Die Evolutionsgegner:

Die empiristische Definition von Naturwissenschaft und die Beschränkung auf das experimentell bzw. direkt Beobachtbare

                         

Zusammenfassung:

Evolutionsgegner machen sich in aller Regel eine wissenschaftstheoretische Position zueigen, die Theorien nur dann einen naturwissenschaftlichen Status zugesteht, wenn deren Erkenntnisgegenstände im Experiment beobachtet werden können. Es wird dann behauptet, daß nicht direkt feststellbare und/oder experimentell unbeobachtbare Prozesse aus der Naturwissenschaft herausgehalten werden müssen, weil sich über sie beliebig spekulieren ließe. Die Folge ist, daß alle historischen Theorien, wie beispielsweise die evolutionäre Abstammungshypothese, aus der Naturwissenschaft herausfielen. Damit hätten die Evolutionskritiker ein wichtiges Etappenziel erreicht, nämlich die Evolutionstheorie wissenschaftlich zu isolieren. Wir wollen deshalb in diesem Artikel diese als Empirismus bezeichnete erkenntistheoretische Auffassung kritisch beleuchten und erklären, weshalb die Strategie, eine methodologische Trennlinie zwischen einer „experimentellen Naturwissenschaft“ und einer „spekulativen Geschichtswissenschaft“ zu errichten, nicht konsistent durchgehalten werden kann. Wir werden aufzeigen, daß die historischen Aspekte der Evolutionstheorie eben doch naturwissenschaftlich erforschbar sind und mit einem ebenso hohen Grade der Gewißheit untermauert sind, wie etwa die Atome der Atomtheorie.

English summary:

Anti-evolutionists regularely represent a special kind of methodology which only appreciates the scientific character of a theory, if it operates with observable entities or processes. But if the theory contains non-reproducable or unobservable subjects, the metatheoretical theory doesn’t accept its scientific character because it allegedly could be speculated in an arbitrary way about these postulated entities. The result is the methodological isolation of historical theories (like the theory of descendence), so creationists apparently reaches an important goal in the controversy about evolution and creation. For that reason it is necessary to discuss that methodology called empirism in a critical way, and we has to explain why the distinction between “operational” and “historical” science is not defensable in a consistent way. We will show that there is only one kind of scientific method so historical aspects of a theory of evolution are scientifically like all other scientific disciplines. The general process of evolution is grounded in a comparable degree like the atoms in the atom theory.

               

1. Die Evolutionsgegner und die Beschränkung von Naturwissenschaft auf das Beobachtbare bzw. experimentell Wiederholbare     

Die Erfahrung zeigt, daß Lebewesen immer aus Organismen ihrer Art hervorgehen. Man kann beobachten, daß aus einer Buchecker immer nur eine Buche entsteht und daß sich aus den Eiern des Grasfrosches immer nur Grasfrösche entwickeln. Die Beobachtung lehrt uns also die Unveränderlichkeit (Konstanz) der Arten. Es kann daher nicht überraschen, daß sich Evolutionsgegner auf derartige Beobachtungen berufen und behaupten, statt "Makroevolution" ließe sich "(...) hingegen weltweit die Degeneration von Arten biologisch-genetisch beweisen (...)" (LÖNNIG, 1998).

Mit solchen Aussagen wird impliziert, daß sich Naturwissenschaft auf die Erforschung des jederzeit Feststellbaren zu beschränken und "metaphysische Spekulationen" zu meiden habe. Als Folge dieses Wissenschaftsverständnisses werden natürlich alle Hypothesen und Theorien, die sich mit geschichtlichen Ereignissen beschäftigen (wie die Abstammungshypothese), aus der Naturwissenschaft herausgehalten, da Vergangenes im Nachhinein nur im Rahmen einer "theoriegeleiteten Interpretation" von Daten, nicht aber durch die "unbefleckten Beobachtungsdaten", erschlossen werden kann. Deshalb legen Evolutionskritiker wie JUNKER und SCHERER viel Wert auf eine: 

"(...) sorgfältige Trennung von objektiven Daten, theoriegeleiteten Interpretationen und weltanschaulichen Vorentscheidungen (...) weil sich zeigt, daß das Problem des Ursprungs und der Geschichte des Lebens grundsätzlich nicht ohne weltanschauliche Grenzüberschreitung bearbeitet werden kann." "(...) Naturwissenschaft dagegen befaßt sich mit gegenwärtig ablaufenden Vorgängen und gegenwärtigen Strukturen der Welt und kann die historische Dimension nicht erfassen (...) Es ist ja nicht möglich, die Geschichte der Lebewesen durch direkte Beobachtung oder durch experimentelle Analysen zu erhellen."

