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VI. Die Struktur der Argumentation im Antievolutionismus

                            

Nachdem wir in den vorangegangenen Kapiteln die gängigsten Argumente des Antievolutionismus nach verschiedenen Themengebieten geordnet und besprochen haben, wollen wir uns nun solchen Kritikpunkten zuwenden, die sich hinsichtlich ihrer logischen Mängel und des Einsatzes rhetorischer Stilmittel systematisieren lassen. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, bedienen sich Kreationisten nicht selten effektvoller Stilelemente, die rhetorisch geschickt eingesetzt werden, um sich manches Argument zu ersparen oder typische Evolutionsindizien in Belege für die Schöpfungsthese umzukehren.    

                                                                                           

1. Fehlerhafte Analogieschlüsse

Um die Plausibilität von Schöpfung effektvoll zu unterstreichen, wird im Antievolutionismus meist mit Analogieschlüssen gearbeitet. Unter einem Analogieschluß versteht man die Veranschaulichung eines komplizierten Sachverhalts durch den modellhaften Vergleich mit einfacheren und besser bekannten Zusammenhängen. Um sie in der Wissenschaft jedoch logisch konsistent einsetzen zu können, müssen einige Voraussetzungen beachtet werden. So sind derartige Vergleiche beispielsweise nur dann zulässig, wenn der analoge Sachverhalt in den für den Gedankengang relevanten Punkten tatsächlich mit dem zu erklärenden Sachverhalt übereinstimmt. Außerdem ist ein solcher Analogieschluß nie als streng logischer Beweis für die Richtigkeit einer vertretenen These aufzufassen.

                                                                                  

1.1 Die Frage nach dem Konstrukteur von Biosystemen

Die Analogien, welche im Kreationismus bemüht werden, bestehen nun darin, anhand der Zweck- und Planmäßigkeit zivilisatorischer Konstrukte und Texte auf eine ebenso planmäßige Konstruktion von Biosystemen zu schließen. In die Strukturen der belebten Welt wird dadurch eine semantische Information bzw. eine Bedeutung ("intelligent message") hineininterpretiert, das heißt auf einen zielgerichteten Schöpfungsakt geschlossen. Es wird mit anderen Worten folgendermaßen argumentiert: "Weil Komplexität und Schönheit in der Technik stets ein planvolles Handeln vorausging, muß dasselbe Prinzip auch der belebten Welt zugrundeliegen."

So schreibt beispielsweise MEYER:

"Similarly, the specified complexity or information content of DNA and proteins implicates a prior intelligent cause, because specified complexity and high information content constitute a distinctive hallmark (or signature) of intelligence. Indeed, in all cases where we know the causal origin of high information content or specified complexity, experience has shown that intelligent design played a causal role."

(MEYER, 2001)     

                                               

Auch LÖNNIG will zeigen, weshalb im Vergleich von technischen Konstrukten mit lebenden Biosystemen auf einen intelligenten Schöpfer zu schließen sei:                   

"Nehmen wir einmal an, ein mit Weißen noch nicht in Berührung gekommener Eingeborenenstamm, der bislang in allen möglichen Bereichen seines Lebens 'übernatürliche Kräfte' als Erklärung von Ereignissen angenommen hat, stellt bei näherer Untersuchung immer wieder fest, dass solche Ereignisse eine 'ganz natürliche' Erklärung finden können (...) Unser Eingeborenenstamm entdeckt nach kurzer Zeit (einen Hubschrauber) und steht nun vor dem Rätsel seiner Herkunft. An diesem Punkt wird nun die Verabsolutierung, dass nämlich 'alles' nach den bekannten Naturgesetzen erklärt werden kann und muss, zu einem wahrscheinlich nicht ganz der Komik entbehrenden Irrweg."

