hüllenelektronen widerlegt, weil diese infolge der Emission von elektromagnetischer Strahlung in den Atomkern hineinspiralen müßten. Schon DALTONs Idee von der Unteilbarkeit der Atome wurde durch die Entdeckung der Radioaktivität widerlegt. Keine der atomistischen Hypothesen hatte die "physikalischen Tatsachen" jemals vorausgesehen oder gar postuliert. Angefangen mit DALTONs homogenem Kugelmodell über THOMPSONs "Rosinenkuchen-Modell" bis hin zu RUTHERFORDs und BOHRs Modellen hat sich keine atomistische Strukturidee als richtig herausgestellt. Wir müssen daher schon weiterfragen: Wieweit sind solche Strukturideen faktisch erwiesen?

Wir dürfen auch nicht vergessen, daß sich das postulierte Energiekontinuum in den Experimenten zur Schwarzkörperstrahlung von PLANCK sowie von EINSTEIN zum photoelektrischen Effekt als unrichtig herausgestellt hat. In dieser Frage ist PLANCK von den Atomisten leider genauso fehlinformiert worden, wie im Fall der klassischen Bahnbewegung. Vor allem wurde mit dem BOHRschen Atomismus insofern einen falsche Strukturidee vertreten, als er mit der Hilfshypothese von den "strahlungsfreien Bahnen" die Elementspektren, Kovalenzradien, Bahndrehimpulse von Hüllenelektronen u.v.a vollständig erklären wollte. Auch die Beweise von CLAUSIUS, der den Entropiebegriff in die Thermodynamik einführte, bedeuteten eine Widerlegung der angenommenen Reversibilität atomarer Bewegungen, wonach sich die widersinnige Schlußfolgerung ergab, daß sich der ganze Weltablauf umkehren lassen müßte. Die quantenmechanischen Beweise der 1900-1930er Jahre bedeuteten eine weitere Widerlegung atomistischer Strukturideen; ein Beispiel von Tausenden zur Widerlegung des totalitär-materialistischen Neo-Atomismus. Trotz zahlreicher Widerlegungen wird die Atomtheorie als nichtfalsifizierbares Dogma durch immer neue Hilfskonstruktionen gerettet. Was also könnte den Neo-Atomismus widerlegen? - Nichts! Wir fragen daher: "Inwieweit gelten POPPERs Falsifikationskritierien auch für die Atomtheorie"?


Tatsächlich hat die christliche Scholastik (unter dem Einfluß des heiligen Thomas von Aquin) mit ihrer Ernennung des Aristoteles zum Philosophen schlechthin, die Anerkennung der "Atomlehre" bis ins 17. Jahrhundert hinein behindert. Die Ansicht vom atomaren Bau der Materie galt als "gottlos", weil die Atomisten ein mechanisches Universum lehrten, wonach sich "die Atome im leeren Raum so bewegen, wie es der bloße Zufall gerade will, und von selber infolge eines jeder Ordnung baren Antriebes miteinander zusammenstoßen." (Man beachte die Übereinstimmung der Argumenationsstrukturen von "Anti-Atomisten" und "Anti-Evolutionisten"!)            

           

Man sieht hier überdeutlich: Auch wenn die genannten Faktenaussagen nicht direkt falsch sind, hat die zum Zweck der "Widerlegung" herangezogene Methodologie mit einer seriösen, wissenschaftlichen Argumentation nicht mehr das Geringste zu tun! Doch welcher Laie vermag schon zu erahnen, welches Ausmaß an weltanschaulicher Willkür sich hinter solch wissenschaftlich klingenden, in Wahrheit jedoch völlig verfehlten Aussagen verbirgt?

