IV. Evolution und Leben: Zufall und Wahrscheinlichkeit

                                                       

Eine beliebte Argumentationsstrategie der Evolutionsgegner besteht darin, die natürliche Entstehung des Lebendigen auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeitsberechnungen infragezustellen. Die Kritiker fassen dazu konkrete Merkmale, wie etwa bestimmte Biomoleküle oder Organe ins Auge, verleihen ihnen eine mathematische Präzision und geben vor, daß ihre zufällige Entstehung astronomisch unwahrscheinlich gewesen sein müsse. Inwieweit aber unterliegt die Evolution dem Regime des Zufalls? Wir wollen die gängigen Argumente aufgreifen und kritisch diskutieren.

                                                                                   

1. Bioevolution

JUNKER und SCHERER (1998, S. 129-133) versuchen, die Entstehung des "Fortbewegungsapparats" des Bakteriums Escherichia coli wahrscheinlichkeitstheoretisch abzuschätzen, den sie sich aus mindestens fünf Motor- und zwei Steuerproteinen zusammengesetzt denken. Für die Bildung der Proteine aus "präadaptierten Vorläufern" werden insgesamt 28 Mutationen veranschlagt (3 Mutationen je Protein und zusätzlich 7 Genduplikationen), deren gleichzeitiges Eintreten gefordert wird, weil der Motor vorgeblich nicht über "selektierbare Zwischenstufen" zur Funktionsreife gelangen könne (S. 133). Unter der Voraussetzung, daß die "passenden" Mutationen mit einer Wahrscheinlichkeit von je 10-5 eintreten, wird somit eine astronomisch kleine Gesamtbildewahrscheinlichkeit von (10-5)28 = 10-140 pro Bakterienzelle errechnet und folgendes Resümmee gezogen:

"Wenn diese Methode auf konkrete biologische Beispiele angewendet wird (...) dann ergeben sich extrem kleine Wahrscheinlichkeiten für eine evolutive Entstehung solcher komplexer Strukturen. Dieses Ergebnis ist auch in anderen Fällen zu erwarten, in denen die Evolution einer Struktur analysiert wird, bei der mehrere Komponenten notwendig zusammenwirken müssen."

(JUNKER und SCHERER 1998, S. 133)

                       

Zu den Standardbeispielen zählt auch das Enzym Cytochrom c, das in der Atmungskette eine wichtige Funktion übernimmt. LÖNNIG will zeigen, daß ein solches Protein unmöglich auf natürliche Weise entstanden sein konnte. Die Bildewahrscheinlichkeit wird zu 20-34 (etwa 10-44) berechnet, die Entstehung auch hier völlig unwahrscheinlich gemacht: 

"Da die Cytochrom-c-Moleküle der Wirbeltiere 104 Aminosäurenreste besitzen, sind mindestens 34 Positionen konstant (...) Wie groß ist aber nur einmal die Wahrscheinlichkeit der zufälligen Entstehung eines Polypeptids mit 34 konstanten Positionen? Die Antwort lautet: 1 : 2034 (...) Mit einem Wort: nach allen vorliegenden Daten zu glauben, dass ein solch spezifisches Molekül durch Zufall entstanden ist, ist eine Glaubensinvestition mit geringer Aussicht auf Kongruenz mit der Realität. Der gezielt-intelligente Ursprung solcher Sequenzen ist wahrscheinlicher (...)"       

(LÖNNIG 1986)                

                                                                                                  

Nun haben jedoch Wissenschaftler, wie etwa v. DITFURTH, EIGEN, VOLLMER u. a. seit Generationen erklärt, weshalb derartige Berechungen und Schlüsse keine Relevanz besitzen. Tatsächlich wird in einer Weise multipliziert und potenziert, daß darüber die Voraussetzungen vergessen werden, unter denen solche Schlüsse berechtigt wären (MAHNER 1986).

Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß in der Evolution keine bestimmten (nämlich just die uns bekannten und in den Wahrscheinlichkeitsrechungen berücksichtigten) Entwicklungsschritte "anvisiert" werden mußten; es reichte ja schon, wenn den Organismen ein beliebiger Überlebensvorteil angeboten wurde (v. DITFURTH 1979, S. 181 ff.). Kurz: Die Unwahrscheinlichkeit jeder einzelnen Konfiguration wird durch eine immens große Zahl an alternativen (potentiellen) Konfigurationsmöglichkeiten aufgewogen. Ferner ist zu beachten, daß komplexe Systemprozesse wie Evolution nicht völlig zufällig ablaufen, sondern unter dem Einfluß systemeigener Gesetze und Faktoren (dazu gehört nicht nur die Selektion) kanalisiert und gesteuert werden. So wie aufgrund meteorologischer Bedingungen ein Schneesturm in der Sahara weitaus seltener (in den Polargebieten dagegen häufiger) entsteht als ein Hitzehoch, so sind auch die Alternativen evolutionärer Ereignisse nicht gleich (un)wahrscheinlich. Daher taugt die übliche Statistik, wonach für die Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines evolutiven Ereignisses einfach der Kehrwert der Zahl aller möglichen alternativen Ereignisse angesetzt wird, lediglich für die Beschreibung eines "Münzwurfspiels 'Kopf oder Adler'" (EIGEN 1983, S. 72-75). Die Beschreibung nichtlinearer Systeme verlangt eben andere Voraussetzungen, weil sie Eigengesetzlichkeiten folgen, die enorm in die kombinatorische Vielfalt eingreifen (RIEDL 1990, S. 352 f.; SCHUSTER 1994).

Aus demselben Grund ist das Verfahren, wonach einzelne Entwicklungsschritte linear aufsummiert und ihre Wahrscheinlichkeiten zu Gesamtwahrscheinlichkeiten potenziert werden, ebenfalls bedeutungslos. Es ist, wie UMSTÄTTER treffend bemerkt, eine Verkennung rückgekoppelter Systeme, wenn immerzu (so auch bei LÖNNIG 1989, S. 22 und VOLLMERT 1985) vorausgesetzt wird, daß alle Abhängigkeiten der Merkmalssysteme durch eine Vielzahl gleichzeitig eintretender Mutationen berücksichtigt werden müßten. Eher gilt (dazu später mehr) genau das Umgekehrte:

"Fast jede Mutation beeinflußt mehr oder minder das gesamte System. Es ist vielmehr ein Phänomen der genetischen Untersuchungsmethoden, daß wir relativ häufig Gene bestimmten phänotypischen Erscheinungen zuordnen können. Es sei nur an die Schwierigkeiten erinnert, Polygenie oder Pleiotropie vollständig zu erfassen."

(UMSTÄTTER 1990)

                                     

Halten wir also fest: Wer mit Wahrscheinlichkeiten gegen Evolution argumentieren möchte, müßte nicht nur alle Bedingungen kennen, unter denen sich Leben bilden und jede einzelne Art entwickeln kann, er müßte auch beweisen, daß gerade diese unter allen möglichen Bedingungen nahezu nicht realisierbar waren (EIGEN 1983, S. 69). Um im Bilde des "Bakterienmotors" zu bleiben, müßten bei der Abschätzung der Wahrscheinlichkeit alle Umbauschritte berücksichtigt werden, die (unter Wahrung von Funktionalität und Adaptivität) zur Entstehung irgendeiner vorteilhaften Struktur führen könnten. Dazu reicht es nicht, zu postulieren, daß ein "evolutive(r) Übergang zwischen [...zwei 'Basisfunktionszuständen'] nicht mehr in weitere selektionspositive Zwischenstufen unterteilt werden kann" (JUNKER und SCHERER a.a.O., S. 129). (1) Die Kritiker müßten vielmehr alle Wechselwirkungen im System kennen; sie müßten von der molekularen bis zur ökologischen Ebene über alle (auch historische) Randbedingungen und Systemgesetze Bescheid wissen, sich im Klaren darüber sein, welche Konfigurationen unter welchen Voraussetzungen "passen" und wie sie die Wahrscheinlichkeitsverteilung beeinflussen.