(LÖNNIG, 1986

                                                            

Solche Analogien sind jedoch aus mehreren Gründen fragwürdig: Erstens ist nun gerade der Vergleich von zur Selbstorganisation fähigen biochemischen und biologischen Systemen mit technischen Konstruktionen, wie Hubschraubern, Computern und dergleichen unzulässig, weil die für den Gedankengang einzig relevanten physico-chemischen Eigenschaften und Merkmale der hier betrachteten Erkenntnisgegenstände völlig verschieden sind. Evolutionsfähige, hochfunktionale und selbstorganisierende Systeme können sich nur auf Kohlenstoffbasis bilden, weshalb die natürliche Entstehung von Computern, Uhren, Robotern und Texten und selbst die "natürliche" Bildung ihrer Bauteile ausgeschlossen werden kann. Wir wissen aber aus Simulationsversuchen, daß biotische Klein- und Makromoleküle auf der Grundlage physico-chemischer Gesetze entstehen und in funktionalen Systemen miteinander interagieren können. Insbesondere kommen die emergenten Eigenschaften lebendiger Systeme, wie die Fähigkeit zur Selbstorganisation und Autoreplikation, Mutabilität sowie der Unterhalt eines Stoffwechsels Werkzeugen, Maschinen und Sprachen eben nicht zu, wodurch jede Analogie wertlos wird (KITCHER, 1982, S. 94 f.; MAHNER, 1986, S. 75).

Zweitens ist die Ausdehnung der technischen Informationsterminologie auf belebte Systeme fragwürdig, weil Kreationisten damit funktionale Biosysteme mit einer "biotic message" gleich - und damit eine Bedeutung bereits voraussetzen. Information - im Sinne von "Bedeutung" - ist ein semantischer Begriff, der einen "Sender" sowie einen "Empfänger" und damit "Wissen" in hochevolvierten Gehirnen voraussetzt. Ein Buch, das keiner liest oder lesen kann, trägt genauso wenig eine "Information" oder eine "Bedeutung", wie ein materielles Biosystem - letzteres ist bestenfalls funktional, angepaßt oder niederentropisch. Damit endet das Argument in einem logischen Zirkel: Das, was eigentlich schlüssig zu begründen wäre, nämlich daß Biosysteme eine "Bedeutung" besitzen, wird in Gestalt des technologischen Informationsbegriffs stillschweigend vorausgesetzt, wodurch ein schwerer Kategorienfehler entsteht, der zirkulär eine "Konstruktionsabsicht" zu begründen scheint (MAHNER und BUNGE, 2000).

Schließlich wird in solchen Analogieschlüssen die Apriori-Planmäßigkeit (Teleologie) von Artefakten mit der Aposteriori-Zweckmäßigkeit organischer Systeme (Teleonomie) verwechselt. Die Argumentation erinnert an den bekannten Kalauer zur Zeit der Schneeschmelze, in dem gefragt wird, woher der Schnee denn wisse, wo Schatten ist. Die Pointe besteht darin, daß sich der Schnee erfahrungsgemäß im Schatten länger hält als in der Sonne. Anders ausgedrückt: Es entstehen auf der Basis physikalischer Gesetzmäßigkeiten, durch selektive Kräfte (Wind, Regen, Wärme), aposteriori-zweckmäßige Strukturen in der verschneiten Landschaft. Jeder sieht ein, daß es hier unsinnig wäre, hinter der strukturellen Information "wo Schatten da Schnee" eine planmäßige Aktion des Schnees oder eines Schöpfers zu vermuten. Das Beispiel zeigt, daß im Vergleich zwischen kulturellen und evolutionären Entstehungsprozessen keinesfalls ohne weiteres auf gleiche Ursachen geschlossen werden darf.

                                                                            

1.1.1 Von "Konstruktionsmerkwürdigkeiten" und "Umwegentwicklungen"

Nichtsdestotrotz wird vielen Beispielen für hochfunktionale Baupläne in der Biologie, die in die Literatur eingang gefunden haben, im Antievolutionismus mit der Hinweis auf die Konstruktionsabsicht eines allwissenden und allmächtigen Designers begegnet.