         

3.3. Die irreführende Zitierpraxis

Nun hat Lönnig, einmal auf die schiefe Ebene des fatalen logischen Fehlers geraten, eine noch weitaus sonderbarere Situation geschaffen. So ist es geradezu einzigartig, wie er es anstellt, daß ihm just die Anhänger der von ihm bekämpfen "Doktrin" höchstselbst die schärfsten Waffen gegen sich in die Hand geben! Dies macht er dadurch, indem er das, was sie gegen die Vollständigkeit der Synthetischen Evolutionstheorie einwenden, stillschweigend auf die Deszendenztheorie überträgt! Auf Lönnigs Homepage wird z.B. ein Artikel über "Utricularia" mit einem Zitat des Biologen Ludwig von Bertalanffy übertitelt. (35) In diesem Zitat bemerkt Bertalanffy in barschem Tom: "Die Tatsache, dass eine derart vage, ungenügend beweisbare und so weit von den in der ‚strengen Wissenschaft' üblicherweise angewandten Kriterien entfernte Theorie [die Synthetische Evolutionstheorie] zu einem anerkannten Dogma werden konnte, lässt sich meiner Meinung nur auf soziologischer Grundlage erklären", woraufhin Bertalanffy (unter platter Anbiederung an dessen Meriten) in alle Himmel gehoben und zu einem der "größten Biologie-Theoretiker des 20. Jahrhunderts" stilisiert wird.

Jeder Laie denkt sich also, Bertalanffy hätte sich der Synthetischen Evolutionstheorie und zugleich auch der "materialistischen Theorie der Bioevolution" entledigt, zumal Lönnig das Zitat gut sichtbar in seine Fundamentalkritik eingebunden hat. Kaum ein Mensch kommt dabei auf den Gedanken, daß Bertalanffy in Wahrheit mit seiner allgemeinen Systemtheorie gerade die Grundlagen für eine synergetische Betrachtung der Evolution begründet und somit auch das Fundament für Riedls systemtheoretische Erweiterung der Synthetischen Evolutionstheorie gelegt hat! Niemand, der nicht wenigstens mit einem Bein in der Literatur steht, kommt auf die Idee, daß Bertalanffy den Kreationismus - nämlich dieses "bedingungslose(n) Schlucken eines pseudoreligiösen oder politischen Dogmas" (Bertalanffy 1970, S. 80) - mindestens ebenso hart an den Pranger stellte, wie dies aus Lönnigs Sicht die angeblich "herrschenden neodarwinistischen Dogmatiker" tun.

In einem anderen Text erfährt der Leser von Lönnig nur ganz beiläufig, daß Bertalanffy (neben Frisch, Portmann und Eccles) eben doch den "Evolutionstheoretikern" angehört.(36) Allerdings wird dieses Zugeständnis sofort mit den Zusatz versehen, er (Bertalanffy) habe "der materialistischen Theorie der Bioevolution Grenzen aufgezeigt". Also selbst hier wird noch so getan, als wäre mit der "neodarwinistischen Evolutionstheorie" bzw. dem "neodarwinistischen Absolutheitsanspruchs" zugleich auch die "materialistische Theorie der Bioevolution" (alias "Deszendenztheorie", alias "Evolutionshypothese" etc.) bedrohlich ins Wanken geraten. Es wäre jedoch weit mehr als eine kühne Übertreibung, wollte man Bertalanffy ernsthaft diese Grundaussage in die Schuhe schieben. Tatsächlich hatte Bertalanffy nichts weiter getan, als völlig zurecht darauf hinzuweisen, daß "die Synthetische Evolutionstheorie die empirischen Tatsachen nicht vollständig [!] zu erklären scheint". Von einer "Widerlegung" des Neodarwinismus oder gar von Grenzen der "materialistischen Theorie der Bioevolution" ist bei all dem gar nicht die Rede! Denn auch Bertalanffy bekennt sich ja zu dieser "materialistischen Theorie der Bioevolution", wenn er nachdrücklich eine "Betrachtungsweise" einfordert, in der "die Evolution nicht als völlig ‚außengerichtet' angesehen wird, sondern als mitbestimmt durch Gesetze auf organismischer Ebene" (Bertalanffy 1970, S. 89). Und auf S. 79 schreibt er zur Synthetischen Evolutionstheorie: "Es ist natürlich nicht die Absicht unserer Diskussion, den Neodarwinismus als wissenschaftliche Theorie zu ‚widerlegen'; seine Erfolge werden von uns als gegeben angenommen, und irgendwelche speziellen Probleme wollen wir hier nicht behandeln. Unsere Fragestellung bezieht sich auf den ‚Nichts-als'-Anspruch' der Synthetischen Theorie, also auf die Behauptung, daß dieses Modell oder Schema prinzipiell die Möglichkeit zu einer vollständigen Erklärung der Evolution enthalte."

