II. Die Rekonstruktion der Stammesgeschichte: phylogenetische Systematik, Fossilien, Übergangsformen und Artbildung

                                                                                                                                                       

In der Evolutionsbiologie bekleidet die phylogenetische Systematik eine wichtige Position, denn sie beschäftigt sich mit der Rekonstruktion von Verwandtschaftsverhältnissen zwischen den Arten. Aus diesem Grunde konzentriert sich die antievolutionistische Argumentation zu einem wesentlichen Teil auf ihre Ergebnisse und Methoden. Die Kritik an der Stammbaumforschung ist mit einer Diskussion über paläontologische Befunde und Artentstehung zu einem Argumentationsgebäude verwoben, das wir an dieser Stelle unter die Lupe nehmen wollen. Aufgrund der Komplexität des Themas folgt zunächst eine kurze Einführung in die Methode der phylogenetischen Systematik.

               

1. Die phylogenetische Systematik

Um in die mannigfache Formenvielfalt der Lebewesen Ordnung hineinzubringen, bedient man sich in der Biologie taxonomischer Verfahren, das heißt die Lebewesen werden klassifiziert, also in hierarchisch geordnete Gruppen gestellt. Heute findet überwiegend die phylogenetische Systematik ("Kladistik") Anwendung, in der die Organismen anhand ihrer art- bzw. gruppenspezifischen Merkmalsverteilungen ("Merkmalsmosaike") klassifiziert werden. Der Merkmalsvergleich gestattet es, ineinandergeschachtelte, natürliche Klassen zu generieren, die man in eine hierarchische Abfolge von Verzweigungen übersetzen kann. Solche Verzweigungsdiagramme werden "Kladogramme" genannt und spiegeln in der evolutionären Sichtweise die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Organismen wieder.

Wird ein Kladogramm schließlich in eine zeitliche Reihenfolge der Entstehung von Arten umgesetzt, sprechen wir von einem "Stammbaum", dessen Abzweige den systematischen Gruppen ("Taxa"; Einzahl: "Taxon") entsprechen. Dabei sind die gabelartigen Verzweigungen so zu verstehen, daß die Aufspaltung einer Elternart (Stammart) in zwei Tochterarten gleichen taxonomischen Ranges geschieht, die evolutive Neuheiten besitzen.

Der Unterschied gegenüber traditionellen Verfahren besteht darin, daß man die starren Schubladen, in welche die Individuen seit LINNE gesteckt wurden (die sogenannten "hierarchischen Kategorien" wie Gattungen, Familien, Ordnungen usw.) durch natürliche Gruppen ersetzt, wobei zur Stammbaumkonstruktion nur abgeleitete Merkmale (evolutive Neuheiten) herangezogen werden. Abgeleitete Merkmale sind solche, die in den Gruppen ("neu") vorhanden sind, das heißt solche, die in einer (stammesgeschichtlich weiter entfernten) Vergleichsgruppe (Außengruppe) nicht auftreten. Im Idealfall sind die abgeleiteten Merkmale gesetzmäßig miteinander verbunden.

So verfügen beispielsweise alle Tiere, die vier Beine besitzen, auch über eine Wirbelsäule, aber nicht umgekehrt. Der Besitz einer Wirbelsäule geht dem Besitz der Vierbeinigkeit also gesetzmäßig voraus. Wenn jetzt alle zu untersuchenden Gruppen (einschließlich der Außengruppe) eine Wirbelsäule besitzen, verkörpert es hier ein ursprüngliches (plesiomorphes) Merkmal. Hat desweiteren mindestens eine Gruppe auch vier Beine, die Außengruppe aber nicht, dann handelt es sich hier um ein abgeleitetes (apomorphes) Merkmal, das in die Stammbaumkonstruktion einbezogen werden kann.

Zur Illustration wollen wir uns das folgende Beispielkladogramm etwas genauer ansehen: 

                                                     

Beispielkladogramm der Amniota:

mit freundlicher Genehmigung von Thomas Gaßner

             

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Dieses Kladogramm legt beispielsweise nahe, daß Aves (Vögel), Crocodylia (Krokodile) und Squamata (Eidechsen und Schlangen) von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen, Aves und Crocodylia (Archosauria) aber einen jüngeren gemeinsamen Vorfahren haben als mit den Squamata. Der Weg, dies herauszufinden, bestand darin, bei Aves und Crocodylia gemeinsame abgeleitete Merkmale (evolutionäre Neuheiten) zu finden, die Squamata und alle anderen Gruppen nicht besitzen. Dazu gehört das Präorbitalfenster, das Foramen mandibulae und das vierkammerige Herz. Diese Merkmale werden sie vermutlich von einem gemeinsamen Vorfahren geerbt haben. Man bezeichnet beide Gruppen (Aves und Crocodylia) daher als "Schwestergruppen" (eben weil sie aus der "Aufspaltung einer Ahnenart" hervorgegangen sind) und alle gemeinsam geerbten Merkmale als "Homologien" (oder als "Synapomorphien", sofern sie nur für die beiden Schwestergruppen charakteristisch sind).

