Martin Neukamm (2003):

Methoden der Meinungsmanipulation im Kreationismus (1)

Über ein Lehrstück kreationistischer Agitationskunst: den Film "Gott würfelt nicht" von F. POPPENBERG

                                      

Rezension

Der Evolutionsgegner und Filmemacher Fritz POPPENBERG hat im Jahr 2001 ein neues Video mit dem Titel "Gott würfelt nicht" auf dem Markt gebracht, das sich überraschenderweise nicht damit begnügt, die Abstammungslehre in der sonst üblichen Form (unter Verweis auf vermeintliche Schwachstellen der Theorie) anzuzweifeln. Um es vorwegzunehmen: Die Hoffnung auf eine überwiegend faire und kompetente Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie wird nicht erfüllt. Sachlich fundierte Einwände sind eher die Ausnahme, denn POPPENBERG will mehr: Der Untertitel ("Über den erbitterten Kampf zwischen Wissenschaft und Ideologie") läßt erahnen, daß es darum geht, die Evolutionstheorie förmlich aus den Naturwissenschaften herauszubrechen, ihr den Stempel der Ideologie aufzudrücken und den Eindruck zu erwecken, als stünde sie im Widerspruch zu allen innerweltlichen Prinzipien, die die Wissenschaft bis heute aufgedeckt hat. Um dieses Ziel zu erreichen, wird über weite Strecken ein Zerrbild skizziert, das mit den Realitäten wenig zu tun hat und derart mit Polemik und okkulten Deutungen verquickt ist, daß die teilweise sachlich gestellten Fragen fast zur Bedeutungslosigkeit herabsinken.

Bereits der Titel kündet an, welche Botschaft der Film transportieren soll: Der Lauf der Welt wird von der makrokosmischen bis hinab zur subatomaren Ebene durch deterministische Gesetze bestimmt. Alles ist berechenbar, planmäßig angelegt, "reine Mathematik"! Diese wird nicht nur als abstrakte Formelsprache der Wissenschaft verstanden, sondern als reale Entität, die von Gott in die Welt gebracht worden ist. So steht für den Chemiker PLICHTA, der sich der Zahlenmystik verschrieben hat, außer Frage, daß der Aufbau der Materie, der Atomzerfall, das Periodensystem der Elemente - wie praktisch alles, was man in der Natur findet - von der Existenz eines Schöpfungsplans zeuge, der sich uns in Gestalt göttlicher "Primzahlenkreuze" offenbare. Selbst hinter zufälligen Quantenprozessen, wie dem radioaktiven Zerfall, wird ein verborgener Determinismus vermutet, der auf Gott schließen läßt. (Sicher ist jedoch: Jede Zahl, Ereigniskonstellation und Gesetzmäßigkeit läßt sich in Gestalt "göttlicher Formeln" beschreiben. Man muß nur danach "suchen" und wird mit viel Phantasie eine göttliche Absicht "entdecken"; eine Deutuing, die niemand wissenschaftlich widerlegen kann!)

Was hier nach einer obskuren aber scheinbar harmlosen Spekulation aussieht, entpuppt sich beim näheren Hinsehen als harter Wissenschaftsrevisionismus, denn die fundamentalistischen Glaubenspositionen des Filmemachers werden kurzerhand zum philosophischen Wertekanon der Naturwissenschaften umdefiniert. Unter Bezugnahme auf die deterministischen Gesetze von KEPLER und NEWTON wird das Bild vermittelt, daß das "eigentliche" Ziel der Wissenschaft darin bestünde, den Zufall im Universum loszuwerden und nach "planmäßigen" Gesetzen zu suchen. Auch der religiöse Bezug beider Wissenschaftler soll den Zuschauer davon überzeugen, daß die modernen Wissenschaften Gott als wissenschaftliche Heuristik gebrauchen. Und natürlich wird er auch als metaphysisches Prinzip vorausgesetzt. Muß also nicht jeder Wissenschaftler, der eine materialistische Ontologie vertritt, unweigerlich zum Pfuscher werden? Wer sich den Film anschaut, gewinnt diesen Eindruck, womit bereits alle Voraussetzungen erfüllt sind, um die Evolutionstheorie "wissenschaftlich" in Verruf zu bringen. So will GITT in unserer Erde den Beweis für ein "auf den Menschen planmäßig zurechtgeschneidertes Planetensystem" sehen (und reduziert damit die übrigen 1022 Sonnen zu Statisten in einem Weltspektakel, das nur auf die Ankunft des Menschen "gewartet" hatte). Im Kontrast dazu weist SCHERER auf den "blinden Zufall" in der Evolution hin, der die "Genialität" göttlicher Planung durchkreuzt, keinen Gesetzen folgt und somit weder mit den POPPENBERGschen Prinzipien der "Wissenschaftsphilosophie" harmoniert, noch zur Beschreibung der kausaldeterministisch strukturierten Welt taugt. Es reicht also nicht, die "Zufallstheorie" sachlich zu kritisieren, man muß den Zufall mit GITT und PLICHTA förmlich aus dem Universum hinausdefinieren. Sind solch anthropozentrische Schöpfungsvorstellungen also die Grundlagen der "wahren" Wissenschaften, naturalistische Entstehungstheorien dagegen bloße Ideologie?