Man ahnt, daß sich die Evolutionsgegner mit ihren Vorgaben eine Beweislast aufbürden, die sie nicht bewältigen können, denn beim aktuellen Stand der Forschung liegen die Zusammenhänge noch weitgehend im Dunkeln. Dennoch werden sie in den Wahrscheinlichkeitsrechnungen entweder als bekannt vorausgesetzt oder ad hoc durch irgendwelche Annahmen überbrückt und der Eindruck erweckt, als könnte mathematisch gezeigt werden, daß eben diese (überwiegend unbekannten) Bedingungen fast unrealisierbar waren. Dadurch wird die Argumentation nicht nur semantisch leer (polemisch zugespitzt könnte man sagen: solange ein System noch nicht durchdacht worden ist, stellen Evolutionsgegner Wahrscheinlichkeitsberechungen an). Sie wird auch zirkelschlüssig, weil das Resultat durch die Wahl von empirisch nicht abgesicherten Voraussetzungen praktisch "vorfabriziert" wird. Es ist ja ein bekanntes Phänomen der Klimaforschung, daß ihre Computermodelle bestimmte Entwicklungen des Weltklimas mit fast beliebigen Wahrscheinlichkeiten vorhersagen können, weil die Systemzusammenhänge nur wenig verstanden sind und deshalb mehr oder minder unterschiedlich gewichtet werden. Damit ist die Abschätzung der Wahrscheinlichkeit komplexer Evolutionsprozesse gegenwärtig erst Recht unmöglich.

Auch und insbesondere die oben erörterte Berechung der Wahrscheinlichkeit für die Entstehung des Cytochrom c zeigt, wie schnell unter Nichtbeachtung oder Unkenntnis wichtiger Voraussetzungen irrelevante Aussagen gemacht werden:


LÖNNIGs Kalkulation läßt zunächst wieder den Umstand unberücksichtigt, daß das Protein nicht von Beginn an seine spezielle und optimale Funktion, die es heute einnimmt, zu besitzen brauchte. Es genügte ja schon, wenn das Enzym irgendeine Funktion als Elektronenüberträger (oder eine beliebige andere Funktion) besaß, die den Organismen einen Überlebensvorteil bot (MAHNER 1986, S. 49). SCHUSTER weist ferner darauf hin, daß gar nicht der gesamte Sequenzraum, sondern immer nur ein Bruchteil der (in unserem Fall: 2034) Sequenzen "durchsucht" werden muß, um ein Biopolymer mit der vorgegebenen Funktion zu "finden". Am Beispiel von RNS-Molekülen läßt sich zeigen, daß sich von jeder Zufallssequenz aus alle dafür relevanten Strukturen durch wenige Mutationen erzeugen lassen (SCHUSTER 1994, S. 62-64). Proteinketten könnten auch schrittweise durch Kopplung kleiner Module entstanden und optimiert worden sein, wodurch die kombinatorische Vielfalt wiederum stark eingeschränkt würde (DORIT und GILBERT 1991). Desweiteren können Biopolymere entlang "neutraler Pfade" zusätzliche Strukturen ausbilden, ohne daß die Funktion der bereits vorhandenen gestört wird (SCHULTES und BARTEL 2000). Schließlich werden auch nicht alle Aminosäuren mit derselben Wahrscheinlichkeit ausgetauscht, und im Falle der abiotischen Bildung entstehen (je nach Milieubedingungen und Eigenschaften der Moleküle) bestimmte Sequenzen häufiger als andere (FOX 1965). Überhaupt greifen physico-chemische Gesetze in den Zufall ein und drängen die Synthesen in bestimmte Richtungen (EIGEN 1983, S. 71 f.).

                                                                                                                

Daß LÖNNIG unter Vernachlässigung aller physico-chemischen Voraussetzungen einfach nach der "Kopf-Adler-Statistik" Biochemie betreibt, hat jüngst auch ein Experiment demonstriert, das sich mit der Frage beschäftigt, mit welcher Häufigkeit Proteine vorgegebener Funktion im Sequenzraum vorkommen (vgl. KEEFE und SZOSTAK 2001).