(JUNKER und SCHERER, 1998, S. 5 und 17)

                                    

Haben Evolutionsgegner also Recht wenn sie behaupten, die Abstammungshypothese beschäftige sich mit Prozessen, die sich mit rein naturwissenschaftlichen Methoden nicht erforschen lassen?

Zunächst wollen wir feststellen, daß der Einwand einer Wissenschaftsphilosophie entspringt, die man als Empirismus (1) bezeichnet. Als Quelle der Erkenntnis akzeptiert der Empirismus ausschließlich die Erfahrung (Sinneswahrnehmung, direkte Beobachtung, Experiment). Die Aufgabe von Wissenschaft soll also einzig darin bestehen, intersubjektiv nachprüfbare Erscheinungen zu beschreiben, das heißt sie in sogenannten "Protokoll-" oder "Basissätzen" zusammenzufassen, sie aber nicht mithilfe von postulierten ("metaphysischen") Gegenständen oder Prozessen zu erklären bzw. über die dahinter verborgene Realität zu spekulieren (MAHNER, 2003, S. 221-222). Kurzum: Beobachtungsdaten werden als objektive, selbstevidente (für sich selbst sprechende) sowie als einzig verlässliche Basis für die wissenschaftliche Erkenntnis gewertet, der keine theoretische Interpretation vorgelagert sein darf (Forderung nach "theoriefreier Beobachtung"). Aussagen, die jenseits der Erfahrung liegende Begriffe und Spekulationen enthalten, sind sinnlos, das heißt wissenschaftlich illegitime "Grenzüberschreitungen".

Die empiristisch motivierten Kritiker übersehen hier, daß weder in den experimentellen noch in den historischen Wissenschaftsbereichen Begriffe wie "theoriefreie Beobachtungen", "objektive Daten" oder "Grenzüberschreitungen" vorkommen. Beobachtungen sprechen niemals für sich selbst, sind oft irreführend und müssen im Rahmen vorgegebener, transempirisch-abstrakter Theorien interpretiert und wenn nötig sogar relativiert oder verworfen werden. POPPER hat mit großer Eindringlichkeit gelehrt, daß es eine allein der Beobachtung innewohnende Beweiskraft in keinem Falle gibt. Er schreibt:

"Der ältere Positivismus [Empirismus] wollte als wissenschaftlich (oder legitim) nur solche Begriffe anerkennen, die 'aus der Erfahrung stammen' (...) Der neuere Positivismus (...) will nur jene Sätze als 'wissenschaftlich' oder 'legitim' anerkennen, die sich auf elementare Erfahrungssätze (...) zurückführen lassen. Es ist klar, daß dieses Abgrenzungskriterium mit der Forderung der Induktionslogik identisch ist. Dadurch, daß wir die Induktionslogik ablehnen, sind auch diese Abgrenzungsversuche für uns unbrauchbar."

(POPPER, 1984, S. 9 f.)

                                                

Auf unseren Problemkreis übertragen bedeutet dies, daß nicht nur Evolutionsbiologen, sondern auch Wissenschaftler aller anderen (auch der experimentellen) Disziplinen - in ihrem Bestreben die Welt zu erklären - Beobachtungen "theoriegeleitet interpretieren" und Dinge postulieren müssen, die nicht auf die Erfahrung rückführbar sind.


So kann beispielsweise ein Chemiker zwar im Experiment chemische Reaktionen beobachten und gesetzmäßig beschreiben, so wie ein Biologe im Wandel des Fossilienbestandes Gesetzmäßigkeiten feststellt. Um solche Beobachtungen aber einer Erklärung zuzuführen, müssen beide Wissenschaftler (mechanismische) Theorien voraussetzen, die die Gesetzmäßigkeiten auf die Existenz metaphysischer und nicht erfahrbarer Elemente (im einen Fall auf Atome und Moleküle, im anderen Fall auf transspezifische Evolution) zurückführen. Niemand war ja dabei, als sich die Arten wandelten, und niemand ist auf der elementaren Ebene dabei, wenn sich die Materie wandelt, daran ändert auch die Wiederholbarkeit eines Experiments nichts! Deshalb kann ein Chemiker ebensowenig die Existenz der postulierten Atome theoriefrei aus dem Experiment ableiten, wie ein Biologe die postulierte "Makroevolution" theoriefrei aus der Beobachtung erschließen kann.
                                            
