III. Über die Systemtheorie der Evolution

"Makroevolution" und Evolutionsmechanismen   

  

1.3.3. Das Problem der "unfertigen Zwischenformen"

Über die Doppelfunktion von Organen

Biologische Strukturen sind meist komplexe Funktionseinheiten, die sich aus mehreren Komponenten zusammensetzen. Alle Teile harmonieren wie die Räder in einem Uhrwerk, sie bilden ein geschlossenes Ganzes. Aus diesem Grunde kommt es beim Ausfall auch nur eines Elements in der Regel zum völligen Versagen der Funktion, die Strukturelemente der Funktionseinheit "zerfallen" in zusammenhanglose Fragmente, eine sinnvolle Synorganisation kommt nicht mehr zustande.

Damit steht nun aber mit einem Male die Synthetische Theorie der Evolution scheinbar vor der Aussichtslosigkeit, die Bildung einer neuen Struktur additiv-typogenetisch, also über zahlreiche positiv selektionierte Zwischenstufen zu erklären, denn es scheint einsehbar, daß "unfertige" Baupläne und die Entstehung einzelner Strukturelemente als Teile eines komplexen Organisationstyps keine Selektionsvorteile besitzen können, weil sie allein noch keine Funktion erfüllen. Diese Tatsache wird von Antievolutionisten durchaus erkannt und geschickt genützt, um Zweifel an der Evolutionstheorie zu sähen. Sie legen Beispiele vor, denen nicht nur der Laie hilflos gegenübersteht, sondern bei denen auch Experten im Hinblick auf das Faktorensystem der Synthetischen Evolutionstheorie in Erklärungsnöte geraten.

Als beliebte Beispiele zur Illustration der Problematik haben sich etwa die Entstehung des Auges, die Bildung der raffinierten Insektenfalle des gemeinen Wasserschlauchs oder die Entwicklung des Fangapparats der fleischfressenden Kannenpflanze Nepenthes etabliert (vgl. JUNKER und SCHERER, 1998, S. 80 f.)

Im Falle der Kannenpflanze dient eine kannenförmig ausgebildete Blattspreite als Insektenfalle. Die "Beute" wird mithilfe eines farbigen Blattdeckels oder Nektardrüsen angelockt, die am glitschigen Kannenrand ins Falleninnere abrutscht. Die Tiere werden schließlich durch Enzyme verdaut. Solche Beispiele komplexer Funktionsbaupläne scheinen den Schluß nahezulegen, daß die Organe evolutiv entweder nur "komplett" entstehen konnten (was aus statistischen Gründen ausgeschlossen erscheint) oder aber gar nicht. Denn:

"Ein Selektionsvorteil ist nur im fertig ausgebildeten Zustand gegeben; "unfertige" Zwischenstufen sind biologisch wertlos und werden durch stabilisierende Selektionswirkung ausgemerzt (...) Die Darwinsche Selektion kann die Entstehung der betreffenden Struktur nicht nur nicht erklären, sondern hätte sie sogar verhindern müssen."

(JUNKER und SCHERER, 1998, S. 81)

                           

Wie wir in Kapitel I festgestellt haben, sind offene Faktorenfragen noch keine Widerlegung der Abstammungslehre, denn sie kann sich ja unabhängig von der Kausalproblematik auf eine Reihe von Belegen stützen (siehe Kapitel V). Sie werden jedoch in Argumente umgemünzt um zu zeigen, daß diese Probleme vorerst noch ungelöst sind und mithilfe evolutionstheoretischer Mittel auch nicht lösbar seien:

"Dazu gibt es zwei Strategien. Der Evolutionsgegner appelliert entweder an die Intuition seines Gesprächspartners und versichert, daß etwas so Kompliziertes (und Schönes) wie das erste Lebewesen oder das menschliche Auge doch unmöglich 'durch Zufall' entstanden sein könne, wie es die Evolutionstheorie behauptet. Oder er gibt dem Einwand eine mathematische Scheinpräzision und weist nach, daß für die Entstehung des fraglichen Merkmals mindestens so und so viele Teilschritte erforderlich seien und daß die Wahrscheinlichkeit, alles diese Schritte zufällig und gleichzeitig zu bekommen, extrem klein und damit das Auftreten des Merkmals (also z.B. des Auges) praktisch unmöglich sei (...) Fast jede neue Entdeckung der Biologie verstärkt diesen Eindruck und macht die Alternative 'Komplexität oder Zufall?' sogar noch überzeugender."

(VOLLMER, 1986, S. 21 f.)