Andere, allen drei Gruppen gemeinsame, Merkmale (wie beispielsweise zwei Temporalfenster, Hautschuppen, Amnion und Wirbelsäule) werden sie wiederum von einem gemeinsamen, noch älteren Vorfahren geerbt haben. Daher lassen sich die Gruppen Archosauria (Aves und Crocodylia) sowie Squamata wiederum als "Schwestergruppen" auffassen, die in das nächsthöhere Taxon (Diapsida) eingeschachtelt sind usw. Um dieses Kladogramm zu erstellen, müssen uns die Vorfahren nicht unbedingt bekannt sein, wir schließen anhand der spezifischen Merkmalsverteilungen der Gruppen auf ihre Existenz und konstruieren ein Schema hierarchisch ineinandergeschachtelter Schwestergruppen.

                           


Die Hierarchie der systematischen Gruppen ist nun ein Beleg für die Evolutionstheorie, weil das Auftreten gesetzmäßig abgestufter Merkmalsgefüge - in Kombination mit dem Wissen um die Vererbung von Merkmalen, Variation und Selektion - ohne DARWINs Abstammungsthese nicht vernünftig zu erklären ist (REMANE et al., 1973).   
                                                                     

1.1. Über das Homologieproblem und sich widersprechende Stammbäume

Bei der Konstruktion eines Stammbaums (oder Kladogramms) treten einige Schwierigkeiten auf, die von Evolutionsgegnern mit Vorliebe zur Kritik an der Evolutionstheorie genutzt werden. So kann man zunächst oft nicht eindeutig beurteilen, welche abgeleiteten Merkmale abstammungsbedingte Homologien sind und welche Merkmale nicht auf Abstammung zurückgehen, also unabhängig voneinander entstanden sind und die Konvergenzen genannt werden (SHUBIN, 1994, S. 206; SUDHAUS und REHFELD, 1992, S. 85 ff.).

In unserem Beispiel-Kladogramm ist etwa der "sekundäre Gaumen" der Gruppen Crocodylia und Mammalia konvergent entstanden. Konvergenzen (Parallelentwicklungen) verraten nichts über die Abstammungsverhältnisse, sondern verwirren nur das Gesamtbild.

Es lassen sich demnach mehrere mögliche Fälle durchspielen, das heißt verschiedene Kladogramme entwickeln, die man dann gegeneinander abwägen muß. In der Kladistik sind nun Kladogramme am plausibelsten, das heißt am "sparsamsten", wenn die Zahl an abgeleiteten Merkmalen maximal und die Zahl der Konvergenzen minimal ist. Bei der Beurteilung der Plausibilität eines Kladogramms spielt jedoch auch die Güte der abgeleiteten Merkmale eine Rolle, die je nach Komplexität gewichtet werden müssen.

(soweit MAHNER in einer persönlichen Note; vgl. auch RIEPPEL, 1999, S. 38; WÄGELE, 2000, S. 137 ff.)

                                                       

Zu diesem sich daraus ergebenden Interpretationsspielraum äußert sich nun NILSSON folgendermaßen:

"Während der ersten Jahrzehnte evolutionärer Forschung war es eine sehr beliebte Methode, eine morphologische oder histologische Untersuchung mit einem Stammbaum abzuschließen, durch den man ganz übersichtlich überzeugt werden sollte, wie die betreffende Organismenserie sich paläohistorisch entwickelt hatte. Heute sind solche Darstellungen nicht mehr so beliebt (...) Der Grund hierfür ist gewiß der, dass es mehr und mehr klar wurde, daß der Stammbaumzeichner gewöhnlich nur sich selbst überzeugte. Denn man fand, daß der nächste Spezialist, der dieselbe Frage behandelte, einen ganz neuen Stammbaum vorbrachte. Und zuletzt erhielt man ebenso viele Abstammungswege, wie es spezialisierte Forscher innerhalb einer Serie gab."