 

Die Aufgabe der Naturwissenschaft besteht kurzerhand darin, phänomenologische Makrogrößen auf einer "tieferen unsichtbaren Ebene mit andersartigen Elementen und Verbindungsmechanismen", das heißt unter Rückgriff auf grundsätzlich unbeobachtbare Dinge und Prozesse verstehbar zu machen (KANITSCHEIDER, 1981, S. 33). Der objektive Informationsgehalt einer Beobachtung muß in jedem Fall aktiv herausgefiltert werden und erschließt sich uns nicht durch die passive Hingabe und Verabsolutierung der Sinneswahrnehmung oder des Experiments. Somit ist die methodische Rekonstruktion evolutionshistorischer Prozesse nicht grundlegend verschieden von der methodischen Rekonstruktion der "atomaren Wirklichkeit" (MAHNER, 1986, S. 41; KITCHER, 1982, S. 35 ff.)!

Wollten wir die Wissenschaftsauffassung der Evolutionsgegner ernst nehmen, müßten wir daher nicht nur die Abstammungshypothese, sondern unter anderem auch die Atomtheorien, die Standardtheorie der Elementarteilchen und die Relativitätstheorien für "außerwissenschaftliche" und unbeweisbare "Grenzüberschreitungen" halten. Und das Kopernikanische Weltbild wäre eine "Grenzüberschreitung, die ebenfalls über den Rahmen des empirisch Begründbaren hinaus führt" (JUNKER und SCHERER, 1998, S.19), weil man ja beobachtet, wie sich die Sonne um die Erde dreht (REMANE et al., 1973, S. 9). Selbst Fossilien, deren Status niemand anzuzweifeln auf die Idee kommt, wären "gewagte Interpretationen". Denn, so antwortete schon TSCHULOK auf die Kritik FLEISCHMANNs (1901):

" (...) so dürften wir den fossilen Tieren (mit Ausnahme der Mammuts) keine Eigenschaften beilegen, die sich aus ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Formenkreisen ergeben. Denn auch schon das Hinzudenken des Weichkörpers zum gefundenen Steinkern (etwa einer Muschel oder eines Ammoniten) ist durchaus nicht frei von 'gewagten' Zutaten (...) wer nicht bestimmte Postulate gelten läßt (die nicht aus der Beobachtung stammen); wer sich nicht bei ähnlichen Gelegenheiten sagt: ich muß mir dies und jenes hinzudenken, sonst reimt sich das nicht mit allem, was ich von dem oder jenem weiß; für den ist die Annahme, daß in diesem gewundenen Stein einst ein Tier von bestimmtem Typus, von bestimmter Klasse oder Ordnung gelebt hat, immerhin eine gewagte."

(TSCHULOK, 1922)     -    Hervorhebung im Schriftbild von mir

                                      

Entsprechend stellt POPPER zu der evolutionskritisch-empiristischen Forderung, sich nur an den vermeintlichen "Tatsachen" zu orientieren und gleichsam alle "metaphysischen" Interpretationen aus der Naturwissenschaft herauszuhalten, fest:

"(...) Der positivistische [empiristische] Radikalismus vernichtet mit der Metaphysik auch die Naturwissenschaft: Auch die Naturgesetze sind auf elementare Erfahrungssätze logisch nicht zurückführbar. Wendet man das Wittgensteinsche Sinnkriterium konsequent an, so sind auch die Naturgesetze, die aufzusuchen 'höchste Aufgabe des Physikers ist' (...) sinnlos, d.h. keine echten (legitimen) Sätze (...)"

(POPPER, 1984, S. 11)

                 

Schließlich wird die ihm vielfach unterstellte Behauptung, er habe die DARWINsche Abstammungsthese - wie generell alle historischen Theorien - für nicht naturwissenschaftliche (weil vermeintlich unprüfbare) Forschungsprogramme gehalten, mit folgenden Worten geradegerückt:                                 

"It does appear that some people think that I denied scientific character to the historical sciences, such as palaeontology, or the history of the evolution of life on Earth. This is a mistake, and I here wish to affirm that these and other historical sciences have in my opinion scientific character; their hypotheses can in many cases be tested."