                 

Das Problem besteht in dieser Form jedoch nicht, weil "Makroevolution" nicht in der Weise stattfinden muß, wie es im Antievolutionismus Gegenstand der Diskussion zu sein scheint.

Zunächst ist festzustellen, daß auch komplexe Funktionseinheiten schrittweise entstehen können, wenn die tragende Rolle von Doppelfunktionen in der Evolutionsbiologie hinreichend Berücksichtigung findet. In diesem Sinne können einzelne Funktionselemente durchaus unabhängig voneinander entstanden sein und einen Selektionsvorteil besitzen, wenn sie Primärfunktionen erfüllen, die mit der Funktion der später daraus evolvierten Baupläne nicht im Zusammenhang stehen. Es kann nicht überraschen, daß sich die opportunistisch angelegte Evolution immer wieder Ressourcen, die schon vorhanden und unabhängig von der heutigen Funktion evolviert sind, bedient - ja geradezu bedienen muß - und unter Abwandlung der primären Funktion in eine andere neue Funktionstypen schafft.

"Die Frage, die sich der Evolutionsbiologe grundsätzlich stellen muß, wenn er kausalanalytisch interessiert ist, lautet also: 'Welche Doppelfunktion (Mehrfachfunktion) ist es, bei der die langfristige positive Bewertung der einen Funktion die andere Funktion ganz nebenbei zur Funktionsreife bringen konnte?' (...) In vielen Fällen erfordert die Antwort auf diese Frage gar keine neuen empirischen Fakten, sondern nur eine Änderung der Blickrichtung."

(VOLLMER, 1986, S. 25)

                             

Die Hypothese, daß Organe ihre Funktion wechseln oder mehrere Funktionen gleichzeitig ausüben können, stellt nun beileibe keine wilde Spekulation dar, sondern gehört mittlerweile zu den empirisch wohluntermauerten Grundeinsichten in der Evolutionsbiologie. So kann etwa ein Insektenbein "Laufbein, Grabschaufel, Kiefer, Saugrüssel, Lauterzeugungsorgan, Ruder, Teil des Begattungsorgans oder der Legeröhre werden." Funktionswechsel und Vielfachfunktionen sind also "Grundtatsachen in der Phylogenese" (vgl. REMANE et al., 1973, S.122 ff.).

In Anlehnung an diese und ähnliche Beispiele sind wir nun in der Lage, den Nachweis, daß die Einzelschritte in Richtung auf das fertige Organ infolge des Bestehens von Doppelfunktionen tatsächlich positiv selektioniert werden, beim Auge oder beim Flugapparat der Vögel tatsächlich zu führen und weitere Beispiele für das Prinzips "Doppelfunktion" anzugeben:

         


Beispiele:

   

"es denkbar wäre, daß durch Genduplikation und Mutation das Gen für den Nervenwachstumsfaktor sich aus einem Urinsulingen entwickelt hat."

(HAKEN, HAKEN-KRELL, 1989, S. 139)


(Beispiele teilweise zitiert aus: VOLLMER, 1985, S. 23 ff.)

               

Natürlich bleibt die Aufgabe, für jeden Bauplan und jedes Organ bei den über 2 Millionen rezenten Arten eine vollständige phylogenetische Erklärung über Doppelfunktionen (und Kopplung von Genen) zu liefern, ungeachtet der Tatsache, daß für sehr viele Beispiele immerhin Modellvorstellungen entworfen werden konnten, ein hoffnungsloses Unterfangen. Es wirft sich also die Frage auf, für wieviel Merkmale von Organismen denn noch Doppelfunktionen nachgewiesen werden müssen, damit die Evolutionstheorie endlich als hinreichend gesichert und die Evolutionsfaktoren als vollständig angesehen werden.

Sicherlich wird es einem uneinsichtigen Antievolutionisten nie an Beispielen mangeln, um auch nach hundert geglückten phylogenetischen Erklärungen zu zeigen, daß die Entstehung vieler Organe noch der evolutionstheoretischen Erklärung harrt.

"Dieses Argumentationsmuster wird sich aber schließlich doch leerlaufen; es muß einfach langweilig werden. Deshalb sei auf die pragmatische Frage 'wann sollen wir diesen Dialog endlich abbrechen?' auch pragmatisch antworten: 'Dann, wenn wir nicht mehr befürchten müssen, daß unseren Kindern in der Schule eine kreationistische oder deutlich anti-evolutionistische Lehre als mit der Evolutionstheorie gleichwertig, als wissenschaftlich vertretbar oder gar als überlegen angepriesen wird; dann also, wenn 'Affenprozesse' wirklich keine Aussicht mehr auf Erfolg haben.' "

(VOLLMER, 1986, S. 28)

                   

Natürlich hat es nicht an Versuchen gefehlt, zwischen jeder aufgefundenen Doppelfunktion, die einen selektionsbegünstigten Zwischenschritt begründet, und einer nächsten weitere Doppelfunktionen und Zwischenschritte zu verlangen:

"Weiter ist der Schritt zur Feder von Reptilienschuppen ausgehend immer noch gewaltig, auch wenn die Federn zunächst nur zum Wärmen verwendet wurden (...) Selbst die besten Federn würden das Fliegen nicht ermöglichen, solange die Federn nicht zu einem passenden Federkleid organisiert sind."