(NILSSON, 1953, S. 419)

                                                              

ILLIES, 1983 äußert sich dazu in einem noch herablassenderen Tone und spricht ironisch von einer "Wunderwelt der Stammbäume - Baumkunde einer Illusion", womit impliziert wird, daß die Evolutionstheorie zu einer heuristisch unfruchtbaren und wilden Spekulation verkomme.

Nun wollte gewiß kein Evolutionsbiologe bestreiten, daß Probleme in der Stammbaumkonstruktion bestehen. Es wäre jedoch verkehrt, daraus die Falschheit des Evolutionsgedankens abzuleiten:

Erstens kann man das Problem der "Stammbaumvielfalt" minimieren, indem man einfach soviele Merkmale wie möglich zur Erstellung von Stammbäumen heranzieht.Werden Stammbäume nur anhand weniger Merkmale erstellt, sind die Resultate in der Tat oft widersprüchlich - zudem ist bei einer geringen Anzahl der verwendeten Merkmale die Gefahr groß, daß konvergent entstandene Merkmale gewichtet werden (MISHLER et al., 1994). Diese Auffassung bestätigt auch der erfahrene Paläoanthropologe TATTERSALL, der das Konzept der Kladistik (gemeinsam mit ELDREDGE) im Jahre 1975 in die Hominidenforschung eingeführt hatte:

"Arbeitet man (...) mit einer ausreichenden Anzahl von Merkmalen, erweist sich die Parallelentwicklung für gewöhnlich als überwindbares Hindernis; so entwickelte man Computeralgorithmen, die den Umgang damit erleichtern. Doch kann man, besonders bei einer eng zusammenhängenden Gruppe wie den Hominiden, Parallelentwicklungen niemals unbeachtet lassen; denn je mehr Arten sich genetisch ähnlich sind, um so wahrscheinlicher ist es, daß bei ihnen gleiche detaillierte Morphologien parallel entstehen. Trotz aller Schwierigkeiten ermöglicht die Kladistik bei der Entwicklung und Prüfung phylogenetischer Hypothesen ein logisches Vorgehen, und wer für das Erkennen phylogenetischer Verwandtschaftsbeziehungen nach einem befriedigenderen Hilfsmittel als der Intuition suchte, empfand sie als frischen Windstoß."

(TATTERSALL, 1997, S. 216)

                               

Zweitens führt (auch wenn wir immer wieder vor dem Problem der "Stammbaumvielfalt" stehen) keine Analyse zur Feststellung völlig chaotischer Merkmalsverteilungen. Viele Merkmale sind gesetzmäßig miteinander verbunden, eine "freie" Kombination der Merkmale gibt es nicht. Das heißt man findet im Ganzen eine hierarchische und "interdependente Ordnung", die von Konvergenzen zwar gestört aber nicht aufgehoben wird (RIEDL, 1990, S. 272). Dieses "Muster" ist grundsätzlich jeder Stammbaumalternative aufgeprägt und entspricht den Erwartungen der DARWINschen Abstammungshypothese (REMANE et al., 1973). Stammbäume sind deshalb keine Fiktion, wir sind uns nur oft (noch) nicht im Klaren darüber, welcher Stammbaum "der Richtige" ist! 

Schließlich sollte drittens nicht unerwähnt bleiben, daß beim Vergleich zwischen den Modellstammbäumen der vergleichenden Morphologie und denen der Molekularbiologie oft ein mehr oder minder hoher Grad an Übereinstimmung zutage tritt. So stellt beispielsweise MAIER fest, daß

"(...) die Daten der Molekularbiologie die vergleichende Morphologie in praktisch allen gut abgesicherten Fällen bestätigen, es sei denn, die Morphologie hat sich getäuscht oder die Molekularbiologie ist einem der drei Fehler erlegen, auf die gleich einzugehen sein wird."

(MAIER, 1994, S. 118)

               

Wäre aber die evolutionäre Abstammungshypothese falsch, wären solche Konsistenzen schwer vorstellbar, so daß man diese als Bestätigung der Evolutionstheorie werten kann. Natürlich ist nie auszuschließen, daß insbesondere Molekülstammbäume gelegentlich kuriose Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Gruppen nahezulegen scheinen, wie sie beispielsweise COPPEDGE aufgezeigt hat (COPPEDGE, 1973, S. 204). Die Fehlerquellen, über die MAIER in dem genannten Artikel spricht, lassen sich unter Beachtung bestimmter Regeln oft umgehen (vgl. Kapitel V.2).