Die Forscher haben dazu im Reagenzglas (in vitro) eine "Bibliothek" (library) aus 4* 1014 DNA-Zufallssequenzen hergestellt und daraus ein Ensamble aus 6*1012 (an Messenger-RNA gebundene) Zufallsproteinen erzeugt. Dann wurden mittels spezieller Labortechniken aus diesem Gemisch bevorzugt jene Zufallsproteine ausselektiert, welche die Eigenschaft besaßen, ATP-Moleküle (die "Energieträger des Lebens") zu binden. Aus den dazugehörigen RNA-Molekülen wurde schließlich eine neue Bibliothek aus DNA-Sequenzen zurückgewonnen. Nach acht Zyklen der Selektion und Vermehrung ist es den Forschern gelungen, aus der Molekül-Population gleich vier Protein-Familien zu isolieren, deren Vertreter in der Lage waren, an ATP zu binden. Dabei ließ sich durch Mutation und Selektion die funktionelle Eigenschaft der Moleküle erheblich verbessern. Nach weiteren Zyklen der in vitro-Selektion haben die Forscher mehrere Spezies genauer charakterisiert. Bei einer Molekül-Sorte bildeten 45 der 80 Aminosäuren das katalytisch aktive Zentrum, das jedoch (wie zu erwarten war) keine signifikante Übereinstimmung mit den natürlich vorkommenden Funktionsproteinen zeigte. (2)

                                                            

Alles in allem, so schließen die Forscher aus ihren Ergebnissen, beträgt die Bildewahrscheinlichkeit eines Proteins mit einer vorgegebenen Funktion in guter Übereinstimmung mit der theoretischen Erwartung KAPLANs (vgl. KÄMPFE 1992, S. 198) etwa 10-11:

"We therefore estimate that roughly 1 in 1011 of all random-sequence proteins have ATP-binding activity comparable to the proteins isolated in this study. This frequency is similar to the recovery of ATP-binding RNAs from random-sequence RNA libraries (...) In conclusion, we suggest that functional proteins are sufficiently common in protein sequence space (roughly 1 in 1011 ) that they may be discovered by entirely stochastic means, such as presumably operated when proteins were first used by living organisms."

(KEEFE und SZOSTAK 2001, S. 717)

                                                                              

Wohlgemerkt: Die Schätzung gilt nur unter der einfachen Voraussetzung, daß sich die Proteine in einem geschlossenen Reaktionssystem bilden, welches rasch das thermodynamische Gleichgewicht anstrebt. Rahmenbedingungen, wie sie in komplexen, lebenden Organismen (oder allgemeiner: in thermodynamisch offenen Systemen, wie etwa einer "Ursuppe") herrschen und das Regime des Zufalls weiter einengen, können in solchen Experimenten nicht berücksichtigt werden (daher hat auch der Hinweis auf die Limitierung von "MILLER-Experimenten" nur wenig Gewicht).

Wie schnell insbesondere die Rolle der Selektion aus evolutionären Betrachtungen verschwindet, zeigt BLEULERs Kommentar hinsichtlich der Evolution des Wirbeltierauges:

"[Wenn jeweils] zufällige Variation die Ursache war, so mußten entstehen 1. eine nervöse Retina, 2. das Pigment, das irgendwie die Übertragung des Lichtreizes auf die Nervenenden ermöglicht oder sonst eine notwendige Rolle spielt, 3. eine durchsichtige und optisch glatte Haut, 4. eine Konvexlinse, 5. ein durchsichtiger Körper, der die notwendige Distanz zwischen Linse und Retina ausfüllt (...) Nun müssen die Organe aber in bestimmter Reihenfolge hintereinander liegen (...) Die Cornea darf natürlich nur an der vorderen Oberfläche liegen, und auch daselbst sind nur eine oder ganz wenige Stellen geeignet (...) Die drei optischen Organe, Cornea, Linse und Glaskörper, müssen außerdem sehr gut zentriert sein (...) Die Zentrierung muß aber auch winkelrecht sein (...) Es ist leicht abzusehen, daß solche Umstände die Wahrscheinlichkeit eines Zufalls auf unendlich nahe an Null herabsetzen."