HASS, 1979 hat jedoch am Beispiel des Urogenitalsystems der Vertebraten auf offensichtliche Konstruktionsmerkwürdigkeiten aufmerksam gemacht, die sich mit der "Superintelligenz" eines Schöpfers nur schwer erklären lassen (Beispiel nach MAHNER, 1986, S. 76). Während der Keimesentwicklung kommt es nämlich zu einer Reihe von Umwegentwicklungen mit dem Ergebnis, daß die Eizellen einen Weg vom Ovar zum Ostium tubae und Ovidukt zurückzulegen haben, der sich angesichts des Risikos von Bauchhöhlenschwangerschaften als potentiell lebensgefährlich herausstellt. Müßte man im Falle einer superintelligenten Planung nicht geradezu erwarten, daß solche Konstruktionsfehler schon während der Planung entdeckt und gar nicht erst begangen werden? Wozu wurde kein separater Ausführgang für die Keimdrüsen angelegt und auf Umwege, wie Kloakenbildung, ganz verzichtet?

Auf derartige Konstruktionsmerkwürdigkeiten stößt man allein bei der "Krone der Schöpfung" gleich dutzendfach. Dazu schreibt RIEDL:

"Das Heer der konstitutionellen Krankheiten ist die Folge: Schwindel, Bandscheiben- Schwäche, Leistenbruch, Hömorrhoiden, Krampfadern, Plattfüße. Ja, vieles ist überhaupt unreparierbar verbaut. Die Geburt erfolgt justament durch den einzigen nicht zu erweiternden Knochenring unseres Körpers, Samen- und Harnwege vereinigen sich, Luft- und Speisewege kreuzen sich."

(RIEDL, 1984)

                                                                

Ein anderes Beispiel: Während der Embryonalentwicklung des Mannes wandern die Hoden aus der Nierengegend in den Hodensack. FALLER, 1980 weist darauf hin, daß es, wenn dieser Abstieg der Hoden nicht erfolgt, zu Störungen in der Spermienreifung und zu herabgesetzter Fertilität kommt. MAHNER fragt zurecht, wie derartige Fehlkonstruktionen, uneleganten und zum Teil lebensgefährlichen Kuriositäten mit der Allmacht eines allwissenden und superintelligenten Designers vereinbar sein sollen: 

"Wozu sollte ein 'super-intelligenter Konstrukteur' die Testes einmal im Körper belassen, sie ein andermal in die eher gefährliche Lage eines Scrotums herabsteigen lassen? Wenn es unserem angenommenen Konstrukteur aber gefallen hat, z.B. die meisten Primaten mit einem Hodensack auszustatten, wäre es dann nicht unkomplizierter und eleganter, die dazugehörigen Hoden entstünden während der Ontogenese gleich in situ? Hierbei wäre auch ein kürzerer Weg des Samenleiters ausreichend."

(MAHNER, 1986, S. 78)

                                                                                                                 

Man kommt nicht umhin festzustellen, daß derartige Umständlichkeiten und strukturelle Defizite auf eine nichtplanmäßige Entwicklung hindeuten, ja evolutionstheoretisch gerade zu erwarten sind, weil beständig Kompromisse zwischen früher erfolgten Anpassungen und den sich ändernden Anforderungen eines sich wandelnden Lebensraumes eingegangen werden müssen. In dem durch das "Opportunitätsprinzip" gekennzeichneten Evolutionsgeschehen können Lebewesen schließlich nicht "wegen Umbau vorübergehend geschlossen" werden oder aber die Entwicklungen noch einmal "von vorne" begonnen werden, weil es sich um eine nichtintendierte Entwicklung handelt, die auf bereits vorhandene Strukturen aufbaut. Die Evolution ist daher gezwungen, alte Ressourcen bestmöglich zu nutzen, auch wenn dabei "irreparabel verbaute" Anpassungen zustande kommen. Vor diesem Problem dürfte ein "allwissender" und "allmächtiger" Designer jedoch zu keiner Zeit gestanden haben.

Nach all dem Gesagten ist es meines Erachtens offenkundig, daß solche unökonomischen Konstrukte nicht als Indizien für ein intelligentes Design taugen können.

                 


Die Planmäßigkeitsanalogie streicht - um mit MAHNER zu sprechen - unentwegt den Sinn in der Natur heraus, übersieht jedoch beständig den Unsinn.
               