Ungeachtet verschiedener Widersprüche korrelieren die Grundzüge von Stammbäumen im großen und ganzen auch recht gut mit dem Fossilienbefund - eine Feststellung, die durch diverse Untersuchungen gestützt wird. So hat z.B. BENTON (1998) 206 Kladogramme, die aus morphologischen und molekularen Daten von Säugetieren gewonnen wurden, mit den stratigraphischen Daten verglichen. Im Ergebnis zeigt sich, daß die morphologischen Daten etwas besser mit dem Fossilbericht korrespondieren, als die molekularen Stammbäume. Insgesamt stellt BENTON aber eine gute Übereinstimmung zwischen Systematik und Stratigraphie fest, und zwar sowohl bezüglich der morphologischen als auch hinsichtlich der molekularen Daten. Ebenso gelangten PAGE und COTTON (2002) im Rahmen ihrer Analyse von 118 Genfamilien zu dem Schluß, daß die hieraus rekonstruierte Stammesgeschichte mit anderen Daten weitgehend konform geht.

Die Stammbäume lassen sich also mit der chronologischen Abfolge der "großen Gruppen" in den geologischen Schichten recht gut in Einklang bringen, das heißt die ranghöheren systematischen Gruppen korrelieren meist mit einem höheren radiometrischen Alter der entsprechenden fossilen Vorfahren. Ja, in einigen Fälle ist es sogar gelungen, den Zeitraum, innerhalb dessen bestimmte Artaufspaltungen stattfanden, durch "molekulare Uhren" abzuschätzen und das Ergebnis anhand geologischer bzw. biogeographischer Befunde zu untermauern (CORTES-ORTIZ et al., 2003). Alles in allem stellt MAHNER daher fest:

"Daß dies - bei allen bestehenden Problemen hinsichtlich der Stellung mancher rezenter oder fossiler Gruppen - in dem bisher erreichten Ausmaß gelungen ist, macht die gemeinsame Abstammung aller Lebewesen zu einer wohlbestätigten Theorie, die mit der Gesamtheit der wissenschaftlichen Erkenntnisse übereinstimmt. Würden wir nämlich kein realhistorisches Ereignis rekonstruieren, hätten sich sicher viele Inkonsistenzen und Anomalien ergeben, die die Rekonstruktionsversuche schon im Ansatz hätten scheitern lassen (...) Die Theorie der Historizität eines Evolutionsgeschehens ist also so wohlbestätigt, daß wir es als Faktum bezeichnen können."

(MAHNER, 1986, S. 40)      

                                                                                             

1.2     Die Verflechtung von Kladistik und Evolutionstheorie - Ein logischer Zirkel?

Wie oben betont wurde, müssen oft mehr oder minder plausible Evolutionsszenarien entwickelt werden, bevor man aus mehreren Alternativen den wahrscheinlichsten Stammbaum eruieren kann (HENNIG, 1982; AX, 1984). Wir müssen mit anderen Worten auf die Theorie zurückgreifen, um klare Aussagen über die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Arten machen zu können, das heißt um zu entscheiden, welche Merkmale Homologien darstellen und welche unabhängig voneinander (konvergent) entstanden sind. Um mit HENNIG zu sprechen: Klassifikation und Theorie stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Erhellung.

Dies zieht schnell die Forderung nach sich, man müsse evolutionäre Vorannahmen bei der Erstellung von Stammbäumen unberücksichtigt lassen, weil ein logischer Zirkelschluß die Folge wäre. Hinter diesem Vorwurf steckt die Annahme, daß Evolution mit Ähnlichkeit (Homologie) begründet und umgekehrt Homologie durch evolutionstheoretische Annahmen (etwa in Gestalt von Merkmalsgewichtungen in der Kladistik) bestimmt werde. Damit entstünde, so die Kritiker, ein Zirkel gegenseitiger Selbstbestätigung, wodurch das evolutionstheoretische Homologieargument an Wert verlöre.

Dieser Vorwurf ist seitens der sogenannten "pattern cladists" oft erhoben aber kaum wieder zurückgenommen worden (vgl. z. B. PATTERSON, 1994; DULLEMEIJER, 1980, S. 172). Entsprechend kann man die Debatte um "pattern vs. process" in einfacher Form auch bei Antievolutionisten, beispielsweise bei LÖNNIG nachlesen (ähnliche Einwände erhebt JUNKER, 2002, S. 53):

"Angefangen von Oskar Hertwig (1906) bis zu zahlreichen Biologen der Gegenwart ist dieser Zirkelschluss in vielen Abhandlungen zum Homologieproblem und der abgestuften Ähnlichkeit diskutiert, aber nie widerlegt worden."