Damit unterscheidet sich Bertalanffys Auffassung nicht grundsätzlich von unserer. Es ist doch völlig trivial, daß zu einer vollständigen Erklärung der Bioevolution neben der "Außenselektion" auch "innere" Aspekte, entwicklungsbiologische Prinzipien, epigenetische Faktoren (sprich: ein systemtheoretischer Standpunkt) eingenommen werden muß. Lediglich aus Gründen der didaktischen Einfachheit umgeht die Synthetische Evolutionstheorie diese Komplikation, indem sie eben die "inneren" Systemgesetzlichkeiten nicht gesondert betrachtet.


Diese Vorgehensweise ist legitim, denn Systeme bestehen in der Regel aus Subsystemen, die jeweils gesondert analysiert werden können. Ein jeder Mittelstufenschüler weiß ferner, daß lineare Beschreibungen komplexer Systemprozesse näherungsweise richtig und der systemtheoretischen Beschreibung sogar vorzuziehen sein können, wenn sich die vollständige Beschreibung als zu schwierig herausstellt. Letztlich ist jede Kausalerklärung mehr oder minder unvollständig, da je nach Betrachtungsebene auch "tiefere" Erklärungen möglich sind. Es ist daher methodologisch nicht zu rechtfertigen, wenn Lönnig v. Ditfurths "lineare Simplifikationen" (81) attackiert, so als wären sie vollkommen falsch und so, als sei v. Ditfurth mit dem Anspruch angetreten, die Wirklichkeit vollständig zu erfassen. Unseres Erachtens zeigt dies nur, daß Lönnig den Unterschied zwischen erkenntnistheoretischem Reduktionismus (als legitime Forschungsstrategie) und ontologischem Reduktionismus (Physikalismus) nicht verstanden hat (s. Mahner und Bunge 2000, S. 111).

         

Dabei wird natürlich (und das Zugeständnis können wir Lönnig schenken!) dem Zufall sowie der "Außenselektion" streckenweise zu viel in die Schuhe geschoben, so daß die Erklärungen von Hause aus unvollständig und simplistisch sind. Daraus folgt dann eben, daß der Anwendungbereich der Selektionstheorie zugunsten epigenetischer Faktoren beschnitten werden muß. So ist es in der Tat beklagenswert, wenn Evolution oft auf die Molekulargenetik und die Verschiebung irgendwelcher Genfrequenzen in Populationen reduziert wird, während das Augenmerk in der Frage der Entwicklung evolutiver Neuheiten eigentlich auf das epigenetische System, die Ontogenese, deren Mechanismen und Eigengesetzlichkeiten gerückt werden muß (vgl. dazu auch Mahner und Bunge 2000, S. 334 f.; Riedl 2003).

Dies bedeutet jedoch nicht, daß die Wahrscheinlichkeitsrechnungen, die Lönnig auf seiner Homepage präsentiert, einen realen Bezug zur Biologie Tatsachen erkennen ließen. Vielmehr wird in einer Art und Weise multipliziert und potenziert, daß darüber die Voraussetzungen vergessen wären, unter denen die Schlüsse berechtigt wären. (82) Abgesehen davon, daß die Randbedingungen, die Lönnig bei seinen Rechnungen wählt, empirisch gar nicht valide sind, mißachtet er eine Reihe wichtiger, für biologische Systeme charakteristischen Voraussetzungen, unter denen diese Berechnungen irrelevant werden (zu den Details vgl. Neukamm 2004 c).