       

Selbstverständlich kann man unter Verweis auf den "unergründbaren Ratschluß des Schöpfers", das heißt, unter Berufung auf ein ominöses Know-how des "Designers" beliebige "Konstruktionsfehler" wegerklären, was an dieser Stelle mit beharrlicher Regelmäßigkeit getan wird. Damit wird nun aber in aller Klarheit deutlich, daß es sich bei schöpfungstheoretischen Modellen nicht um wissenschaftliche Erklärungsansätze handelt, weil man mit ihnen grundsätzlich alle Konstruktionen erklären kann. Die Datenbasis kann also so kurios aussehen wie sie will, nichts widerspricht antievolutionistischen Schöpfungsvorstellungen. Damit ist klar, daß die Schöpferhypothese nicht empirisch geprüft und logisch falsifiziert werden kann, sondern nur als dogmatische Grundüberzeugung bestehen kann.

                            

2. Selektive Argumentation

Das Verschweigen von Erklärungen als rhetorisch-demagogisches Stilmittel

Eine gängige Methode der unlauteren Rhetorik besteht darin, Befunde und Forschungsergebnisse zu thematisieren, die als Probleme für der Evolutionstheorie interpretiert werden können und dann so zu tun, als sei der Befund evolutionsbiologisch noch nicht erklärt oder aber gar nicht erklärbar. Zwei beliebte Beispiele zur Unterschlagung von Erklärungen siedeln sich auf dem Felde der Biogeographie sowie der Stetigkeit von Merkmalen an, über die wir jetzt eingehender sprechen wollen:

                            

2.1 Die disjunkte Verbreitung vieler Arten

Unter Disjunktion versteht man die unzusammenhängende Beschränkung von Arten auf relativ enge geographische Verbreitungsgebiete. So sind beispielsweise Beuteltiere nur in der australischen Region endemisch sowie einige wenige Arten in der "neuen Welt". Verschiedene Antievolutionisten behaupten nun, dieses Phänomen sei für die Evolutionstheorie problematisch, wobei evolutionsbiologische Erklärungen naturgemäß verschwiegen werden.

Ein besonders drastisches Beispiel stellt in diesem Zusammenhang der Kommentar von SCHEVEN dar, der die disjunkte Verbreitung von Arten als für die Evolutionstheorie völlig unerklärlich ausgibt (SCHEVEN, 1982, S. 106 ff.). SCHEVEN unterschlägt die Kontinentaldrift als paläogeographische Erklärung total, obwohl ihm die Erklärung als Lehrer der Biologie und Geologie eigentlich geläufig sein müßte (MAHNER, 1986, S. 82). Doch es kommt noch besser: Er verschweigt nicht nur alle Belege zugunsten des evolutionstheoretischen Erklärungsansatzes, sondern gibt sie als Indizien für die Schöpfungstheorie aus, womit er die Belegsituation völlig auf den Kopf stellt.

Auch JUNKER und SCHERER widmen sich der disjunkten Verbreitung von Arten, erwähnen jedoch die Kontinentaldrifthypothese WEGENERs als Erklärung. Ihnen entgeht jedoch der Unterschied zwischen Neo- und Reliktendemismus, denn sie sprechen von Evolutionszentren in Bezug auf Endemismus allgemein:

"Die weltweite Verbreitung systematisch nächstverwandter, aber ökologisch spezialisierter Arten (...) spricht gegen eine allmähliche Ausbreitung von sog. Entwicklungszentren. Als Hinweis auf Entstehungszentren werden gewöhnlich Endemismen gewertet. Unter Einbeziehung fossiler Formen verlieren viele Endemismen aber ihre Beweiskraft. Beispielsweise sind die Krallenfrösche gegenwärtig in Afrika endemisch; fossile Krallenfrösche kennt man aber auch in Brasilien. Ohne deren Kenntnis könnte man Afrika also als Entstehungs- und Evolutionszentrum der Krallenfrösche ansehen. Im Rahmen des Evolutionsmodells schwer erklärlich ist die 'totale Disjunktion', d.h. über riesige Entfernungen unterbrochene Verbreitung einzelner Arten sowie ganzer Familien."