(BLEULER, zitiert nach LÖNNIG 1989, S. 6-8)

                                                                                  

Doch niemand behauptet, daß ein solches Organ zufällig, in einem Schritt und im optimalen Zustand entsteht. Wollte man eine Betrachtung anstellen, die mit Evolution noch irgend etwas zu tun hat, müßte die Art und Weise, wie Funktionalität entsteht, völlig anders besprochen werden. Zunächst ist ein Mechanismus anzugeben, der im Genbestand Variationen erzeugt. Dann muß irgendeine Selektionsbedingung formuliert werden, die jede noch so kleine positive Veränderung fixiert. Diese Schritte sind solange von Generation zu Generation zu wiederholen, bis eine hinreichend komplexe und angepaßte Struktur entstanden ist. Dabei steht wie betont keineswegs fest, was entstehen soll, noch muß dies schlagartig geschehen; doch nur unter der Voraussetzung, daß ein vorgegebenes Ziel (wiederholt zufällig) erreicht werden muß, läßt sich über Wahrscheinlichkeiten sinnvoll diskutieren (v. DITFURTH a.a.O.). Im übrigen wurde gerade am Beispiel des Wirbeltierauges erklärt, wie die verschiedenen Augentypen unter Berücksichtigung von Doppelfunktionen in kleinen selektionspositiven Umwandlungsschritten sukzessive umgebaut wurden (und auch ein suboptimales Auge ist besser als gar kein Auge), so daß BLEULERs Voraussetzungen nichts mit der Realität gemein haben (vgl. VOLLMER 1986, S. 24-29).

Die oftmals an solchen Erklärungen der Synthetischen Evolution geübte Kritik, es handele sich hierbei nur um "lineare Vereinfachungen", ist insofern berechtigt, als daß sie tatsächlich nur Teilstrukturen eines Organs berücksichtigen, nicht jedoch die synorganisierte Entstehung und kooperative Entwicklung ganzer Organe, Organsysteme und Gennetzwerke verständlich machen. Ungeachtet der Tatsache, daß "Simplifikationen" in der Wissenschaft die Regel und nicht notwendigerweise falsch sind (mechanismische Erklärungen haben je nach Theorie immer unterschiedliche "Tiefen" und sind deshalb stets mehr oder minder simplistisch), enthält der Einwand einen Widerspruch, der darin besteht, daß unter Berücksichtigung ganzer Organsysteme nicht nur die Erklärungen der Evolutionsbiologen, sondern auch die linear vereinfachten Voraussetzungen, unter denen im Kreationismus Evolution besprochen wird, bedeutungslos werden.

Versucht man, wie dies beispielsweise RIEDL (1990) getan hat, dem systemischen Aspekt Rechnung zu tragen, ergeben sich für das Mutationsgeschehen ganz neue Konsequenzen: Wenn das Zusammenspiel der Strukturgene durch Regulatorgene gesteuert wird und die Gene zu einem komplexen System verkoppelt sind, hat dies zwar zur Folge, daß die Mutationen "Folgelasten" mit sich bringen, so daß die Zahl möglicher Anpassungen rapide abnimmt und der "selektive Ausschuß" wächst. Dies ist die eine Konsequenz, die im Kreationismus als Beleg für die Unwahrscheinlichkeit "makroevolutionärer" Umwandlungen herhalten muß (etwa bei LÖNNIG 1989). Doch die andere Konzequenz wird geflissentlich übergangen, daß nämlich das Evolutionsgeschehen immer mehr dem Regime des Zufalls entzogen wird, wenn eine Mutation (am Regulatorgen) das Zusammenspiel aller untergeordneten Gene gleichzeitig verändert. Die einzelnen Strukturen, die beim Aufbau der Organsysteme beteiligt sind, müßten folglich nicht mehr "warten", bis die anderen "richtig" mutieren. Man könnte sagen, die "Loszahl" der möglichen Mutationen wird durch Kopplung verringert, so wie die Zahl möglicher Würfelwurfkombinationen durch Verkleben mehrerer Würfel verringert wird. Somit erhöht sich die Trefferchance für eine günstige Mutation immens, und der Umbau verläuft streckenweise in vorgegebenen Bahnen, wodurch auch Konvergenzbildungen verständlich werden (RIEDL 1990, S. 352 f.; 2003, S. 202-206). (3)