Den Leiter des Ernst-Haeckel-Hauses, Prof. Dr. Dr. BREIDBACH hört man sagen, in der Evolutionsbiologie werde die Natur selbst zu Gott, die Planmäßigkeit des Schöpfers durch Selbstorganisation der Materie ersetzt. Was der Wissenschaftler damit zum Ausdruck bringen wollte ist, daß mythisch-religiöse Glaubensvorstellungen aus dem Wertekanon der in der Renaissance konzipierten Naturwissenschaften herausgehalten wurden, weil man erkannt hatte, daß der Naturalismus als Grundlage wissenschaftlichen Arbeitens methodologisch erzwungen wird, wenn man überhaupt zu prüfbaren Aussagen und Erklärungen gelangen will. (Auch KEPLER und NEWTON, PLANCK und EINSTEIN waren keine Ausnahme, in keiner ihrer Gleichungen tauchen übernatürliche Faktoren auf). Doch das BREIDBACH-Interview wurde derart zusammengeschnitten und in den Film eingebettet, daß der Zuschauer den Eindruck gewinnt, als seien jetzt umgekehrt der Naturalismus und die Evolutionstheorie Glaubensprämissen, Ideologien beliebiger Setzung, die Gott und alle "planmäßigen Gesetze" der Wissenschaften vom Tisch fegten. Der Film zeigt anschaulich, wie durch den Gebrauch kruder Rabulistik wissenschaftstheoretische Zusammenhänge auf den Kopf gestellt werden können.

Doch auch die Polarisierung zwischen der vermeintlich deterministischen Welt und dem "blinden Zufall" der Evolution ist wissenschaftlich verquer und gerät zu einem zentralen Widerspruch der ganzen Argumentation: Auf der einen Seite wird generös verschwiegen, daß gerade die Selektion sowie die Systembedingungen der Evolution einen Ordnungsrahmen bereitstellen, der in den Zufall eingreift und den Prozeß zumindest streckenweise in determinierte Bahnen lenkt. Die Überbetonung des Zufalls ist eine polemische Aufbauschung; ein Pappkamerad, der zur Zielscheibe erhoben und unter Gebrauch skurriler Argumentationsfiguren flüchtig demontiert wird. SCHERER resümmiert, daß die natürliche Entstehung von Leben unvorstellbar sei, denn auch der Film wäre durch den blinden Zufall nicht entstanden. Richtig! Das hat wohl auch nie jemand so behauptet. Doch aufgrund der in der Evolution stattfindenden Vererbungs- und Selektionsprozesse vergleicht SCHERER Unvergleichbares, so daß der Vergleich zu einer Tautologie gerät: "Konstruktionen haben einen planvoll handelnden Konstrukteur." Das ist natürlich völlig trivial. Daß aber Biosysteme, die völlig andere Eigenschaften besitzen als technische Konstrukte, Konstruktionen sind, können solche Vergleiche nicht plausibel machen.