            

Dies (und nur dies!) ist die Grundaussage jener Kritiker am "Neodarwinismus", die sich Lönnig im Lager der Evolutionsbiologie zusammensucht. Es wird doch aber schlicht nach der Strohmann-Taktik verfahren, wenn so getan wird, als wolle jeder "Neodarwinist" von vorne herein die Vollständigkeit seiner Theorie behaupten und als bräche mit dem "Zurückweichen" von Zufall und Umweltselektion die Synthetische Evolutionstheorie vollständig in sich zusammen - und die Deszendenztheorie gleich mit dazu!

Doch es gleicht wohl einer Investition mit geringer Aussicht auf Erfolg, wenn man von unserem Gegner soviel Einsicht in die logischen Zusammenhänge erwartet, damit er erkennt, daß die Unvollständigkeit einer theoretischen Erklärung keinesfalls mit ihrer völligen Falschheit gleichzusetzen ist! Und wäre Lönnig nicht ebenso wie wir von dem Wunsch beseelt, den Ursprung der Arten zu verstehen, und wäre er (um es in den Worten Tschuloks auszudrücken, der diese Irregularität schon bei dem Kreationisten Fleischmann bemängelte) nicht "so bodenlos in seinem Irrtum befangen, man könnte ihm wahrhaftig den ärgsten Zitatenmißbrauch vorwerfen. Denn es ist doch für jeden Unbefangenen klar, daß in den [meisten der, wie z.B. von Bertalanffy] angeführten Zitaten (...) nicht der Schatten einer Absage an die Grundidee der Entwicklung enthalten ist, an das was wir als ‚die Deszendenztheorie' bezeichnen" (Tschulok 1922, S. 263; Einschub von M.N.).

Soviel Zitate wir aus Lönnigs Texten auch immer herausgreifen, die meisten davon belegen, daß beide Fragestellungen (die Unvollständigkeit der Synthetischen Evolutionstheorie und die Frage der Deszendenz) völlig unkoordiniert durcheinander gehen. Dies läßt sich auch an einem Zitat des Onkologen F. Schmidt nachweisen, der - wie Bertalanffy - dafür bekannt war, das Faktorensystem der Synthetischen Evolutionstheorie in wortgewaltigen Polemiken angegriffen zu haben. Daher widmet Lönnig F. Schmidt (in: "Gott Zufall") einen ganzen Abschnitt, um nach einigen weiteren kritischen Stellungnahmen zu folgendem Schluß zu gelangen: (37) "welche grundsätzliche Alternative haben wir [zur Evolutionstheorie]? Nach meinem Verständnis lautet die wissenschaftliche Alternative INTELLIGENT DESIGN". Der unbedarfte Leser denkt sich also auch hier, daß es sich bei dem Kybernetiker Schmidt um einen Biologen handele, der nach reiflicher Überlegung und kompetenter Abwägung aller "Tatsachen" zu dem Schluß gelangt sei, daß die "materialistische Theorie der Bioevolution" (alias "Neodarwinismus" alias "Synthetische Evolutionstheorie" alias "Deszendenztheorie" alias "Zufallstheorie" alias "Postulat von der Gesamtevolution" usw.) rundweg widerlegt wurde. Doch beim genaueren Hinsehen, entpuppt sich auch Schmidt, einer der ärgsten Kritiker des Neodarwinismus, keineswegs als Anhänger der "grundsätzlichen Alternative des Intelligent Design", sondern als Verfechter eben jener "materialistisch motivierte(n) Grenzüberschreitung" (38), die Lönnig mit Schmidts eigenen Worten widerlegt zu haben glaubt!

Was also soll sich der Leser bei all dem denken? Daß eigentlich nicht Lönnig, sondern Bertalanffy, Schmidt und viele weitere Biologen (wie Goldschmidt, Schindewolf etc.), die den "Darwinismus" z.T. sehr heftig kritisiert haben und die Lönnig in Reih' und Glied aufmarschieren läßt, den Zusammenbruch der "Evolutions-Doktrin" proklamierten, obwohl sie all ihr fachliches Wissen und ihre Reputation zugunsten der Anerkennung der Deszendenztheorie in die Waagschale geworfen haben? Auch in diesem Punkt läßt Lönnig seine Leser mit ihrer Verwirrung im Stich. Er überläßt es bescheiden ihnen, die Quellen nachzuschlagen, damit sie sich auf eigene Faust einen Reim darauf machen, wie all dies unter einem Hut zusammengeht, wie es also sein kann, daß sich Bertalanffy, Schmidt u.v.a. zwar über die "tieferen" Ursachen der Evolution uneins waren, davon jedoch unbeirrt an der Deszendenztheorie festhielten.

