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Die Kontroverse um den Birkenspanner 'Biston betularia'

                                                                                                        

Die Überbetonung offener Fragen und Irrtümer als rhetorisches Stilmittel der Evolutionsgegner

Die Diskussion hat gezeigt und zeigt immer wieder, daß die Überbetonung offener Fragen, kontroverser Meinungen und wissenschaftlicher Irrtümer vor allem im Kreationismus (sensu stricto) zu einem höchst beliebten rhetorischen Stilmittel avanciert, um die heuristische Kraft der Evolutionstheorie zu schwächen (MAHNER, 1986). Bei aller berechtigten Kritik an der klassischen "Birkenspanner-Geschichte" kommt man nicht umhin festzustellen, daß hier wie anderswo leider immer wieder die subtile Botschaft transportiert wird, die Evolutionbiologie sei dogmatisch auf das Festhalten an überholten Lehrmeinungen und die Diffamierung Andersdenkender ausgerichtet, ja die Schöpfungstheoretiker seien es eigentlich, die den wissenschaftlichen Fortschritt vorantreiben. LÖNNIG stellt fest:

"Zu den von führenden Evolutionstheoretikern auf dem Gebiet erarbeiteten, sich über Jahrzehnte erstreckenden und auf genauen Studien an Zehntausenden von Biston-Individuen basierenden Einwänden zu verschiedenen Aspekten der Lehrbuchdarstellung des Birkenspanner-Beispiels gibt es eine umfangreiche Gegenkritik, und zwar ebenfalls von Vertretern der Synthetischen Evolutionstheorie. Dabei ist insbesondere die Zusammenfassung der Forschungsergebnisse durch Jonathan Wells die Zielscheibe der Angriffe. Obwohl ich mich nicht mit den über die Biologie hinausgehenden Motiven und Zielen von J. Wells und des Discovery Instituts identifizieren kann, erscheinen mir viele dieser Angriffe bedauerlicherweise mehr auf eine Diffamierung der Person abzuzielen, als auf eine Richtigstellung der biologischen Fragen (siehe die Details unten)."

                                                                       

Merkwürdigerweise gehören aber just die "führenden Evolutionstheoretiker" in der Birkenspanner-Frage (angefangen mit COYNE über GRANT bis hin zu MAJERUS) zu den entschiedensten WELLS-Kritikern, während es umgekehrt jedoch kaum jemandem einfiele, die Erkenntnisse und Interpretationen von MAJERUS in dieser Weise zu kritisieren. Dieser Umstand läßt erahnen, daß der Versuch, WELLS und andere Evolutionskritiker denselben wissenschaftlichen Wertekanon zuzuschreiben wie den führenden Fachwissenschaftlern, eigentlich zu einer schiefen Angelegenheit wird (in gleicher Weise verhält es sich mit dem Verleumdungs-Vorwurf gegen WELLS, wurden doch dessen selektive Zitierweisen und fragwürdige Behauptungen zumeist in aller Sachlichkeit und in jedem Falle wissenschaftlich begründet zurückgewiesen).

Alles in allem ist der Begriff "Forschungsergebnisse" insofern inadäquat, als daß die "Forschungsstragegie" der Evolutionsgegner hier vorrangig in der Destruktion einer vermeintlich konkurrierenden Theorie (in diesem Falle: einiger evolutionstheoretischer Hypothesen) besteht, also im Präsentieren "negativer Daten" und Erklärungen darüber, was man beim heutigen Kenntnisstand alles noch nicht mit Bestimmtheit weiß. Das primäre Ziel der Forschung besteht aber darin, weniger (oder vorsichtiger: nicht nur) Widerlegungen als vielmehr Erklärungen zu finden, um zu neuem (wenn auch noch unsicherem) Wissen zu gelangen. Die "Schöpfungswissenschaft" selbst konnte über die Jahrhunderte hinweg jedoch keinen Wissensfortschritt verbuchen, mehr noch: Das Betreiben von Wissenschaft wurde überhaupt erst möglich, nachdem vom supernaturalistisch geprägten Weltbild Zug um Zug abgerückt wurde. Umso kurioser erscheint es, wenn gerade heute einige Wissenschaftler wieder das Betreiben einer "supernaturalistischen Wissenschaft" einfordern und damit in einen wissenschaftshistorischen Atavismus zurückfallen.  

Gerade heuristisch fruchtbare "Paradigmen" zeichnen sich durch Meinungsvielfalt und kontroverse Meinungen ihrer Adepten aus. Dabei kommt es unvermeidlich auch zu Rivalitäten zwischen den unterschiedlichen Schulen. Wer unbedingt meint, daraus einigen Evolutionsbiologen (oder der Evolutionsbiologie ganz allgemein) einen Strick drehen zu müssen (ein besonders extremes Beispiel verkörpert LÖNNIGs Abhandlung über MENDEL), kommt aber nicht umhin, die "Normalwissenschaften" insgesamt zu kritisieren. Hier handelt es sich nämlich um kein rein "Darwinistisches" Charakteristikum, sondern um ein Kennzeichen für Normalwissenschaften überhaupt. Der Wissenschaftstheoretiker KUHN schreibt dazu:

"In keiner Weise ist es das Ziel der normalen Wissenschaft, neue Phänomene zu finden; und tatsächlich werden die nicht in die Schublade hineinpassenden oft überhaupt nicht gesehen. Normalerweise erheben die Wissenschaftler auch nicht den Anspruch, neue Theorien zu finden, und oft genug sind sie intolerant gegenüber den von anderen gefundenen. Normalwissenschaft ist vielmehr die Verdeutlichung der vom Paradigma bereits vertretenen Phänomene und Theorien ausgerichtet."                             