(JUNKER und SCHERER, 1998, S. 89)

                   

Die Einforderung beliebig weiterer Zwischenschritte ist meist charakteristisch für die Argumentation des Kreationismus, kann jedoch aufgrund der oben ausgeführten Argumente letztlich nicht überzeugen. Daneben wird jedoch vermehrt eine grundsätzliche Kritik am "Modell der Doppelfunktion" geübt:

"Aber auch ein Federkleid würde ohne passende Veränderung und zusätzliche Anordnung von Muskeln, Sehnen, Nerven und Blutgefäßen sowie einem passend veränderten Gehirn noch nicht genügen. Welcher Selektionsdruck soll dann für dessen Entstehung bzw. für die Flugtauglichkeit einfacher 'Wärmefedern' sorgen?"

(JUNKER und SCHERER, 1998, S. 89)

               

Die als "Koadaptations- oder Synorganisationsproblem" geläufige Thematik haben wir oben schon abgehandelt, und wir haben begründet, weshalb es sich in der Systemtheorie der Evolution, die als Weiterentwicklung der gewiß noch imperfekten Synthetischen Theorie der Evolution aufzufassen ist, nicht erhebt. Wir wollen nochmals herausstreichen, daß das epigenetische System ein komplex verschaltetes und hierarchisch gegliedertes Regulationssystem darstellt, so daß wir mit RIEDL zwingend fordern müssen, daß komplexe adaptive Veränderungen nicht durch eine Vielzahl von Einzelmutationen zustandekommen, sondern umgekehrt, jede Mutation stets mehr oder minder das ganze System beeinflußt. Es ist klar, daß die Systemisierung der Gene, die den Aufbau von Muskeln, Sehnen, Nerven und Blutgefäßen sowie von denjenigen Genen, die für die Ausbildung von Federn verantwortlich sind, ungeheure Selektionsvorteile mit sich bringt.

Es sei in diesem Zusammenhang nochmals betont, daß solche Regulationsnetze nicht spekulativer Natur sind, sondern tatsächlich existieren, das heißt, empirisch nachgewiesen werden konnten (wie wir etwa am Beispiel des Pax6-Gens bei Drosophila gesehen haben). Ebenso experimentell untermauert sind vielschichtige Veränderungen der Phänotypen durch einfache Eingriffe ins epigenetische System sowie das Phänomen der Pleiotropie, Phänomene, die makroevolutive, systemische Veränderungen überhaupt erst verstehbar machen (vgl. LORENZEN, 1988; WUKETITS, 1988, S. 145 sowie HARMS, 1934). Die Natur des epigenetischen Systems ermöglicht damit aufgrund einfacher Mutationen schon eine schrittweise Anpassung des gesamten Systems.

                       

1.4. Kritik an der Systemtheorie der Evolution

Es lohnt sich, hier die systemtheoretischen Zusammenhänge in dieser Ausführlichkeit zu erwähnen, weil wir nunmehr auch mit der Frage nach der Wahrscheinlichkeit der ganz spezifischen Kopplung (Systemisierung) von Genen zu einem konkreten Regelnetzwerk, wie sie im Antievolutionismus zum Zwecke der Destruktion der Evolutionstheorie aufgeworfen wird, umgehen können:

"Wie könnte die postulierte Gen-Verschaltung erfolgen? Man müßte annehmen, daß folgendes gleichzeitig geschieht: 1. eine Promotor-Region wird verdoppelt (Duplikation). 2. Sie wird unter mehreren 1000 Genen an genau die passende Stelle vor die zu koppelnden Gensequenzen eingebaut. 3. Es muß außerdem noch angenommen werden, daß die jetzt gekoppelten Gene vorher unter einer anderen Regulation standen, die nicht einfach ersetzt werden kann (...) Der gesamte gedachte Vorgang ist bei Betrachtung der zugrundeliegenden molekularen und genetischen Strukturen als Evolutionsmechanismus kaum akzeptabel."