An den wenigen Stellen, an denen Lönnig eine Erklärung liefert, wird deutlich, daß er das "Establishment" des Materialismus und dessen "Arsenal von Immunisierungsstrategien" dafür verantwortlich macht, daß die klügsten Köpfe die Sache schlichtweg nicht durchschaut haben. So sei z.B. "Sir Karl Popper von Vertretern der Synthetischen Evolutionstheorie" schlichtweg "fehlinformiert worden" (39) (was nach Einschätzung führender Vertreter in der "Birkenspanner-Frage" mit Blick auf die eigentlich relevanten Fakten übrigens mit keiner Silbe stimmt; denn auch hier vermengt Lönnig wieder auf fatale Weise die Grundfrage der Selektion (also das "ob") mit der Frage nach den Mechanismen (also das "wie") der Selektion; vgl. Neukamm 2003). Und im Interview mit Poppenberg wird in selbstgefälliger Art folgendes zu Protokoll gegeben: (40) "Ja, wenn jemand noch nie etwas an wirklich gründlichen naturwissenschaftlichen Argumenten gehört hat, ja, wie soll er jetzt plötzlich von selber darauf kommen, dass vielleicht die Grundlagen gar nicht sicher sind, so sicher, wie es behauptet worden ist. Also es ist mehr, praktisch eine... - man kann es [vielleicht mit folgender Frage vergleichen]: Warum ist jemand katholisch? Die Eltern waren schon katholisch, die Großeltern waren auch schon katholisch (...) Man setzt es einfach voraus."

Also haben Heerscharen von Forschern, darunter die klügsten Köpfe ihrer Zeit, mangelnde Sorgfalt im Umgang mit den "biologischen Tatsachen" walten lassen und sind dem "Establishment" auf den Leim gegangen, ohne die "falschen Tatsachen" und logischen Fallstricke des Evolutionsgebäudes zu durchschauen, während Lönnig fast als einziger die "wahren" Zusammenhänge erkannt hat? Und wieder stehen wir vor einem dieser unglaublichen Mirakel - ein Rätsel, das sich allerdings mit einem Schlage lösen läßt, wenn man sich Lönnigs Verwechslung zweier getrennt voneinander zu untersuchenden Fragestellungen vor Augen hält, so daß die Verirrung nicht auf Seiten der Wissenschaft, sondern auf Lönnigs Seite zu suchen und seine These von der systematischen Desinformation seitens der Evolutionsbiologie in das Reich abstruser Verschwörungstheorien zu verbannen ist.