(JUNKER und SCHERER, 1998, S. 201)

                                                                                                                        

Hier ist eben zwischen Reliktendemismus und Neoendemismus zu unterscheiden: Bei Reliktendemismus handelt es sich um Restvorkommen einstmals weit verbreiteter Arten, von Neoendemismus spricht man bei jungen Spezies, die sich noch nicht über ihr Entwicklungszentrum hinaus ausgebreitet haben. Entsprechend können die Vorfahren von total-disjunkten Arten durchaus Kosmopoliten gewesen sein, deren Ausbreitung in kleinen Entwicklungszentren (Neoendemismus) ihren Ursprung nahm und die später bis auf spezifisch angepaßte Restbestände wieder verschwunden sind (wie etwa Brückenechsen, Lungenfische, Mammutbäume oder Kloakentiere). Viele biogeographische Indizien weisen die Reste einer ursprünglich weiterreichenden Verbreitung von Arten nach, deren rezente Vertreter heute als Reliktendemismus in Rückzugsgebieten die Überbleibsel oft sehr alter Gruppen sind. In diesem Sinne sind auch die erwähnten Krallenfrösche heute zwar in Afrika nicht neoendemisch, weil es auch in Brasilien fossile Formen gibt. Da der afrikanische und der südamerikanische Kontinent einst eine zusammenhängende Landmasse bildete, spricht jedoch nichts gegen ein Afrika als früheres Entwicklungszentrum der Krallenfrösche, wohingegen die afrikanischen Bestände Reliktendemismen verkörpern.

                                                                     

2.2 "Lebende Fossilien"

Im Tier- und Pflanzenreich existieren Arten, die sich im Laufe der Jahrmillionen nur wenig oder gar nicht mehr verändert haben. Arten, deren Merkmale sich durch eine enorme Stetigkeit auszeichnen, werden als "lebende Fossilien" bezeichnet. So sind beispielsweise die rezenten Skorpione von den erstmals vor etwa 400 Millionen Jahren im Devon aufgetretenen Spezies morphologisch kaum zu unterscheiden. Weitere Beispiele findet man in dem Quastenflosser Latimeria oder dem Fisch Lepisosteus, die beide den längst ausgestorbenen Primitivformen sehr ähnlich sind. 

LÖNNIG gibt nun aufgrund des evolutionstheoretischen Postulats, daß sich die Arten im Laufe der Zeit wandeln, den Fund hochkonservierter Baupläne und Arten als für die Evolutionstheorie "völlig unerwartet" aus, der rundweg dem Deszendenzgedanken widerspräche:

"Diese Konstanz steht im schärfsten Kontrast zu allen grundlegenden Erwartungen und Postulaten der Evolutionslehre ("alles fließt"), genauso wie die Konstanz der Baupläne und der lebenden Fossilien. Evolutionstheoretisch erwartet wurden auf allen Ebenen Veränderungen bis zur Unkenntlichkeit (denn nichts ist konstant, alles verändert sich und entwickelt sich ununterbrochen weiter)." (*)                      

(LÖNNIG, 1998)                      

                                              

Das Beispiel illustriert besonders anschaulich den Gebrauch solch fragwürdig rhetorischer Elemente in der antievolutionistischen Diskussion, die hier darin bestehen, daß LÖNNIG nicht nur die gängigen Erklärungen für die Stetigkeit der Typen rundweg negiert sondern Evolution als einen Prozeß der "bis zur Unkenntlichkeit" statthabenden Veränderung und des unaufhörlichen Flusses begriffen haben will, wodurch die Postulate der Evolutionstheorie natürlich völlig entstellt werden. Auf der Basis des so entstandenen Zerrbildes werden die Beobachtungen schließlich auch hier wieder in einem propagandistischen Kraftakt in Belege für die Schöpfungshypothese umgedeutet. 