Andererseits entspricht es auch einer allgemein anerkannten Tatsache, daß sich selbst geordnete Systeme indeterministisch verhalten können. Es sei ja nur darauf hingewiesen, daß bereits POINCARÉ das Versagen der NEWTONschen Gleichungen bei der Beschreibung einfacher Dreikörpersysteme vorausgesehen hat. Alle Bereiche der Forschung und selbst der profane Alltag führen vor Augen, daß sich komplexe Systeme nicht reproduzierbar verhalten, beim Überschreiten von Schwellenwerten neuen Attraktoren folgen und nichtvorhersagbar zwischen geordneten und chaotischen Regime hin- und herwechseln können. Kurz: In der Evolution gibt es determinierte Ordnung und den Zufall - wie in allen anderen Bereichen der Wirklichkeit auch. Was folgt daraus für die Argumentation? Es bleiben nur zwei konsistente Möglichkeiten: Wer beschlossen hat, die Evolutionstheorie aufgrund der Unvorhersagbarkeit, Nichtreproduzierbarkeit und Zufälligkeit der von ihr postulierten Prozesse zur Ideologie zu erklären, der muß auch alle anderen Theorien und Gesetze, in welchen indeterministische Ereignisse und Nichtlinearitäten eine Rolle spielen, für unwissenschaftliche Thesengebäude halten - mit dem Ergebnis, daß wir alle Wissenschaften abschreiben könnten. Wer aber ausgerechnet die Quantenmechanik mit einem "verborgenen Determinismus" ausstaffiert, um ihre "Wissenschaftlichkeit" zu wahren, der kann nicht plötzlich die Evolutionstheorie aufgrund ihrer Zufallskomponente aus den Wissenschaften heraushalten. Das ist ganz klar inkonsistent und zeugt nur von ideologischer Voreingenommenheit. (Allerdings scheitert die Hoffnung, auf der Quantenebene eine "Planmäßigkeit" zu finden, an der berühmten Ungleichung von BELL. Die Wissenschaft würde in heutiger Form aufhören zu existieren, wenn sie Realität wäre.)

Im Film werden eine Reihe weiterer Strohmänner präsentiert. Beispielsweise wird die Evolution als blutig-brachialer Konkurrenzkampf ums Dasein beschreiben. SCHERER stellt fest, der Kampf ums Dasein erkläre nicht, warum es Kooperation, Sozialverhalten und Nächstenliebe gibt. Ärgerlich ist nur, daß solch eine Prämisse niemand aufstellt, denn auch und gerade altruistische, kooperative Verhaltenweisen werden von der Selektion belohnt, und der "Überlebenskampf" wird zwischen den Artgenossen meist unblutig (oft sogar ohne deren Wissen) ausgetragen. Auch die Perfidie, mit der die Evolutionslehre als Wegbereiter des Nationalsozialismus und Stalinismus herhalten muß, sorgt für Verdruß. Natürlich haben die Nazis und Bolschewisten die Evolutionstheorie mißbraucht, ihre Postulate entstellt und in ihre Doktrin eingebunden. Ist deswegen die Evolutionstheorie falsch? Bekannterweise wurden auch Evolutionsbiologen verfolgt, die den vorgegebenen Wissenschaftsauffassungen totalitärer Systeme (wie zum Beispiel dem "Lyssenkoismus") widersprochen haben. Und schließlich hat doch Gott die Selektion (die "Ausmerze" des weniger Tüchtigen in der "Mikroevolution") höchstselbst in die Welt gebracht, wenn man der Schöpfungslehre glauben schenken mag. Ergo hat nicht die Evolutionsbiologie, sondern Gott den Nazi-Verbrechen den Weg geebnet, deretwegen die Bibel "ihre Unschuld verloren" hat - wie dies im Film von der Evolutionstheorie behauptet wird? Ferner könnte das polemisch ins Bild gerückte Gräberfeld problemlos auch diejenigen Gräuel repräsentieren, die im Namen der Bibel begangen wurden. Man sieht: Poppenberg legt sich das perfide Argument durch die Hintertür selbst in Gestalt des Theodizee-Problems auf den Tisch. Emotionale Appelle sind an Stellen, wo eigentlich Sachargumente angebracht wären, ganz klar ein Merkmal pseudowissenschaftlicher Argumentation.