(KUHN, 1976, S. 38)       

                      

Das bedeutet natürlich keineswegs, daß an Lehrmeinungen dogmatisch festgehalten wird, wie die Weiterentwicklung des LAMARCKistisch geprägten Darwinismus über den WEISMANNschen Neodarwinismus, zur Synthetischen Theorie der Evolution und schließlich zur Systemtheorie der Evolution zeigt. Doch solchen Explikationen wird oft mit antiquierten Einwänden begegnet, die vergessen machen sollen, daß die Evolutionstheorie längst über ihr ursprüngliches Niveau hinausgelangt ist. So schreibt LÖNNIG (gewissermaßen als "Antwort an POPPER"):

"Es gibt bessere Theorien [als die Evolutionstheorie] (siehe unten)! Wir sollten dabei auch nicht vergessen, dass die Selektionstheorie von Darwin mit einem lamarckistischen Vererbungsmodus kombiniert worden war. Die erste Mutationstheorie stammt vom Kritiker des Darwinismus Hugo de Vries. Die bakteriologischen Beweise der 1940er Jahre (und zuvor schon von Gratia 1921 und Burnet 1928) bedeuteten daher eine (weitere) Widerlegung der darwinschen Vererbungsideen, eine Widerlegung, die mit Mendel 1866 begann, die jedoch erst ab 1937 mit der "modern synthesis" von Darwinisten zunehmend akzeptiert worden ist (...)

1. Der von Darwin postulierte Anpassungsmechanismus hat sich auch in den Bakterienversuchen als unrichtig herausgestellt (Vererbung erworbener Eigenschaften: "Übernahme von Merkmalen, die ein Organismus durch individuelle Anpassung im Laufe des Lebens erworben hat, in das Erbgut." - Wagenitz 1996, p. 394; Schubert/Wagner 2000, p. 574). 2. Als hätte nur die Synthetische Evolutionstheorie durch Rückgriff auf die vom Darwinismus zunächst abgelehnte Mutationstheorie unter Minimierung der "Mutationsgrößen" jemals einen Anpassungsmechanismus postuliert! 3. Vor allem hatte der Neodarwinismus insofern einen "falschen Anpassungsmechanismus" nahegelegt als er mit Mutation und Selektion durch Funktionsaufbau (u.a. Bildung völlig neuer Gene und Enzyme) die Entstehung aller Lebensformen erklären wollte (...)"

(LÖNNIG, 2002 URL: http://www.weloennig.de/Popper.html)        

                               

Was von solchen Einwänden zu halten ist, durchschaut man leicht, man braucht dazu nur die Evolutionstheorie sowie ihre Erkenntnisgegenstände gegen andere auszutauschen. So frage sich der Leser, ob irgendein Wissenschaftler beispielsweise folgende (methodologisch vollkommen analoge!) Argumentation für bare Münze nehmen könnte:

"Es gibt bessere Theorien als die Atomtheorie! Wir sollten dabei auch nicht vergessen, dass die Atomvorstellung von Ernest RUTHERFORD mit dem klassischen Kontinuitäts- und Bahnbegriff kombiniert worden war. Die erste Atomtheorie stammt von J. DALTON (eigentlich von DEMOKRIT und LEUKIPP). Die Beweise von Rudolf CLAUSIUS, der den Entropiebegriff in die Thermodynamik einführte, bedeuteten eine Widerlegung der angenommenen Reversibilität atomarer Bewegungen, wonach sich die widersinnige Schlußfolgerung ergab, daß sich der ganze Weltablauf umkehren lassen müßte. Bereits Ernst MACH, einer der genialsten Physiker aller Zeiten, hatte die Atomvorstellung als "metaphysische Spekulation" bezeichnet  ('Haben Sie schon einmal ein Atom gesehen?').

Auch der von E. RUTHERFORD postulierte Kontinuitätsbegriff hat sich in den Experimenten zur Schwarzkörperstrahlung von PLANCK sowie von EINSTEIN zum photoelektrischen Effekt als unrichtig herausgestellt (...) in dieser Frage sind PLANCK und HEISENBERG genauso von den Atomisten fehlinformiert worden, wie hinsichtlich der klassischen Bahnbewegung. Vor allem hatte der BOHRsche und SOMMERFELDsche Atomismus insofern einen falschen Atombau nahegelegt, als er mit der Stützhypothese von den "strahlungsfreien Bahnen" sowie mit den ad hoc postulierten und nach wie vor unbewiesenen Nebenquantenzahlen alle Elementspektren, Kovalenzradien, Bahndrehimpulse von Hüllenelektronen, die Beugungsmuster von DAVISON und GERMER u.v.a erklären wollte.