(POPPER, 1981, S. 611)    

                               


Im Hinblick darauf, daß "Geschichts-" und "Gegenwartsforscher" gleichermaßen einen jenseits aller Erfahrung liegenden, im Transempirischen verborgenen Erkenntnisgegenstand zu rekonstruieren haben, bleiben den Evolutionsgegnern also letztlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie halten gleichsam alle nicht der Beobachtung entstammenden Dinge und Prozesse (Atome, Elementarteilchen, transspezifische Evolution usw.) aus der Naturwissenschaft heraus, oder sie akzeptieren die naturwissenschaftliche Erforschbarkeit "gegenwärtiger" (aber eben der Beobachtung verschlossener) und historischer Gegenstandsbereiche, wie "Makroevolution". Aber die Trennung in eine "experimentelle Naturwissenschaft" und eine "spekulative Evolutionstheorie" ist methodologisch nicht konsistent durchzuhalten. 
                                                          

Um nun solch einen spekulativen, hypothetischen Gegenstand, wie ein Schwarzes Loch, ein Atom oder eben "Makroevolution" wissenschaftlich zu untermauern, müssen sich aus der Theorie beobachtbare Sachverhalte schlußfolgern (deduzieren) lassen, die auf irgendeiner Stufe der empirischen Prüfung zuführbar sind. Verlaufen die Tests der theoretischen Folgerungen erfolgreich ab, kann sie der Wissenschaftler als Indizien werten, um die postulierten Dinge und Prozesse mit einem mehr oder minder hohen Grade der Gewißheit für wahr zu halten.

Die Theorie der transspezifischen Evolution läßt beispielsweise eine abgestufte Ähnlichkeit zwischen den Arten erwarten, und auch der stufenweise Wandel der Formen im Fossilienbestand gehört zu den Folgerungen der Theorie. Auch das Auftreten von Atavismen und rudimentären Organen gilt als positiver Test der Abstammungshypothese. Ferner wurde der Nachweis von Selektion theoretisch erwartet, dasselbe gilt für Brückenarten, Zwischenformen und Fossilien, die mit abnehmendem Alter immer mehr den rezenten Arten gleichen. Gegenteilige Befunde könnte die Abstammungshypothese nicht erklären, der Evolutionsbiologe kann daher mit hoher Sicherheit den postulierten, nicht der Erfahrung entstammenden Prozeß für wahr halten. 

                                     

Die Bestätigung gestattet es dem Wissenschaftler schließlich, seine Theorie auch auf Bereiche der Wirklichkeit auszudehnen, wo sie nicht getestet werden kann. Diese Methode der wissenschaftlichen Theorienprüfung wird als hypothetico-deduktiv bezeichnet. Dazu schreibt KANITSCHEIDER:

"Newtons in axiomatischer Form eingeführte neue Mechanik ist zweifellos das erste Paradebeispiel einer hypothetisch-deduktiv aufgebauten Theorie, die an ganz zentraler Stelle Nichtobservablen wie etwa die Kraftfunktion verwendet. Er war sogar bereit, grundsätzlich unbeobachtbare Objekte wie etwa den absoluten Raum als respektable physikalische Entitäten anzuerkennen, da es empirische Effekte gibt, zu deren Erklärung man dieses theoretische Element braucht (...) Wenn man einen Grund für den überwältigenden Erfolg der modernen Naturwissenschaft angeben soll, so ist es vermutlich die wachsende Abstraktion von der grobsinnigen Erfahrung bei der Wahl der Bausteine der Theorien."

(KANITSCHEIDER, 1981, S. 41)

                                                         

Es leuchtet, wie wir schon angedeutet haben, ein, daß der Naturwissenschaftler mit der Erforschung des Unbeobachtbaren auch keine endgültig "wahren", gleichsam "bewiesenen" Aussagen erstellen kann. Statt dessen ist es nur möglich, Indizien aufzudecken, die seine Aussagen bestenfalls mit einem bestimmten Grade der Gewißheit untermauern (RIEDL, 1980, S. 38 ff.). Streng logische, "theorieunabhängige" Beweise aber, wie sie beispielsweise FLEISCHMANN, LÖNNIG, JUNKER und SCHERER von den Evolutionsbiologen einfordern, sind in der hypothetisch schlußfolgernden Wissenschaft generell nicht führbar - der Sicherheitsanspruch, der von den Empiristen an die methodologische Beweisführung gestellt wird, ist gar nicht zu bekommen. Daraus läßt sich weder der Evolutionstheorie ein wissenschaftstheoretischer Strick drehen, noch der nichtwiderlegbaren Schöpfungshypothese Raum verschaffen.