Tatsächlich wird aber im Rahmen der Synthetischen Theorie der Evolution die Auffassung vertreten, daß morphologische Strukturen, die einen hohen adaptiven Wert besitzen, kaum mehr evolvieren können, ohne daß eine Verminderung der Fißneß die Folge wäre. Doch nichts lesen wir über stabilisierende Selektion bzw. über den Zusammenhang zwischen geringer Evolutionsgeschwindigkeit und der hohen funktionalen Bedeutung von Merkmalen (KUTSCHERA, 2001). Und nicht einmal in einem Halbsatz wird RIEDLs Theorie erwähnt, der als Erklärung für die Stetigkeit phylogenetisch alter Merkmale einen systemtheoretischen Mechanismus der schrittweisen Merkmalsfixierung vorgeschlagen hat (RIEDL, 1990, S. 218-225; HASZPRUNAR, 1994, S. 147 f.).

RIEDLs Werk ist LÖNNIG mit Sicherheit bekannt, denn die in ihm vorgestellten Probleme werden von LÖNNIG vielfach in den verschiedensten Texten zitiert. Umso mehr gewinnt der Umstand an Brisanz, daß die durchweg systemtheoretisch-evolutionstheoretischen Erklärungen völlig unterschlagen, die Datenbasis als für die Evolutionsbiologen "total unerklärlich" dahingestellt und die "schärfsten Kontraste" zwischen den Befunden und den "Postulaten der Evolutionslehre" behauptet werden.

           

Das Konzept der schrittweisen Merkmalsfixierung, welches "innere" Entwicklungsprinzipien berücksichtigt und sich nach Meinung vieler Evolutionsbiologen gut zur Erklärung wesentlicher Komponenten der Stetigkeit von Typen und "lebender Fossilien", der streckenweisen Determination des Evolutionsgeschehens (Entwicklungstrends und Konvergenzbildung) sowie des Kambriumproblems eignet, läßt sich wie folgt beschreiben:


Stammesgeschichtlich junge Merkmale bzw. Merkmalskomplexe tragen noch eine geringe funktionelle Bürde, das heißt es gibt noch wenig Strukturen, die in einem Verhältnis funktioneller Abhängigkeit mit ihnen stehen. Die mit der Merkmalsbebürdung korrelierende Folgelast mutativer Änderungen ist dem entsprechend noch gering, entsprechend hoch das Variationspotential. Die Evolution befindet sich, salopp gesprochen, noch in einem experimentierfreudigen Stadium, das neue Merkmal in einem Zustand geringer Stetigkeit und großer adaptiver Freiheit. Die Folge ist häufig schnelle adaptive Radiation, also eine "Formenexplosion", wie sie beispielsweise im Kambrium oder zu Beginn des Tertiärs bei den Säugetieren stattfand. Im Laufe der Zeit bauen jedoch immer neue Merkmale auf den älteren auf, entsprechend steigt deren Bürde. Es bildet sich ein hierarchisch organisiertes Merkmalssystem, dessen Funktionszusammenhang genetisch kopiert wird. Durch die schrittweise und nach jedem Schritt durch "innere Selektion" bewertete Verschaltung von Genen entstehen so synorganisierte Strukturen, die im Mutationsfall kooperativ evolvieren können. Der ältere, immer stärker fixierte, hochbebürdete bzw. in der funktionellen Hierarchie weit oben stehende Merkmalskomplex muß aber stets funktionsfähig bleiben, so daß bei ihm immer weniger Mutationen zum Erfolg führen, es kommt zu einer Determination bzw. Kanalisierung (constraint) des Evolutionsgeschehens, welche die Evolution immer mehr dem Regime des Zufalls entzieht und im Falle sehr hoher Bebürdung bis zur totalen Stetigkeit archaischer Baupläne reicht, also zu "lebenden Fossilien" führen kann.

Daß einmal getroffene Entscheidungen immer schwerer rückgängig gemacht werden können - auch wenn hohe Selektionsdrücke dies zu fordern scheinen - ersieht man beispielsweise bei den Halswirbeln der Säugetiere, die fast immer in der Siebenzahl auftreten, obwohl dem Delphin sicherlich weniger, der Giraffe mehr davon nützlich wären. Auch die Natur als Säugetier gebietet dem Wal die Lungenatmung, obwohl ihm Kiemen nützlicher wären und obwohl in seiner frühen Keimesentwicklung Kiemen angelegt werden! Und beim Menschen wäre es vorteilhafter, wenn sich Luft- und Speisewege nicht kreuzen würden. Auch die tiefgreifende Umgestaltung des phylogenetisch alten Wirbelkanals der Vertebraten erweist sich als schwierig, ist er doch mit einer Vielzahl phylogenetisch jüngerer Merkmale bebürdet.