Um dies abschließend am Beispiel des Wissenschaftstheoretikers Karl Popper zu belegen, sei vorausgeschickt, daß Lönnig vielfach auf dessen Falsifikationismus bezug nimmt (ihn jedoch erheblich verzerrt rezipiert; vgl. dazu Neukamm 2002; 2003), um die Evolutionstheorie mit folgendem Sachverhalt zu konfrontierten: Popper bezeichnete den "Darwinismus" (genauer: die Selektionstheorie) langezeit als metaphysisch, weil er die inzwischen widerrufene Auffassung vertrat, daß die Selektionstheorie tautologisch und nicht prüfbar (eingeschränkter: widerlegbar, falsifizierbar) sei. Daher fordert Lönnig "Falsifikationskriterien" für die Evolutionstheorie ein und gibt zu bedenken: "Die Evolutionstheorie gibt die empirische Wissenschaft auf, ‚wenn man die Falsifizierung um jeden Preis vermeidet'" (41) Auch hier vermengt Lönnig die Begriffe "Darwinismus" und "Evolutionstheorie", während Popper zwischen ihnen strikt unterschieden hatte. Popper schreibt: "Man muß zwei unterschiedliche Theorien auseinanderhalten: einerseits die allgemeine Evolutionstheorie, nach der das Leben auf der Erde sich aus wahrscheinlich einzelligen Organismen entwickelt hat, und andererseits die Darwinsche Theorie, nach der das Leben sich durch natürliche Selektion entwickelt hat. Man darf die Evolutionstheorie nicht mit der Theorie durcheinanderbringen, die erklärt, welcher Mechanismus diese Evolution hervorgebracht hat (...) Die allgemeine Evolutionstheorie, also die Behauptung, daß das Leben auf der Erde in langsamer Entwicklung zu dem geworden ist, was es ist, hat eine außerordentliche Überzeugungskraft (...) Natürlich ist sie überprüfbar. Und natürlich könnte sie widerlegt werden, wenn man die Reste eines Autos in Gestein aus dem Kambrium fände." (Popper 1994).

Hier ist also nicht Popper von den Darwinisten, sondern der Leser von Lönnig in allen entscheidenden Hauptfragen schlicht fehlinformiert worden! Denn jedem, der sich die Mühe macht, Poppers Auffassungen genau zu ergründen, fällt es wie Schuppen von den Augen, daß sein längst verblaßter "Metaphysikvorwurf" niemals die Deszendenztheorie (die "allgemeine Evolutionstheorie"), sondern "nur" die Theorie von den Mechanismen der Evolution betraf und wieder zurückgezogen worden ist. Popper hatte also seine Hausaufgaben gemacht. Nur Lönnig läßt es noch an der "gründlichen naturwissenschaftlichen Argumentation" mangeln, doch wie soll der Leser plötzlich von selber darauf kommen, daß vielleicht die logischen Grundlagen antievolutionistischer Argumentation gar nicht sicher sind, so sicher, wie es behauptet worden ist? Man setzt es in den meisten Fällen wohl einfach voraus.

Doch um die Verwirrung des Lesers komplett zu machen, sei abschließend betont, daß Lönnig alle methodologischen Klippen glücklich umschifft, sobald es darum geht, die Grundfrage der postulierten Schöpfung von den Fragen nach dem Mechanismus der postulieren Schöpfung logisch zu trennen. So schreibt Lönnig zu unserer vollen Verblüffung: (42) "Die Frage, ob es die Schöpfung (...) gibt, ist unabhängig von der Frage, warum es die Schöpfung gibt. Und die Frage, wie die Schöpfung als solche funktioniert, wird auch häufig unabhängig von den beiden ersteren untersucht. Stelle ich aufgrund meiner biologischen und anderer Studien nun fest, dass die Frage nach dem Ob eindeutig zu bejahen ist, dann kann die Frage nach dem Warum zunächst noch offen sein." Warum dann also die ganze Diskussion um Utricularia, Coryanthes, Catasetum, das Wirbeltierauge etc., wenn doch von Anfang an kein Zweifel daran bestand, daß die Frage nach dem "ob" unabhängig von Frage nach dem "wie" zu untersuchen ist? Weshalb ist diese logische Einsicht augenblicklich nichts mehr Wert, sobald der Sachverhalt der "Schöpfung" durch den Sachverhalt der "Evolution" ausgetauscht wird? Weshalb sind die biologischen Fakten, anhand deren die Frage nach dem Ob der Evolution eindeutig zu bejahen ist, nichts mehr Wert, nur weil die Frage nach dem Wie noch nicht vollständig und in allen Details beantwortet worden ist? Dies ist wohl die fundamentalste Frage, auf die uns Lönnig bislang die Antwort schuldig blieb. Ab hier überlassen wir es unseren Lesern, sich die Frage zu beantworten, inwieweit es mit dem Grundsatz der intellektuellen Redlichkeit vereinbar ist, in einer so offensichtlichen Weise "zweigleisig" zu argumentieren und begnügen uns damit, die Widersprüche einer solchen Argumentation darzulegen. Demnach enthält die Lönnigsche Argumentation tatsächlich "1000 Beispiele zur Widerlegung" - es sind aber nicht Beispiele zur Widerlegung des "Neodarwinismus", sondern zur Widerlegung seiner eigenen Methodologie.