Man sieht, daß die eine Konsequenz nicht ohne die andere zu haben ist: Der Abbau der möglichen Anpassungsrichtungen wird durch den Aufbau der Anpassungschancen kompensiert. Wer also beständig das "Synorganisationsproblem" und die damit verbundenen Bürden, evolutionären Beschränkungen und Rekurrenzerscheinungen wiederholt, kann nicht zu linearen Szenarien zurückkehren, sobald sich die Frage nach der Trefferchance günstiger Mutationen stellt. Doch wie könnten die Genkopplungen historisch überhaupt entstanden sein? In der Systemtheorie der Evolution wird davon ausgegangen, daß zunächst ein Strukturgen unter ein Regulatorgen verschaltet wurde. Beginnt man also mit einem solchen "Hauptschalter" und Strukturgen, könnten schrittweise weitere Gene unter die Kontrolle dieses Regulatorgens gebracht und "ausprobiert" worden sein, ob sich die Funktionen verbesserten (GEHRING und IKEO 1999). Heute ist man im Falle des Komplexauges bei Drosophila bei 2500 Genen angelangt, die unter der Kontrolle des Pax6-Regulatorgens ausgeprägt werden. (4)

Wie man auch immer zu den empirisch noch nicht vollends ausgetesteten Modellen der Systemtheorie der Evolution stehen mag, sie machen deutlich, daß ohne die genaue Kenntnis der relevanten Gesetze und Randbedingungen keine Wahrscheinlichkeitsanalyse angestellt und schon gar nicht die "Widerlegung" der Evolutionstheorie behauptet werden kann (Fast als einzige Kritiker distanzieren sich JUNKER und SCHERER von solchen Widerlegungsabsichten, ja selbst von den naiveren Rechnungen im Stile BLEULERs, LÖNNIGs und VOLLMERTs wohltuend). Denn:

"Wer heute behauptet, das Problem des Ursprungs des Lebens auf unserem Planeten sei gelöst, sagt mehr, als er wissen kann. Doch um wieviel mehr müßte der wissen, der die Gegenbehauptung aufstellt und uns einreden will, daß Leben auf natürliche Weise (...) nicht entstehen konnte. Er müßte nicht nur sämliche Bedingungen kennen, unter denen Leben möglicherweise entsteht, er muß auch beweisen, daß gerade diese unter all den möglichen Bedingungen der frühen Erde nicht realisierbar waren (...) Ein einziges Gegenbeispiel - und davon gibt es heute bereits viele in Form von Laboratoriumsexperimenten - kann seine Behauptung zu Fall bringen."

(EIGEN 1983, S. 69)

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Fußnoten:

(1) Diese Hypothese ist unter dem Begriff "nichtreduzierbare Komplexität" geläufig und zweifelhaft, weil sie ein empirisches Wissen vorgibt, das derzeit nicht existiert. Die Behauptung, daß zur Bildung des Bakterienmotors unzählige, passgenau aufeinander abgestimmte Mutationen gleichzeitig aufgetreten sein müßten, weil jeder Zwischenschritt nur zu einem "unfertigen" und deshalb nutzlosen Motor führen könnte, beruht nicht auf der Kenntnis,  DASS der Motor nur mit einer astronomischen Unwahrscheinlichkeit über Zwischenstufen entstanden sein konnte. Die Aussage basiert umgekehrt auf der Unkenntnis, über WELCHE Zwischenschritte und -funktionen der Motor entstanden sein könnte. Damit ist die Wahrscheinlichkeitsrechnung obsolet, denn es muß zuvor geklärt werden, ob sich die Proteine des "Bakterienmotors" nicht auch unabhängig voneinander entwickelt haben konnten, indem sie z. B. ursprünglich im Dienste ganz anderer, verschiedener Funktionen standen und Mehrfachfunktionen erfüllten, bei denen der Motor infolge der langfristig positiven Bewertung der anderen Funktionen ganz nebenbei zur Funktionsreife gelangte. Die Existenz solcher Mehrfachfunktionen ist immerhin eine Tatsache in der Phylogenese (Beispiele nennt VOLLMER 1986, S. 24-29). Brisanterweise wurden alle relevanten Strukturelemente des Bakterienmotors auch bei Merkmalen mit anderen Funktionen gefunden (HEUCK 1998), so daß für eine "nichtreduzierbare Komplexität" empirisch gar nichts spricht. Der Terminus ist ein "Platzhalter", der seine suggestive Kraft aus dem Geheimnis schöpft, also nur solange "funktioniert", bis die Forschung ein System durchdacht hat.