(LÖNNIG, 1998: Johann Gregor Mendel - Warum seine Entdeckungen 35 (72) Jahre ignoriert wurden, http://home.hisf.no/SVENJO/UNDERVIS/CELLEBIO/PROFILER/Johannsen.htm)                 

                                                               

Diesen logischen Zirkel kann man aber, wie mir MAHNER mitteilte, dadurch auflösen, indem man zeigt, daß sich Verwandtschaftsforschung auch ohne evolutionstheoretisch definierte Homologiebegriffe betreiben läßt. Man bestimmt, so MAHNER, erst einmal nur homologieverdächtige Merkmale und konstruiert daraus nach den Regeln der phylogenetischen Systematik (eventuell mehrere alternative) Verzweigungsschemata. Erst anschließend wird festgestellt, welche Merkmale sich als abstammungsbedingte Ähnlichkeiten ("a posteriori-Homologien") ergeben (LAUDER, 1994, S. 153 ff.). Der Vorwurf, die Evolutionstheorie sei zirkelschlüssig belegt, gründet daher zum Teil auf einer Verwechslung von Erkenntnis- und Erklärungsgrund (MAHNER, 1986):


Evolution ist nicht Erkenntnis- sondern Erklärungsgrund für a posteriori-Homologien. Dieses "Muster" abgestufter Formenähnlichkeit, das man in der Natur und in jedem Stammbaum findet, bedarf ja einer Erklärung, welche die Evolutionstheorie liefern kann.

                                                            

LAUDERs Feststellung, daß man Homologien nicht "theoriefrei" (a priori) definieren kann, entspricht im übrigen der von KANITSCHEIDER, 1981 behaupteten prinzipiellen Unmöglichkeit, Theorien für Begriffe zu erstellen, die man zuvor theoriefrei an der Beobachtung festgemacht hat. Mit dieser Unmöglichkeit gelangt - sobald man beispielsweise die Erklärungskraft und gegenseitige Kompatibilität von Theorien als Beleg für deren Richtigkeit wertet - natürlich eine gewisse Zirkularität ins Spiel. Dabei handelt es sich aber um einen "virtuosen Zirkel", der für die naturwissenschaftliche Methode insgesamt charakteristisch ist (VOLLMER, 1985, S. 177 f.).

Auch RIDLEY rechtfertigt die Methode der Kladistik, indem er auf die "virtuose Zirkelschlüssigkeit" der Wissenschaft anspielt, und Evolutionäre Systematiker wie MAYR und ASHLOCK stellen im Einklang mit POPPER klar, daß es völlig illusorisch erscheint, in der nach "tieferen Erkenntnissen" strebenden Wissenschaft theorieneutrale Beobachtungen durchzuführen, die man dann zur Konstruktion von Theorien heranzieht (MAYR und ASHLOCK, 1991; POPPER, 1984, S. 9 f.; RIDLEY, 1990, S. 250).

Beobachten und Theoretisieren gehen zum Zwecke wechselseitiger Erhellung beständig Hand in Hand. Ungeachtet dieses sich hinter der wissenschaftlichen Methode verbergenden Rückkopplungsprozesses sind Theorien und Konzepte, die sich konsistent zueinander verhalten und die durch viele Daten immer wieder gestützt werden, wichtige Indizien für die Annahme, daß die Theorien einen objektiven Zugriff auf die Wirklichkeit haben. Eine theorieunabhängige, völlig zirkelfreie Beweisführung zugunsten wissenschaftlicher Theorien ist nicht denkbar:

"Was das Testen evolutionärer Hypothesen durch systematische Muster angeht, so können wir die Bedenken der Musterkladisten zerstreuen (...) Heute müssen wir vielmehr fordern, daß Klassifizieren und Theoretisieren Hand in Hand gehen, weil die Wissenschaft ein Rückkopplungsprozeß der schrittweisen Näherung an die Fakten ist. Dieser Rückkopplungsprozeß ist kein Fall von [vitiöser] Zirkularität, sondern ein Erkennungszeichen von Wissenschaft." 

(MAHNER und BUNGE, 2000, S. 246)                   

Copyright by Martin Neukamm, 30.08.2000  

Zweite, völlig neu bearbeitete Fassung, (c) 27.07.2002