(JUNKER und SCHERER, 1998, S. 93)

             

Wir können nun jedoch einsehen, daß der Wahrscheinlichkeitseinwand nicht fruchtet. Zunächst ist festzustellen, daß keinesfalls "unter mehreren 1000 Genen an genau die passende Stelle die zu koppelnden Gene" so und nicht anders eingebaut werden mußten, wie wir es heute vorfinden. Denn ein ungekoppelter Zustand ist gleichbedeutend mit einer hohen Entscheidungsfreiheit, der mit einem geringen Maß an Entscheidungsnotwendigkeit bzw. mit einer großen Zahl an Anpassungsmöglichkeiten korreliert.

Umgekehrt führt steigende Systemisierung zwar zu vermehrter Entscheidungsnotwendigkeit (ergo zu einer sinkenden Zahl an Anpassungsmöglichkeiten), weil "Genfunktionen (...) ein kompliziertes Wirkungsgefüge bilden" und der "Vorgang (der Systemisierung) Folgelasten mit sich brächte, die ebenfalls gleichzeitig durch weitere passende Mutationen ausgeglichen werden müßten." (JUNKER und SCHERER, 1998, S. 93) Steigende Systemisierung führt dafür aber zu einer Erhöhung der Realisierungschance eines bestimmten vorteilhaften Zustandes, was RIEDL explizit hervorhebt:

"Die Erfolgschancen der Zufallsänderung von Entscheidungen und jene der Notwendigkeiten der Ereignisse (der Merkmale) sind voneinander nicht unabhängig (...) Dabei zieht das Wachsen bestimmter Notwendigkeiten einen Abbau der Möglichkeiten des Zufalls nach sich, während dieses verringerte Repertoire der Entscheidungen eine Kanalisation der möglichen Ereignisse zur Folge hat (...) Die funktionelle Bürde vieler Merkmale und der selektive Ausschuß wachsen. Gleichzeitig aber werden im Fall gleichbleibender Anpassungsziele zahlreiche Entscheidungen redundant (...) Der Anpassungsvorteil steigt dabei exponentiell mit der Zahl der vermeidbaren Entscheidungen, wobei die Zunahme der Realisierungschancen eines bestimmten Zustandes wieder der Abnahme der Möglichkeiten des Zufalls entspricht (...)"

(RIEDL, 1990, S. 352 f.)

                 

RIEDL sieht mit anderen Worten sehr wohl den von JUNKER und SCHERER aufgeworfenen Fall der Zunahme von Folgelasten als ein Anwachsen der "Bürde" infolge zunehmender Systemisierung. Entsprechend führt dies zu einer Verschärfung der inneren Selektion und damit zu einer Kanalisierung in der weiteren Entwicklung. Der von den Antievolutionisten konstatierte bestürzende Effekt stellt sich bei den Koryphäen auf dem Gebiete der Systemtheorie jedoch nicht ein, weil sie erkennen, daß aus der "genetischen Bürde" höhere Realisierungschancen und Adaptationsvorteile synorganisierter Strukturen erwachsen, wodurch die angeführten "Nachteile" wieder aufgewogen werden.

"Was soll also der Zufall in der Evolution? Er hat nur dort einen Sinn - und wir wissen, daß das Schicksal jeder Art auf ihn angewiesen ist -, wo die Chancen seiner Ereignisse groß sind, wo ihm selbst möglichst wenig Raum gegeben ist: In der schmalsten Gasse zwischen fest etablierter Gesetzmäßigkeit. Phylogenie ist das Verschließen möglichst vieler Löcher im Roulette."

(RIEDL, 1990, S. 176)

  

Anders ausgedrückt: Scharfe innere Selektion, Bürde und Kanalisierung des Entwicklungsgeschehens sind keine Problemfälle der Systemtheorie, sondern bilden im Gegenteil geradezu das Zentrum des Erklärungsansatzes, aus dem eine Reihe von Problemen überhaupt erst gelöst werden können. Zudem zeigen Experimente, daß systemische Veränderungen keinesfalls "theoretisch inakzeptabel" sind sondern entgegen allen Behauptungen zumindest ansatzweise durch gezielte Eingriffe ins epigenetische System vielfach im Phänotyp kopiert oder gar molekulargenetisch nachgewiesen werden können (vgl. HARMS, 1934; LORENZEN, 1988; MORELL, 1999; MÜLLER, 1985; RIEDL, 1975, S. 236 sowie WUKETITS, 1988, S. 145).