                                              

Drastisch ist, daß LÖNNIG auch den Umstand verschweigt, daß der Abstammungsgedanke in der Biologie ohne die Existenz ausgeprägter morphologischer und molekularer Übereinstimmungen gar nicht erst entstanden wäre. Wie soll etwa ein Stammbaumforscher phylogenetische Systematik betreiben können, wenn sich, wie LÖNNIG meint, "auf allen Ebenen Veränderungen bis zur Unkenntlichkeit" vollzögen? Wenn sich, wie unterstellt wird, mit Evolution ein monströser Auflösungsprozeß abspielen würde, der instantan alle evolutiven Erfindungen im Nebel der Entropie verschwinden ließe, dürften über die Jahrmillionen überhaupt keine Ähnlichkeiten zwischen den Arten mehr nachweisbar sein, womit sich jeder Merkmalsvergleich (und das Evolutionskonzept insgesamt) erübrigte. Ja, das mosaikartige, eine jede systematische Gruppe charakterisierende Nebeneinander von ursprünglichen und abgeleiteten Merkmalen gestattet überhaupt erst die phylogenetische Rekonstruktion der Stammesgeschichte - ein Umstand, den LÖNNIG entweder nicht wahrhaben will oder aber nicht verstanden hat.

                       

3. Die Überbetonung offener Detailfragen und konkurrierender Theorien

Eine nicht minder beliebte Argumentationsstrategie ist die Überbetonung offener Kausal- und Historienfragen, womit die Erklärungskraft der Abstammungshypothese insgesamt erschüttert werden soll (Beispiele hierzu: JUNKER und SCHERER, 1998; KAHLE, 1999).

Wie wir in Kapitel Ib.3 besprochen haben, wird übersehen, daß die Evolutionstheorie aus zwei logisch unabhängigen Bereichen besteht, aus der Deszendenzhypothese, welche die Verwandtschaft der Lebewesen sowie deren Abstammung von einer gemeinsamen Stammart lehrt, sowie aus verschiedenen Kausaltheorien, welche die Wirkfaktoren und Mechanismen evolutiver Veränderung zum Thema haben. Selbst wenn wir über die Kausalfrage überhaupt nichts wüßten, bliebe die Deszendenzhypothese unangetastet. Daher können Aussagen, in denen betont wird, daß dieser Mechanismus oder jener Entwicklungsschritt noch nicht gelöst oder aber unzureichend zur Erklärung dieser oder jener Anpassung sei, die Abstammungshypothese nicht tangieren.

Es kommt hinzu, daß evolutionäre Kausaltheorien nicht ohne weiteres deduktiv-nomologische Erklärungen von funktionellen und strukturellen Spezifika liefern können, wie dies von Antievolutionisten gefordert wird. Der Grund dafür liegt in der historischen Einmaligkeit der Randbedingungen im Evolutionsgeschehen und in der ungeheuren Komplexität der ökologischen Wechselwirkungen, was Entwicklungsabläufe nicht prognostizierbar macht. Historische Abläufe und Randbedingungen können jedoch unter Einsatz von Forschungsmethoden teilweise rekonstruiert, die Kausaltheorien mit den Details angereichert werden, so daß schließlich auch spezifische Details erklärt werden können.

Insgesamt wird von Antievolutionisten übersehen, daß die Aufgabe von Wissenschaft ja gerade darin besteht, offenen Fragen nachzugehen und Erklärungen für das bislang Unerklärte zu finden, ansonsten wäre das Betreiben von Wissenschaft überflüssig geworden. Um diesen Umstand zu verschleiern, versucht man, die heuristische Kraft wissenschaftlicher Theorien selbst zu schwächen. Der Antievolutionismus konzentriert sich deshalb auch auf die Betonung kontroverser Meinungen und alternativer Theorien, wobei auch immer wieder wissenschaftliche Irrtümer ins Blickfeld gerückt werden (z.B. JUNKER und SCHERER, S. 247).