Auch im nächsten Beispiel wird mit solch rhetorischen Stilmitteln gearbeitet. LÖNNIG hört man zunächst sagen, daß die Evolutionsbiologie lange Zeit einer falschen Vererbungstheorie anhing. (Offenbar soll die Betonung historischer Irrtümer vergessen machen, daß sich die Evolutionstheorie längst über ihr ursprüngliches Niveau hinausentwickelt hat.) MENDEL habe ferner anhand der Spaltungsregel die Konstanz der Erbeinheiten bewiesen und darüber hinaus die "besseren Argumente" gehabt, weil er sich auf Experimente berufen konnte, die den Darwinismus widerlegt hätten. Und dann folgt wieder der emotionale Appell: Mit einer dramatischen Intonierung wird beschrieben, wie die Darwinisten die experimentellen "Tatsachen" der Mendelisten brutal verhindert und sich, wie LÖNNIG behauptet, in einer "pseudowissenschaftlichen Sackgasse" verrannt hätten. Das ist nun wirklich starker Tobak! In Wahrheit wurde der Konstanzgedanke von den meisten Mendelisten gar nicht mehr akzeptiert. De VRIES hat zwei "Haupttypen" von Kreuzungen unterschieden (solche "MENDELschen Typs" und sogenannte "unisexuelle Kreuzungen") und die erste Monographie über experimentell erzeugte Veränderungen überhaupt vorgelegt. CORRENS hielt die MENDEL-Regeln gar für unvollständig und bejahte rundweg DARWINs Deszendenzthese. Und für BATESON war die Variation als "wesentliches Phänomen der Evolution" schlichtweg eine Tatsache. Kontrovers diskutiert wurde lediglich über die Ursachen der Variation! Daß ferner die kritische Haltung der Darwinistischen "Biometrik-Schule" gegen die Mendelisten in Teilen durchaus begründet war (2), fällt ebenso der Propaganda zum Opfer, wie die Tatsache, daß MENDELs Lehre (welch Ironie der Geschichte!) dem "Darwinismus" erst zum Durchbruch verholfen hat.  

Werden, so wird sich der Leser fragen, überhaupt sachliche Argumente im Film genannt? SCHERER betont, daß die Experimente zur Urzeugungsfrage (MILLERs Versuch und abgewandelte Exerimente) nicht zur Entstehung von Leben geführt haben. Das ist zweifelsohne richtig. Doch wenn er den Schluß zieht, daß die Entstehung des Lebens "so nicht hatte stattfinden können", sagt er mehr, als er wissen kann, denn er müßte nicht nur sämliche Bedingungen kennen, unter denen Leben entstehen könnte, sondern auch beweisen, daß gerade diese nicht realisierbar waren. Es genügt ja nicht, die auf der heutigen Erde herrschenden oder durch eine simple Reaktionsapparatur vorgegebenen Randbedingungen eins-zu-eins auf die Urerde zu übertragen. (Das "Lückenbüßer-Argument" erstickt dabei von vorne herein jede weitere Forschung.) In enttäuschender Weise nimmt sich SCHERER auch des Themas der "Übergangsformen" an: So wird behauptet, daß kaum evolutionsrelevante Bindeglieder bekannt seien, da Fossilien "Merkmalsmosaike" aufweisen und nicht in allen Charakteren "zwischen" den zu überbrückenden Gruppen stehen. Die Tatsache etwa, daß jedes Fossil im Übergangsfeld zwischen den "Fischen" und Amphibien stets einer der beiden Gruppen zugerechnet werden kann, entwertet jedoch nicht, wie SCHERER behauptet, ihren Status als Übergangsform. Die Einsicht, daß Evolution nur mosaikartig verlaufen kann, hat MAYR den Kritikern bereits vor 35 Jahren ins Stammbuch geschrieben und gehört zum Grundverständnis der modernen Kladistik.

Der Einwand, daß Evolution über empirisch verfolgbare Zeiträume nur zu "mikroevolutiven Anpassungen" geführt habe, ist jedoch berechtigt. Doch enthält er auch ein wissenschaftliches Argument gegen "Makroevolution"? Das ist nicht der Fall, wenn man weiß, daß der Sinn von Naturwissenschaften gerade darin besteht, die Grenzen der Erfahrung zu überschreiten, um die rätselhaften Erscheinungen unter Rückgriff auf hypothetische, unbeobachtbare Elemente zu erklären. Letztlich ist nichts in dieser Welt sicher beweisbar; in der Wissenschaft kommt es nur darauf an, Erklärungen zu finden und diese empirisch bestmöglich (durch hypothetisches Schlußfolgern) abzusichern. In der Tat blieben ohne die Evolutionstheorie viele Phänomene unerklärt - die Biologie zerfiele in zusammenhanglose Fragmente. Das bedeutet keineswegs, daß nicht noch viele Probleme der Lösung harren. Doch die Flucht ins Mysterium des Übernatürlichen löst die Erklärungsprobleme der Wissenschaft nicht. Die Charaktere übernatürlicher Wesenheiten bleiben uns genauso rätselhaft, wie ihre Ratschlüsse, Wirkungsweisen und Zwänge. PLICHTAs nichtwiderlegbare Spekulationen stellen dies unter Beweis und zeigen, daß die Schöpferthese alles und nichts erklärt. Doch POPPENBERG behauptet, wenn sein Film im Hauptabendprogramm des Fernsehens ausgestrahlt würde, gäbe es eine "Erschütterung der Nation". Das mag wohl stimmen - weil der Film mehr über den mentalen Zustand des Filmemachers verrät, als über die Evolutionstheorie.