       

Schließlich wird von JUNKER und SCHERER (a.a.O.) am Beispiel der Umspezialisierung der "reptilischen" Kiefergelenkknochen zu den Gehörknöchelchen der Säugetiere die Tauglichkeit der Systemtheorie der Evolution als Erklärungsansatz mit folgendem Argument bestritten:

"Die Gehörknöchelchen Hammer und Amboß werden von reptilischen Kiefergelenkknochen abgeleitet. (...) (Es) muß bei einer Umwandlung von Kiefergelenkknochen in Knöchelchen ganz anderer Funktion davon ausgegangen werden, daß das Regulationssystem, welches für das Funktionieren des Kauapparates notwendig ist, zeit- und teilweise hätte aufgelöst werden müssen, was kaum von der inneren Selektion 'zugelassen' worden wäre."

                   

Die Vermutung, daß die innere Selektion generell alle progressiven Veränderungen eines Bauplans ausmerzen müsse weil sie Funktionsausfälle zur Folge habe, wurde nun aber just an diesem Beispiel nachgerade durch den Fossilienbefund widerlegt. Denn was die Autoren verschweigen ist der Umstand, daß nachgewiesenermaßen eine Zeit lang primäres (Quadratum-Articulare) und sekundäres Kiefergelenk (Squamosum -Dentale - Deckknochen) gleichermaßen für den Kauapparat bereitgestellt wurden (siehe Kapitel II und REMANE, 1973, S. 26). Es gab also keinen "plötzlichen" Wegfall der Kaufunktion, sondern wohl einen schrittweisen Funktionswechsel. Entsprechend widerlegen diese Beobachtungen LÖNNIGs Zweifel an der Tauglichkeit des systemtheoretischen Konzepts, der auf seiner Homepage folgende Frage stellt:

"Reicht es, dass man alle Gene unter die Kontrolle eines Hauptschalters wie Pax6 bringt und damit ausprobiert, ob die Augen-Funktion besser wird? Bedeutet eine solche Kontrollübertragung nicht zugleich den Funktionsausfall dieser Gene für zahlreiche andere lebensnotwendige Funktionen?"

                                     


Wir sehen anhand der Evolution des sekundären Kiefergelenks, daß - ungeachtet eines steigenden "selektiven Ausschusses" infolge der Systemisierung von Genen - eben doch gangbare Wege existieren, um ein System kooperativ umzubauen. Der postulierte Funktionsausfall folgt also nicht zwingend.  

                                           

Freilich, und damit seien auch offene Fragen angesprochen, liegt es an der kausalen Evolutionsforschung, vermehrt die Implikationen der Theorie empirisch zu prüfen und das Theoriengebäude "mit Inhalt" zu füllen. Es werden Untersuchungen der Struktur epigenetischer Systeme nötig sein um zu erkennen, welche konstruktiven Zwänge der morphogenetischen und evolutiven Entwicklung die Richtung weisen. Erste Schritte in diese Richtung sind bereits unternommen worden. Nichtsdestotrotz wird der Erklärungswert der Systemtheorie der Evolution von Antievolutionisten in Zweifel gezogen; es wird behauptet, daß auch sie fundamentale Probleme der Synthetischen Theorie nicht lösen könne:

"Mit der Systemtheorie der Evolution (...) kommt man (...) nicht wesentlich weiter. Denn die Systemtheorie kann (...) auch keine Antwort auf die Frage geben, welcher Selektionsdruck die Entstehung der einzelnen (Teile eines Bauplans) veranlassen konnte. Sie kann nicht begründen, weshalb verschiedene für das Funktionieren des fertigen (Bauplans) notwendige Gene irgendwann einmal während der Entstehung (...) zusammengeschaltet worden sein sollten."

(JUNKER und SCHERER, 1998, S. 92)

                                 

Wir haben jedoch in Kapitel II. am Beispiel der Entwicklung der Gehörknöchelchen aufgezeigt, welche Selektionsdrücke gewirkt haben und damit im Sinne der Synthetischen Theorie eine (wenn auch unvollständige) Erklärung geliefert. Entgegen Junker und Scherer liegt die Stärke der Systemtheorie darin, daß ihren Erklärungen vollständiger sind, weil sie Evolution unter Einbeziehung entwicklungsbiologischer Aspekte  erfaßt. In diesem Kontext erweisen sich die evolutiven Neuheiten als nichtadaptiert in dem Sinne, daß keine äußeren Selektionsdrücke die Ausbildung bestimmter Strukturen begünstigen müssen, sondern daß umgekehrt die Strukturbildung inneren (epigenetischen) Gesetzmäßigkeiten (Zwängen) folgt, denen zufolge die Organismen "neue adaptive Zonen" besetzen (RIEDL, 1990).                 