(2) Besäßen die Voraussetzungen, die LÖNNIG seiner oben genannten Wahrscheinlichkeitsberechnung zugrundegelegt hat, auch nur annähernd Relevanz, müßte im Hinblick auf das Ergebnis von KEEFE und SZOSTAK jetzt folgende Rechnung aufgemacht werden: Bei einem der evolutionär erzeugten Funktionsproteine bilden 45 der insgesamt 80 Aminosäuren das "aktive Zentrum". Die Bildewahrscheinlichkeit beträgt demnach 1 : 2045, also ungefähr 10-60. Die Bildung des ATP-bindenden Proteins wäre also unter den LÖNNIGschen Voraussetzungen noch zehnbilliarden mal (!) unwahrscheinlicher als die Entstehung des Cytochrom c! Hätten die Forscher die Ozeane der Erde mit einem Gemisch aus lauter unterschiedlichen Proteinmolekülen gesättigt und die Prozedur in jeder Sekunde (!) seit Bestehen des Kosmos  (14 Milliarden Jahren) unter völlig neuen Startbedingungen wiederholt, könnten sie guter Hoffnung sein,  zum gegenwärtigen Zeitpunkt gerade einmal "ein Polypeptid mit 45 konstanten Positionen" zu finden. Im Experiment wurden jedoch gleich mehrere Proteinfamilien entdeckt und damit die Voraussetzungen der Kreationisten als bedeutungslos (wenn man so will: als "Glaubensinvestitionen ohne Kongruenz mit der Realität") enttarnt, sofern man nicht auch glauben will, daß just für das Experiment der "gezielt-intelligente" Eingriff transnaturaler Wesen notwendig war.    

(3) Der Begriff "immens" ist natürlich in Relation zu den astronomischen Unwahrscheinlichkeiten der Evolutionsgegner zu verstehen. Die Evolution brauchte trotz allem noch Millionen von Jahren Zeit. Der von LÖNNIG (1991) unterbreitete Vorschlag, die Theorie etwa durch eine Erhöhung der Mutationsrate im Labor zu testen, ist insofern illusorisch, als daß ein solches "Bombardement" bald zu einer "Auflösung" der genetischen Information führen würde, weil meist mehrere Gene gleichzeitig von schädlichen Mutationen betroffen wären. Und Experimente mit moderat gesteigerten Mutationsraten würden mindestens Jahrtausende dauern. Im übrigen dürften geeignete Selektionsmethoden fehlen, um "künstliche Typen" zu erzeugen, die nicht bald aufgrund der fortlaufenden Summierung unsichtbarer Gendefekte letal geschädigt wären.

(4) Und dann müssen nicht, wie VOLLMERT (1982, S. 92-99) vorgibt, "ohne Zwischentest" gleich dutzende, hunderte (er spricht allen Ernstes gar von millionen!) passender Gene entstanden sein, womit seine Berechnungen alles in den Schatten stellen, was jemals an Unwahrscheinlichkeiten behauptet worden ist. Wenn VOLLMERT behauptet, daß die Entstehung einzelner Gene nicht der Selektion unterliegen könne, ignoriert er alles, was wir bereits heute etwa über die Auswirkungen genetischer Veränderungen, Pleiotropie oder Entwicklungsbiologie wissen. Auch mehrstufige Stoffwechselprozesse müssen nicht notwendigerweise in einem Schritt entstanden sein. Denn Teilreaktionen solcher Prozesse findet man noch heute, wie z. B. die hemifermentative Milchsäuregärung als Teil des Pentosephosphatcyclus, der Pentosephosphatcyclus als möglicher Vorläufer des reduktiven Calvin-Cyclus (der bei der Photosynthese eine Rolle spielt) oder letzteren als möglicher Vorläufer des Krebscylus (KÄMPFE 1992, S. 222-230). Solange nicht klar ist, inwieweit es den Urorganismen gelungen sein könnte, nach dem Aufbrauchen bestimmter Nährstoffe Schritt um Schritt auf andere Verbindungen zurückzugreifen, aus denen sie hergestellt werden können, bis schließlich eine Reaktionskette vorlag, sind VOLLMERTs Thesen Makulatur.                                                                                                                                                                                          

   

Copyright by Martin Neukamm, 30.08.2000             Alle Rechte vorbehalten.                          GOWEBCounter by INLINE

Dritte, überarbeitete Fassung, (c) 16.01.2004