_______________________________________________

Fußnoten:

(1) Obgleich hier der zur Sprache kommende F. POPPENBERG offenbar nicht alle weltanschaulichen Positionen des Kreationismus (im engeren Sinne) teilt, weist seine Grundposition jedoch methodologische und weltanschauliche Züge auf, die auch für den Bibelkreationismus charakteristisch sind. Sein Film wird daher in Kreationistenkreisen gelobt und zum Kauf angeboten. Es sei jedoch mit Nachdruck betont, daß sich nicht alle Kreationisten derart aggressiver Vereinnahmungsstrategien bedienen. POPPENBERG und Konsorten sind sicher extreme Beispiele, die zeigen, welch bedenkliche Formen der Kampf gegen die Evolutionstheorie annehmen kann.       

(2) Bereits der Botaniker NÄGELI hielt MENDELs Ergebnisse für zu einfach und riet ihm zu weiteren Experimenten. MENDELs Idee, nicht das Gesamtbild von Individuen, sondern einzelne, getrennt vererbte Merkmale zu betrachten, muß eine geradezu fremdartige Vorstellung gewesen sein. PEARSON wies später auch darauf hin, daß es so etwas wie eine 'allgemeine Theorie Mendels' gar nicht gibt. Tatsächlich muß für fast jedes genetische Experiment eine spezielle Form der Vererbung angenommen werden - zu nennen sind beispielsweise die Unterscheidungen in dominante, rezessive oder lineare Gene. Ferner sind die Vererbungsregeln deskriptiver Natur, die keinen Bezug zu den ihnen zugrundeliegenden Kausalfaktoren herstellen. Desweiteren war die Mutationstheorie von de VRIES sehr spekulativ und basierte nur auf den Experimenten an einer einzigen Art (der Nachtkerze). Experimente an anderen Arten schob er mit der Behauptung beiseite, daß sie sich in "immutablen Perioden" befinden. Später wurde betont, daß MENDEL einige seiner Experimente "gestellt" haben müsse, weil die Ergebnisse zu nahe an den erwarteten Verhältnissen lagen. MENDEL hatte auch nie über Genkopplung berichtet, auf die er zwangsläufig hätte stoßen müssen. (*)

Die Darwinismus-Kontroverse hat überhaupt zur Entwicklung der Populationgenetik geführt, so daß MENDELs Arbeiten ohne die Evolutionstheorie nur Stückwerk geblieben wären. So beschreibt der "Folgesatz" der Mendelschen Spaltungsregel lediglich idealisierte Populationen, die sich im ungestörten Gleichgewicht ("HARDY-WEINBERG-Equilibrium") befinden. Die Protagonisten der MENDEL-MORGAN-Schule mußten die Selektionstheorie wieder in die Genetik implementieren, MORGAN hatte seine selektionskritische Haltung in dem Werk "For Darwin" zurückgezogen. Ob MENDEL den "Darwinismus" so rigoros abgelehnt hat, wie oft behauptet wird, ist überhaupt eine ungeklärte Frage, die von den Historikern gar nicht einheitlich beantwortet wird (vgl. VOLLMANN und RUCKENBAUER 1997).

_______________________________________________

(*) Di Trocchio F (1991) Mendel's Experiments: A reinterpretation. Journal of the History of Biology 24, S. 485-519 --- Di Trocchio F (1994) Der große Schwindel, Betrug und Fälschung in der Wissenschaft. Aus dem Italienischen von Andreas Simon, Frankfurt --- Mühlenbein H (1995) Genetische Algorithmen und Evolutionstheorien - Auf der Suche nach verschollenen Schätzen. Der GMD-Spiegel 2'95, Sankt Augustin --- Novitski CE (1995) Another look at some of Mendel's results. J. Heredity 86, S. 62-66 --- Vollmann J, Ruckenbauer P (1997) Von Gregor Mendel zur Molekulargenetik in der Pflanzenzüchtung - ein Überblick. Die Bodenkultur/Austrian Journal of Agricultural Research 48, S. 53-65 (auch im Internet: http://ipp.boku.ac.at/pz/mendel/men_vo.htm).                                             

       

(c) by Martin Neukamm, 01.12.02          Last update: 18.01.2003            GOWEBCounter by INLINE