Die quantenmechanischen Beweise der 1900-1930er Jahre bedeuteten daher eine (weitere) Widerlegung der atomistischen Strukturideen, eine Widerlegung, die mit PLANCK begann, die jedoch erst mit HEISENBERGs Matrizenmechanik und SCHRÖDINGERs wellenmechanischem Atommodell zunehmend akzeptiert worden ist (...) Ebenso haben die physico-chemischen Befunde die atomistischen Erwartungen zum Aufbau der Materie in Verbindung mit dem Elementspektrum des Wasserstoffs deutlich widerlegt! Denn es handelt sich bei dem von BOHR vorausberechneten Spektrum um keinen Beweis für den atomaren Aufbau der chemischen Elemente, sondern um eine zirkuläre, unter Voraussetzung der Atomspekulation zustandegekommene Deutung. Diese basiert aber auf falschen Voraussetzungen, wie die falsch berechneten Elementspektren der höherer Homologen zeigen.

Ferner hat der radioaktive Zerfall die Vorstellung über die Unteilbarkeit von Atomen und die klassische Elektrodynamik BOHRs Vorstellung der Elektronenbahnen widerlegt, weil diese infolge der Emission von elektromagnetischer Strahlung in den Atomkern hineinspiralen müßten. Keine der atomistischen Hypothesen hatte die physikalischen Tatsachen jemals vorausgesehen oder gar postuliert. Angefangen mit DALTONs homogenem Kugelmodell über THOMPSONs "Rosinenkuchen-Modell" bis hin zu RUTHERFORDs und BOHRs Atommodellen hat sich keine atomistische Strukturidee als richtig herausgestellt. Und bis heute ist es den Atomisten nicht gelungen, die reaktionskinetischen Verhältnisse komplizierter chemischer Prozesse theoretisch vorauszuberechnen - sie müssen sich meist mit idealisierten, semiempirischen oder ab-initio-Verfahren behelfen, die auch nur für einfache Fälle halbwegs befriedigende Näherungslösungen liefern (...)"

[Auch die christliche Scholastik und die Ernennung ARISTOTELES, unter dem Einfluß des heiligen Thomas von AQUIN, zum Philosophen, bedeutete eine Niederlage der "Atomisten". Die Ansicht vom atomaren Aufbau der Materie war gottlos und heidnisch, weil die Atomisten ein mechanisches Universum lehrten, wenn sie behaupteten, 'daß sich die Atome im leeren Raum so bewegen, wie es der bloße Zufall gerade will, und von selber infolge eines jeder Ordnung baren Antriebes miteinander zusammenstoßen.' (Man beachte die bemerkenswerte Übereinstimmung der Argumenationsstrukturen von "Anti-Atomisten" und Evolutionsgegnern!)]

                                                                                                                 

Hier wird deutlich, daß die Wissenschaft keine statischen Thesengebäude umspannt, daß logische Widerlegungen immer wieder zu gehaltsvermehrenden Modifkationen von Theorien und somit überhaupt erst zu wissenschaftlichem Fortschritt führen. Dies unterscheidet gerade Wissenschaft grundlegend von Schöpfungstheorien, deren Wissensfundus aufgrund der Allerklärungspotenz der Schöpferhypothese stagniert, trotz einer Vielzahl von Schöpfungsvorstellungen seit 3000 Jahren im wesentlichen gleichlautend geblieben und somit weitgehend gegen logische Falsifikationen, Modifikation, gehaltsvermehrende Weiterentwicklung und innerparadigmatische Kontroversen immun ist.

Unser Analogiebeispiel sollte verdeutlichen, warum das Argumentationsgebäude der Evolutionsgegner über die Jahrhunderte das Betreiben von Wissenschaft nahezu verunmöglichte. Es wäre Wissenschaftsrevisionisten aller Couleur ein leichtes, unter strikter Anwendung dieser Methodologie, einen Generalangriff gegen alle Wissenschaftsbereiche zu starten, ja das Internet ist in der Tat voller Beispiele, die in analoger Weise kurzerhand all jene Theorien, die gemeinhin zu den besten der Wissenschaft gezählt werden, "widerlegen" (der Leser sei eingeladen, anhand weiterer Analogie-Beispiele eine Liste fortzuführen - einige Argumentationshilfen und zusätzliche Beispiele finden sich unter: http://www.martin-neukamm.de/junker1_2.html). 

Natürlich steht es jedermann frei, den Wertekanon der Naturwissenschaften zu verlassen und die eigene Glaubensangelegenheit gewissermaßen als "vorrationale Entscheidung" zu setzen. Allerdings sollte klar sein, daß es (um mit KANITSCHEIDER zu sprechen) keinen Sinn macht, die Grenzen zwischen Wissenschaft und Glaube zu verwischen.                                                                                                     

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