"Es kann also beim besten Willen die Entstehung landbewohnender Wirbeltiere nicht durch bloße Umwelteinwirkungen erklärt werden. Soll denn ein Fisch 'unter dem Druck der neuen Umwelt' zu einem Amphibium werden!? Im Gegenteil, es waren bestimmte Fischformen (...) die dazu prädisponiert waren, den Schritt zum Landleben zu vollziehen, die also nicht darauf warteten, daß sich die Umwelt ändern wird und sie sich dann an die neuen Umstände erst anzupassen haben werden (...) Anpassung allein scheint also nicht den Schlüssel einer Lösung zu enthalten."

(WUKETITS, 1988, S. 103 f.)

                       

Und RIEDL schreibt:

"Wer immer glaubte, 'innere Bedingungen' annehmen zu müssen (...) der erwartete hier zutreffenderweise des Pudels Kern (...) Es sind die Gesetzmäßigkeiten im Inneren des epigenetischen Systems, die dem Sinn, dieser Richtung ihre causa geben."

(RIEDL, 1990, S. 385)

                   

Die Kritik, die der Adaptationismus in neuerer Zeit erfuhr, ist auf dieser Basis verständlich. GOULD und LEWONTIN vertreten den Standpunkt, daß - so wie die Struktur großer Bauwerke durch architektonische Zwänge und Randbedingungen determiniert sind - auch das Leben der Organismen und deren Evolution durch die ihnen eigenen Baupläne und nicht einfach durch Umwelterfordernisse bestimmt wird. (GOULD und LEWONTIN, 1984).

In die Kritik am Anpassungsparadigma fügt sich auch die Neutralitätstheorie der Evolution nahtlos ein, die ebenfalls die Auffassung verwirft, alle biologischen Strukturen seien das Resultat von Anpassung und müßten durch Selektionsdrücke begünstigt werden (KIMURA, 1979). Dazu ist abermals WUKETITS zu zitieren, der feststellt:

"Obwohl die Theorie mit so mancher anderen Theorie, die solche Mechanismen postuliert, nicht viel gemein hat, gehört sie dennoch insofern in den Bereich dieser Theorien, als sie die Gültigkeit des Selektionsprinzips, verstanden vornehmlich als 'Prüfung' durch die Umwelt der Organismen, relativiert. Nach der Neutralitätstheorie soll keineswegs jede Änderung, keineswegs jede genetische Variation durch die Auslese 'getestet' werden (...) Die Selektion ist demnach nicht mehr das Zauberwort."

(WUKETITS, 1988, S. 107)

                       

JUNKERs und SCHERERs Einwand wäre also als Kritik am "strengen Adaptationismus" der Synthetischen Theorie der Evolution durchaus gerechtfertigt, in der Systemtheorie der Evolution läuft er dagegen ins Leere. In diesem Sinne können verschiedene neue Gene bzw. Genkombinationen und Merkmale entstehen, die nicht unbedingt von der Umwelt selektioniert werden müssen. Daher ist auch die Frage falsch gestellt, welchen "entscheidenden Selektionsvorteil die ersten kleinen Ausstülpungen der Speiseröhre gehabt haben".

Um grundsätzlichen Mißverständnissen vorzubeugen: Niemand behauptet, daß die Entstehung eines komplexen Organs in einem Schritt oder ausschließlich über nichtselektionierte Etappen entstehen könne, denn es ist unzweifelhaft, daß:

"eine funktionslose Struktur desto unwahrscheinlicher wird, je weiter sie vom erprobten und optimal ausgelegten Normaltyp abweicht."

(VOLLMER, 1986, S. 18)

                         

Dennoch kommt man nicht umhin, einfache Innovationen, das heißt kleine und mittlere systemische Veränderungen in Richtung einer makroevolutiven Anpassung an neue adaptive Zonen, (etwa die "kleinen Ausstülpungen der Speiseröhre", die sich in Richtung einer Lunge weiterentwickelten), andere vielschichtige Merkmalsveränderungen von Phänotypen (wie sie beim Übergang von einem Organisationstyp zum anderen auftreten und oben am Beispiel des Schlammspringers diskutiert wurden) oder etwa die Umfunktionierung eines Blattes in ein Kannenblatt als das Resultat innerer Entwicklungszwänge zu erkennen, die zunächst nicht unter dem Einfluß externer Selektion stehen.

Die Umwelt-Selektion kommt erst dann ins Spiel, wenn das neue Merkmal eine entsprechende Weiterentwicklung (im Falle der Ausstülpungen der Speiseröhre in Richtung Lunge) erfahren hat, das in einer neuen adaptiven Zone einen Vorteil mit sich bringt. Entsprechend verhält es sich mit den Strukturelementen aller Baupläne.