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(*) Nachtrag, 05.12.10

Seit einigen Monaten kursiert im Internet eine Propangandaschrift des religiösen Eiferers W.-E. Lönnig mit dem Titel "Die Affäre Max Planck, die es nie gegeben hat" (2 Teile), die man kaum als etwas anderes als ein Verlegenheitsmanöver interpretieren kann. Denn beschämenderweise geht Lönnig darin auf die kardinalen Anklagepunkte gar nicht ein - seine Diskussion endet präzise an dem Punkt, an dem seine Methodologie ins Fadenkreuz wissenschaftlicher Analyse gerät. Das heißt, alles was ab Kapitel 3 ("Die Lönnigsche Methodologie") bzw. zwischen den Seiten 236 und 271 im Buch "Kreationismus in Deutschland" (U. Kutschera, 2007, Hg.) besprochen und analysiert wird (vgl. http://ag-evolutionsbiologie.de/app/download/3828704602/Max-Planck(Buchfassung).pdf), kehrt Lönnig nonchalant, und in der Hoffnung, es möge keiner seiner Leser bemerken, unter den Teppich. Selbst der 2. Teil der Erwiderung, der Monate zuvor als "Fortsetzung der Diskussion" angekündigt wurde, widmet sich allem möglichen, nur nicht der methodologische Analysen des Beitrags "Wolff-Ekkehard Lönnig und die Affäre Max Planck", um die es doch eigentlich ursprünglich ging. Wenn das kein krudes Ablenkungsmanöver ist, was dann?

Davon abgesehen reibt man sich über die Wahl des Titels ("Die Affäre Max Planck, die es nie gegeben hat") verwundert die Augen. Was lesen wir bei Wikipedia (Eintrag vom 05.12.10) über die Bedeutung des Begriffs Affäre? "Der Begriff Affäre bezeichnet eine unangenehme, dunkle, peinliche oder skandalöse Angelegenheit..., einen Skandal in Politik und Wirtschaft..., oder aber ein sexuelles 'Liebesabenteuer', das oftmals zeitgleich zu einer bestehenden Partnerschaft stattfindet" (http://de.wikipedia.org/wiki/Aff%C3%A4re). Ungeachtet der platonischen Liebesabenteuer, die sich zwischen Lönnig und Jehova auf fiktiver Ebene abspielen mögen (oder auch nicht), war die Angelegenheit für Lönnigs Arbeitgeber so abgrundtief unangenehm und peinlich, dass das Direktorium des Kölner MPIZ die Instituts-Website des religiösen Fanatikers nach 3-stündiger Krisensitzung "massiv entrümpelte", und zwar kurz nachdem die Vorkommnisse dank der renommierten Wissenschaftszeitschrift Nature der Weltöffentlichkeit bekannt wurden (vgl. hierzu die erhellende Reportage von Urs Willmann: http://www.zeit.de/2003/19/Kreationisten). Die Angelegenheit war den Direktoren des Max-Planck-Instituts sogar so peinlich, dass sie sich noch Jahre später in der Zeitschrift Laborjournal (6/2006) zu der Feststellung genötigt sahen, man distanziere sich in aller Klarheit von Lönnigs Weltanschauung namens "Intelligent Design". Wenn das keine Affäre in der ureigensten Bedeutung dieses Wortes ist, was dann? Einmal ganz zu schweigen davon, dass die übrige "scientific community" die Versuche, Intelligent Design mithilfe des Renommees eines Max-Planck-Instituts wissenschaftlich abzusichern, tatsächlich als einen Skandal, als einen dreisten Indokrinationsversuch betrachtete, sonst hätte es die Affäre nicht bis in die Wissenschaftszeitschrift Nature geschafft.

                      


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