Abschließend seien die wichtigsten Aspekte dieses Abschnitts nochmals wie folgt zusammengefaßt:



                                                              

2.     Der Vorwurf vom "vitiösen Zirkelschluß" im Lichte der Wissenschaftstheorie

Ruht die Begründung der Evolutionstheorie auf unwissenschaftlichen Zirkelschlüssen?                                                                                  

Ein Einwand, der sich eng an die Wissenschaftsauffassung der Empiristen anlehnt, nimmt auf die Tatsache Bezug, daß die postulierte Verwandtschaft zwischen den Arten nicht zwingend aus den abgestuften Formenähnlichkeiten herausgelesen werden kann. Deshalb betonen die Evolutionsgegner, daß Abstammungshypothese, die es eigentlich zu "beweisen" gelte, einfach stillschweigend vorausgesetzt, das heißt Ähnlichkeit mit Verwandtschaft und Verwandtschaft wiederum mit Ähnlichkeit begründet werde. Die Evolutionsbiologen argumentierten - so die Kritiker - kurzerhand im Kreis, wodurch eine wechselseitige (tautologische) Selbstbestätigung von Aussagen entstehe, die man "vitiösen Zirkelschluß" nennt.

LÖNNIG schreibt:

"Fast die gesamte phylogenetische Systematik aber steht und fällt mit der unbewiesenen Voraussetzung der Gesamtevolution! (...) Statt Evolution läßt sich hingegen weltweit die Degeneration von Arten biologisch-genetisch beweisen (...) Es sei an dieser Stelle nur hervorgehoben, dass weder für das Exon-shuffling noch für Ohnos Oligomerhypothese in der hypothetischen Ursuppe experimentelle Beweise vorliegen (...) Daß man hier einem Zirkelschluß zum Opfer fiel, wurde kaum bemerkt; das, was man beweisen wollte, daß nämlich Ähnlichkeit auf Entwicklung beruhe, setzte man einfach voraus und machte dann die verschiedenen Grade, die Abstufung der (typischen) Ähnlichkeit, zum Beweis für die Richtigkeit der Entwicklungsidee."

(LÖNNIG, 1998)  - Hervorhebungen im Schriftbild von mir

                                                                                                                                                                         

Zunächst muß betont werden, daß es uns nicht darum gehen kann, die erkenntnistheoretische Analyse der Evolutionsgegner zu widerlegen. Natürlich muß jeder Wissenschaftler, wie oben bereits erörtert wurde, von theoretischen Voraussetzungen ausgehen, die er nicht streng logisch beweisen kann. Doch eben dieser Umstand entwertet die Kritik der Evolutionsgegner aus wissenschaftstheoretischer Sicht völlig, denn es existiert hier keine "methodologischer Sonderstatus" der Evolutionstheorie, wie offenbar geglaubt wird.

Tatsächlich wurde die Behauptung, die "Entwicklungsidee" beruhe auf einem Zirkelschluß, den wissenschaftskritischen Kulturrelativisten entliehen, die den Naturwissenschaften insgesamt vorwerfen, daß sie nicht dem "klassischen" Schema folgen, wonach einer Theorie stets ein Experiment voranzugehen habe, welches ausschließlich diese und keine andere Theorie beweist (WOLF, 1999). Entsprechend einfach lassen sich die für die Wissenschaft fatalen Konsequenzen des Zirkelschlußvorwurfs demonstrieren; man braucht dazu nur den von LÖNNIG kritisierten Gegenstandsbereich (Evolution) gegen andere auszutauschen und könnte dann beispielsweise folgendes behaupten:

"Fast die gesamte Himmelsmechanik aber steht und fällt mit der unbewiesenen Voraussetzung vom heliozentrischen Weltbild! (...) Statt der Drehung der Erde um die Sonne läßt sich hingegen die Bewegung der Sonne an der Himmelskuppel beweisen (...) Es sei an dieser Stelle nur hervorgehoben, dass weder für die zentrale Stellung der Sonne im Planetensystem noch für die Drehung der Erde experimentelle Beweise vorliegen (...) Daß man hier einem Zirkelschluß zum Opfer fiel, wurde kaum bemerkt. Das, was man beweisen wollte, daß nämlich die Wirbelbildung der Wolken in der Corioliskraft einer sich drehenden Erde gründe, die Schleifenbewegung der äußeren Planeten am Firmament auf einer die Sonne umlaufenden Erde beruhe und sich die Entstehung zweier antipoder Flutberge als die Manifestation einer aus Gravitation und Fliehkraft resultierenden Gezeitenwirkung darstelle (wie man sie bei um ein Zentrum rotierenden Körpern vorfindet); all das setzte man einfach voraus und machte dann die genannten Erscheinungen zum Beweis für die Richtigkeit des heliozentrischen Weltmodells."

"Fast die gesamte Chemie aber steht und fällt mit der unbewiesenen Voraussetzung von der Existenz von Atomen! (...) Statt der Existenz diskreter Materieeinheiten (Atome) läßt sich hingegen die beliebige Teilbarkeit der Materie empirisch beweisen (...) Es sei an dieser Stelle nur hervorgehoben, dass weder für die Quantelung der Materie noch für eine Grenze der Teilbarkeit experimentelle Beweise vorliegen (...) Daß man hier einem Zirkelschluß zum Opfer fiel, wurde kaum bemerkt; das, was man beweisen wollte, daß nämlich die Gesetzmäßigkeiten bei chemischen Umsetzungen auf einer Quantelung der Materie beruhten und die Spektren der Elemente oder der fotoelektrische Effekt das (BOHRsche) Atommodell beweisen, setzte man einfach voraus, machte die RUTHERFORDschen Streuversuche zum Beweis für die Existenz von kleinen kompakten Atomkernen, die in verhältnismäßig großen Abständen von Hüllen-Elektronen umkreist werden und deutete alle Befunde einfach im Licht der nach wie vor unbewiesenen Atomtheorie."

                                                                                                                                                                             

Diese Beispiele (die Liste ließe sich beliebig erweitern) illustrieren also, daß das konsistent gewobene Theoriengebäude der Wissenschaft wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen würde, falls man es als machbar erachten würde, auch nur ein Aussagensystem des stimmigen naturalistischen Weltbildes auf dem Altar des Empirismus zu opfern. In diesem Sinne forciert LÖNNIG also nicht nur die Destruktion der Evolutionstheorie, sondern gleich die aller übrigen Theorien der Wissenschaft noch dazu.

Es kommt hinzu, daß in keinem der beschriebenen Beispiele ein "vitiöser Zirkelschluß" zum tragen kommt, sondern eine übliche Erkenntnisstrategie der Wissenschaft, ein fruchtbarer Rückkopplungsprozeß zwischen Beobachten und Theoretisieren. Die Belege konzentrieren sich schließlich nicht auf einzelne Beobachtungen, die man im Lichte der Theorie interpretieren kann, sondern gleich in einer ganzen Batterie von Koinzidenzen. Ferner stehen die unterschiedlichsten Disziplinen (Biostratigraphie, Paläontologie, Geologie etc.) sowie deren Erkenntnisse mit der Evolutionstheorie in einem Verhältnis der gegenseitigen Erhellung und verhalten sich konsistent zueinander.

Solche Formen der Rückkopplung hat VOLLMER als "virtuose Zirkel" bezeichnet, die mit einer tautologischen Selbstbestätigung von Aussagen nichts zu tun haben: Wissenschaft ist die schrittweise Annäherung an die Fakten infolge der gegenseitigen Durchdringung von Theorien und Beobachtungen (VOLLMER, 1985, S. 177 f.). Ähnlich argumentiert RIDLEY, der dem Vorwurf, die Evolutionstheorie sei (vitiös) zirkelschlüssig begründet, dadurch begegnet, daß er auf die "virtuose Zirkelschlüssigkeit" aller Naturwissenschaften hinweist (RIDLEY, 1990, S. 250).