Ein Erkennungsmerkmal von Wissenschaft ist jedoch, daß an Lehrmeinungen nicht dogmatisch festgehalten wird, falls Befunde gegen sie sprechen und Irrtümer offenbar werden. Dies unterscheidet Wissenschaft grundlegend vom Kreationismus, dessen Thesen (wie etwa die Behauptung einer 6000 Jahre alte Erde, der gleichzeitigen Entstehung aller Organisationsformen usw.) heute als hinreichend widerlegt gelten müssen. Somit kann das Ziel des Kreationismus eben nicht im Erkenntnisfortschritt liegen - der Wissensfundus rekrutiert sich aus "geoffenbarten Wahrheiten", an welchen dogmatisch festgehalten wird. Folglich müssen alle wohlbestätigten Theorien der Naturwissenschaften falsch sein, die im Widerspruch mit dem Bibeltext stehen, weil die biblischen Aussagen als unantastbare Wahrheiten verfochten werden. Die Folge ist, daß die Ergebnisse der "Schöpfungsforschung" ("creation science") nicht wesentlich über die Exegese des Schöpfungstextes hinausreichen können. Als eigentliches "Forschungsziel" wird immer wieder die Destruktion einer vermeintlich konkurrierenden wissenschaftlichen Theorie betont, was das Fehlen einer tragfähigen Erkenntnisstrategie im Kreationismus offenbar werden läßt und ihn wissenschaftlich völlig entwertet (MAHNER, 1986, S. 34-38).

Ein weiteres Charakteristikum von Wissenschaft ist auch die Theorienvielfalt, wobei sich viele Alternativ-Theorien (wie etwa die Ursuppentheorien Millers und Wächtershäusers etc.) gegenseitig ergänzen und sich nicht unbedingt widersprechen müssen. Meist erweisen sich wohletablierte Theorien auch nach erkenntnistheoretischen Revolutionen nicht als falsch sondern werden schlimmstenfalls zu "Spezialfällen" umfassenderer Theorien.

             

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Fußnote (*):

Bemerkenswerterweise haben selbst fachkundige Kreationisten, wie beispielsweise JUNKER und SCHERER, erkannt, daß die Stetigkeit von Merkmalen und die Existenz "lebender Fossilien" nicht gegen Evolution spricht. JUNKER warnt sogar Menschen, die sich nicht hinreichend gut mit der Evolutions-Materie auskennen, explizit davor, diese Befunde als Argument gegen Evolution einzusetzen. Damit heben sich JUNKERs vergleichsweise faire Texte recht wohltuend von LÖNNIGs Schriften ab:

"Zahlreiche heute lebende Arten oder Grundtypen sind auch als Fossilien bekannt. Sie werden mit dem paradoxen Begriff "lebende Fossilien" bezeichnet. Oft werden sie als Hinweise gegen Evolution gewertet, weil sie sich über große angenommene) Zeiträume hinweg nicht oder kaum verändert haben. Dieses Argument hat jedoch kein starkes Gewicht, da Evolutionstheoretiker diesen Befund in ihrem Denkgebäude einigermaßen plausibel einordnen können. Denn nach der Evolutionstheorie gibt es keinen Veränderungszwang. Wenn ein Teil der Lebewesen sich lange Zeit nicht verändere so wird das z. B. auf konstante Umweltbedingungen zurückgeführt. Gleichzeitig, so wird argumentiert, habe sich ein Teil der Lebewesen aber weiterentwickelt, der Teil nämlich, der unter veränderte Umweltbedingungen geriet (es kommen auch andere Gründe in Frage).

(JUNKER, W+W-Disk.-Beitr. 1/98. Die richtigen Argumente gegen Evolution einsetzen, 2. Folge. Internet-Beitrag: http://www.bibelbund.christen.net/htm/99-1-066.htm) - Hervorhebungen im Schriftbild von mir.

               

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Letzte Änderung: 31.10.2002                               


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