Doch ungeachtet dieser veritablen fachlichen Schnitzer fügen - die Biologen - JUNKER und SCHERER ihren Einwänden noch einige weitere kuriose Behauptungen hinzu:

"Die Vertreter der Systemtheorie der Evolution (...) halten zur Behebung des Erklärungsmangels eine Theorieerweiterung oder sogar eine Ersetzung der Synthetischen Theorie für erforderlich (...) Sie decken im wesentlichen nur wenig beachtete Voraussetzungen für ein Verständnis von Makroevolution auf, ohne plausible Mechanismen dafür bestimmen zu können."

(JUNKER und SCHERER, 1998, S. 93)

                                   

Diese kraftvollen Äußerungen verstärken den Eindruck, daß die Autoren weder die Systemtheorie der Evolution vollends verstanden haben noch die gesamte Literatur zu dieser Frage kennen:

Zunächst versteht kaum ein Architekt der Systemtheorie diese als konkurrierenden Ansatz zur Synthetischen Theorie der Evolution, sondern als eine Weiterentwicklung derselben. WAGNER hat entsprechend kritische Äußerungen hinsichtlich der Kompatibilität beider Theorien zurückgewiesen (WAGNER, 1983). Richtig ist, daß in einer ersten Formulierung der Systemtheorie die Erkenntnisse beider Theorien berücksichtigt wurden (RIEDL, 1975, 1990). Obgleich sich der strenge Adaptationismus nicht mit der Systemtheorie vereinbaren läßt, ist sie mit dem Gradualismus der Synthetischen Theorie vereinbar und schließt in einem erweiterten Kausalitätsprinzip ihre Erfolge ein (WUKETITS, 1988). Die Wechselwirkung von Mutation und Selektion als Wirkfaktor der Evolution wird nicht aufgegeben sondern um den Aspekt innerer Entwicklungsprinzipien bereichert (das ist übrigens ein Erkennungszeichen jedes progressiv fortschreitenden Forschungsprogramms in der Wissenschaft). Entsprechend versteht auch RIEDL seine Theorie als Weiterentwicklung des synthetischen Ansatzes und erkennt die Kompatibilität systemischer und konventioneller Aspekte und schreibt versöhnlich:

"Die synthetische Theorie des Neodarwinismus kam bekanntlich zur Ansicht, daß nur die kleinen Zufallsänderungen den Gang der Evolution bestimmen, ihre Kritiker meinen, daß mit purem Zufall weder die Baupläne noch die Trends der großen systematischen Gruppen zu verstehen wären (...) Ich werde sogleich zeigen, daß beide Ansichten gleichzeitig Bestätigung finden."

(RIEDL, 1990, S. 253)

                 

In ähnlicher Weise äußern sich auch WUKETITS, 1988 und LORENZEN, 1988, die beide betonen, in der Systemtheorie kein konkurrierendes Unternehmen zu erkennen.

Wir können also festhalten, daß der Versuch JUNKERs und SCHERERs, die Synthetische Theorie der Evolution gegen die Systemtheorie auszuspielen, keinen Erfolg haben kann. Völlig ratlos steht man denn auch vor der Feststellung, die Systemtheorie der Evolution biete "wenig beachtete Voraussetzungen für ein Verständnis von 'Makroevolution', ohne plausible Mechanismen dafür bestimmen zu können", eine Aussage, die sich endgültig im Kryptischen verliert und allenfalls damit erklärt werden kann, daß die Positionen veritabler Neodarwinisten schlichtweg unbekannt sind.

Die Frage nach den "inneren Prinzipien" wurde tatsächlich immer wieder gestellt und zum Teil in vielen großen Werken zum Ausdruck gebracht; hier nur eine kleine Auswahl: BAER, 1876; WEDEKIND, 1927; SCHINDEWOLF, 1936-1950; BERTALANFFY, 1952; WADDINGTON, 1957; HALDANE, 1958; REMANE, 1939-1971; OSCHE, 1970 sowie von MAYR, 1967. (Literaturliste auf Wunsch)

             

Gestandene Neodarwinisten, wie MAYR, DOBZHANSKI, KOSSWIG und OSCHE

"räumen dem epigenetischen System eine fundamentale, wenn auch im einzelnen nicht aufschließbare, ordnende Wirkung zu (...) Wir werden in dieser Richtung einen weiteren Schritt zu tun haben und, wie hier vorausgesehen, eben in dieser Position der Gen-Wechselwirkung die molekulare causa des ordnenden Prinzips finden können."