JUNKER hat die Stellungnahme RIDLEYs, in der umschrieben wird, wie theoretische Interpretationen und Beobachtungen in der Wissenschaft Hand in Hand gehen, mit den Worten kritisiert, damit habe er den Zirkelvorwurf nicht ausgeräumt (JUNKER, 2002, S. 47). Daß es allerdings zwischen den erwähnten zwei Formen der Zirkularität zu unterscheiden gilt, scheint ihm entgangen zu sein, denn er spricht (wie praktisch alle Evolutionsgegner) nur von Zirkelschlüssen ganz allgemein. Damit hat JUNKER kein Argument mehr, weil nur der vitiöse Zirkel (welcher tautologische, sich selbstbestätigende Aussagen enthält) kritisiert werden kann, der aber in RIDLEYs Methodenbeschreibung gar nicht vorkommt. Die Erhellung von Theorien und Beobachtungen sowie die Kompatibilität und wechselseitige heuristische Befruchtung verschiedener Theorien können nicht als vitiöse Zirkel verstanden werden, weil sie wichtige Indizien für die Annahme sind, daß die Theorien einen objektiven Zugriff auf die Wirklichkeit haben (MAHNER, 1986, S. 56 ff.; WOLF, 1999).      

                                                                                                                                     

3. Literatur

Benveniste J (1988): Nature 334, S. 291 (Correspondence)   

Chalmers AF (2001) Wege der Wissenschaft. Einführung in die Wissenschaftstheorie. Springer, Berlin, 5. Auflage

Junker R, Scherer S (1998) Evolution - Ein kritisches Lehrbuch, Weyel

Junker R (2002) Ähnlichkeiten - Rudimente - Atavismen. Design-Fehler oder Design-Signale? Hänssler-Verlag

Kanitscheider B (1981) Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaft. Walter de Gruyter

Kitcher P (1982) Abusing Science. The case against Creationism. Cambridge (Mass.)

Lönnig WE (1998) Johann Gregor Mendel - Warum seine Entdeckungen 35 (72) Jahre ignoriert wurden. Internet-Beitrag unter: http://www.mpiz-koeln.mpg.de/~loennig/mendel/anhang2/Giraffe.html

Mahner M (1986) Kreationismus - Inhalt und Struktur antievolutionistischer Argumentation. Berlin

Mahner M, Bunge M (2000) Philosophische Grundlagen der Biologie, Springer-Verlag, Berlin

Mahner M (2003) Positivismus. In: Lexikon der Biologie, Bd. 11. Heidelberg, S. 221-222

Popper, KR (1976) Logik der Forschung. Tübingen

Remane A et al. (1973) Evolution. Tatsachen und Probleme der Abstammungslehre. München

Ridley M (1986) Evolution and Classification: The Reformation of Cladism. Longman, New York

Riedl R (1980) Biologie der Erkenntnis. Berlin, Hamburg

Tschulok S (1922) Deszendenzlehre. Jena, Gustav-Fischer

Vollmer G (1985) Was können wir wissen? Bd. 1 die Natur der Erkenntnis, Hirzel, Stuttgart

Vollmer G (1986) Kann es von einmaligen Ereignissen eine Wissenschaft geben? In: Was können wir wissen? Bd. 2 die Erkenntnis der Natur, Hirzel, Stuttgart

Wolf R (1999) Das elfte Gebot: Du sollst Dich nicht täuschen, Skeptiker 12 (4), S. 147

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Fußnote:

(1) Der Empirismus geht im angelsächsischen Raum auf BACON, LOCKE und HUME zurück. Neuere Vertreter des Empirismus sind CARNAP, KRAFT und NEURATH, die in den 1920er Jahren dem "Wiener Kreis" angehört und den Neoempirismus (auch: Neopositivismus oder logischer Empirismus) entwickelt haben. In Abwandlung der empiristischen Forderung nach "theoriefreier" und "intersubjektiv gültiger Beobachtung" wird oft auch von der experimentell reproduzierbaren Beobachtung eines theoretisch behaupteten Faktums als Voraussetzung für den naturwissenschaftlichen Charakter der Theorie gesprochen (BENVENISTE, 1988, S. 291). Aber hinter dieser Forderung steckt auch nichts anderes als die Prämisse, daß hypothetisierte Fakten (hier: die Abstammung der Arten von einem gemeinsamen Vorfahren) vor dem Erreichen der wissenschaftlichen Erkenntnis theoriefrei durch die Beobachtung erwiesen sein müssen (CHALMERS, 2001, S. 14).

     

Copyright by Martin Neukamm, 14.09.2002          Last update: 07.11.2003          

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