(RIEDL, 1990, S. 111)

In diesem Sinne - und das sei hier nochmals hervorgehoben - erwartete schon REMANE das "Walten eines inneren Abhängigkeitsprinzips". RENSCH spricht über "einen bestimmten Zustand harmonischer Tierkonstruktion", bei welchem "jede Veränderung von speziellen Regeln gelenkt wird, die den Organismus als ganzes betreffen" und die, wie OSCHE ergänzt, "im Moment der Kombination selektive Vorteile bilden."

(vgl. REMANE, 1971; RENSCH, 1961, S. 127 sowie OSCHE, 1966, S. 889)

                     

Damit werden die Annahmen der Systemtheorie der Evolution teilweise - obgleich weniger prononziert und mechanistisch unkonkret - auch in der Synthetischen Theorie vertreten und von vielen Autoren zum Ausdruck gebracht.

LÖNNIG hat gegen die Systemtheorie der Evolution schließlich einzuwenden, daß noch niemand die stufenweise Verschaltung von Genen unter einen Hauptschalter hat belegen können:

"Wenn das so einfach wäre, dann müßte man dieses Postulat zumindest an Einzellern durch Mutagenese direkt bestätigen können: Wir kennen bei Einzellern wie Euglena sowohl ein neuartiges Funktionsprotein für ein lichtsensitives Pigment (dessen Entstehung allerdings unbefriedigenderweise selbst wieder durch richtungslose Mutationen ohne Beweise postuliert und "geglaubt" wird) und ein Hauptschalter sollte sich auch finden lassen. Wir haben auch bei solchen Lebensformen drei Zeitraffer in der Hand (...)"

                           

Der Einwand, niemand hätte die Entstehung von Verschaltungen experimentell "beweisen" können, erweist sich als empiristisch motiviert. Wie soll ein Prozeß, der in der freien Natur Jahrmillionen in Anspruch nimmt, im Laborexperiment innerhalb weniger Wochen oder Monate reproduzierbar sein? Die Anwendung von "Zeitraffern" erweist sich als schwierig, wenn nicht sogar als unmöglich, weil zum einen geeignete Selektionsmethoden im Labor fehlen, um einen neuen Typ aufzubauen und sich zum anderen ungünstige und "unsichtbare" Mutationen aufsummieren, die sich zunehmend negativ auf die Überlebensfähigkeit der Mutanten auswirken.

Schließlich wird von LÖNNIG behauptet:

"'Erklären' im Sinne einer logisch-attraktiven Denkmöglichkeit reicht meiner Auffassung nach nicht. Als wissenschaftliche Hypothese sollte die Erklärung auch Falsifikationskriterien nennen. Und zur tatsächlichen Bestätigung kommen wir nicht ohne die experimentellen Beweise aus!"

                                     

Hier verwechselt LÖNNIG die Erkenntnisstrategie der Wissenschaft mit dem Empirismus. Wir haben in Kapitel Ib.2 besprochen, daß in der Wissenschaft nicht die Beobachtbarkeit der theoretischen Erkenntnisgegenstände zählt, sondern die Belegbarkeit der Deduktionen einer Theorie. Wie also kann man die Systemtheorie belegen? Dazu wollen wir nochmals unsere Ausführungen aus Kapitel I. bemühen:

Was möglich erscheint, ist eine logische (prinzipielle) Falsifizierbarkeit durch den Vergleich ihrer logischen Folgeaussagen mit der Beobachtung. Wenn man beispielsweise zeigen könnte, daß Gene nicht in einem epigenetischen System zu Regulationseinheiten organisiert wären; wenn man zeigen könnte, daß es keine molekulargenetischen Mechanismen zur Verschiebung von Genen (Translokation) gäbe und wenn man feststellen würde, daß kleine Veränderungen im epigenetischen System keineswegs eine Palette phänotypischer Veränderungen bewirken könnten - ja dann könnte man mit Fug und Recht behaupten, daß die theoretischen Erwartungen den experimentellen Befunden nicht entsprächen, die obige Hypothese logisch falsifiziert wäre. Wir wissen heute aber, daß Gene ihre Position verändern, durch Translokation unter neue Regulatoren geraten können. Man findet Gene zu Genwirkketten organisiert (bei Drosophila sind 2000 Gene unter einen Regulator - das Pax6-Gen verschaltet!) und man hat tatsächlich systemisch-phänotypische Veränderungen durch kleine Eingriffe ins epigenetische System kopieren können. Man findet also alle Erwartungen der nicht unmittelbar experimentell prüfbaren Hypothese experimentell bestätigt, die Aussage hypothetico-deduktiv verifiziert.

Copyright by Martin Neukamm, 30.08.2000             Alle Rechte vorbehalten.                          GOWEBCounter by INLINE

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