Homepage          Zur Inhaltsübersicht          Vorhergehender Abschnitt          Nächster Abschnitt

Die Kontroverse um den Birkenspanner 'Biston betularia'

                                                                                               

POPPER, Evolution, Metaphysik: Ist die Evolutionstheorie ein "metaphysisches Forschungsprogramm"?

Wir wollen uns an dieser Stelle etwas ausführlicher mit dem immer wieder zur Diskussion gestellten (originär von POPPER stammenden) Vorwurf beschäftigen, die Synthetische Evolutionstheorie sei nicht (logisch) widerlegbar und verkörpere daher ein "metaphysisches Forschungsprogramm". Eine Analyse scheint deshalb geboten, weil die Evolutionsgegner in POPPER bis heute einen Gewährsmann zu erkennen glauben, der trotz seiner Zurücknahme des Tautologievorwurfs (vgl. Abschnitt 5) am "Metaphysikvorwurf" gegen die Evolutionstheorie (bzw. gegen die These von der stattgehabten "Makroevolution") festgehalten habe (Der Einschub in eckigen Klammern stammt vor mir):

"(...) Deshalb hat Popper auch (unwiderrufen!) die Synthetische Evolutionstheorie als metaphysisches Forschungsprogramm bezeichnet. Im Zusammenhang damit möchte ich Sie bitten, mir doch einmal die Falsifikationskriterien für den Neodarwinismus [Synthetische Theorie der Evolution?!] zu nennen!"

(LÖNNIG, 2000; http://www.weloennig.de/Wahrnehmung.html)

                                                                 

Bei eingehenderer Analyse zeigt sich jedoch, daß sich die evolutionskritischen Meinungen in den wesentlichen Hauptfragen nicht mit POPPERs Position und/oder den tatsächlichen Verhältnissen zur Deckung bringen lassen.

Der erste und ungleich wichtigste (weil die antievolutionistische Fundamentalkritik vollständig entkräftende) Feststellung besteht darin, daß POPPER zwar die mechanismischen Vorstellungen der Standardtheorie der Evolution (die Selektionstheorie als Teil der Synthetischen Evolutionstheorie) (= "Darwinismus") als metaphysisch - weil vermeintlich schwer falsifizierbar - bezeichnet, wie erinnerlich mit dem Tautologievorwurf vermischt (und später wieder zurückgenommen) hat. Die allgemeine Evolutionstheorie bzw. Abstammungslehre, die zu widerlegen höchstes Ziel der Evolutionsgegner ist, hatte POPPER jedoch immerzu und dezidiert von seinem Vorwurf ausgenommen! Er betont:

"Man muß zwei unterschiedliche Theorien auseinanderhalten: einerseits die allgemeine Evolutionstheorie, nach der das Leben auf der Erde sich aus wahrscheinlich einzelligen Organismen entwickelt hat, und andererseits die Darwinsche Theorie, nach der das Leben sich durch natürliche Selektion entwickelt hat. Man darf die Evolutionstheorie nicht mit der Theorie durcheinanderbringen, die erklärt, welcher Mechanismus diese Evolution hervorgebracht hat (...)

Die allgemeine Evolutionstheorie, also die Behauptung, daß das Leben auf der Erde in langsamer Entwicklung zu dem geworden ist, was es ist, hat eine außerordentliche Überzeugungskraft. Sie erlaubt Annäherungen so unterschiedlicher Gebiete wie der Paläontologie, der Embryologie und sogar gewisser Bereiche der Medizin. Viele sehr unterschiedliche Probleme finden so durch sie eine Art gemeinsame Erklärung. Es ist wenig wahrscheinlich, daß sie jemals ernsthaft in Frage gestellt wird. Natürlich ist sie überprüfbar. Und natürlich könnte sie widerlegt werden, wenn man die Reste eines Autos in Gestein aus dem Kambrium fände. "

(POPPER, 1994 a)

Und noch einmal POPPER:

"It does appear that some people think that I denied scientific character to the historical sciences, such as palaeontology, or the history of the evolution of life on Earth. This is a mistake, and I here wish to affirm that these and other historical sciences have in my opinion scientific character; their hypotheses can in many cases be tested."

(POPPER, 1981, S. 611)

                            

Man sieht: Auch POPPER hatte realisiert, daß die allgemeine Evolutionsvorstellung (bzw. die Deszendenzlehre) unabhängig von mechanismischen Aspekten getestet, belegt und falsifiziert werden kann, also nachgerade nicht vom Status der Synthetischen Evolutionstheorie abhängt!

Doch im Grunde wurde der Tautologie-/Metaphysikvorwurf mit POPPERs Widerruf bereits vollständig (und nicht nur "partiell") aus der Welt geschafft, denn es ist in all seinen Texten deutlich geworden, daß der Einwand gegen den "Darwinismus" untrennbar an den Status der "Selektionstheorie" gekoppelt war. POPPER hatte mit anderen Worten den Darwinismus mit der Selektionstheorie gleichgesetzt! Dies weist SONLEITNER einwandfrei anhand zweier POPPER-Zitate nach:

" 'I have come to the conclusion that Darwinism is not a testable scientific theory, but a metaphysical research programme-a possible framework for testable scientific theories.' [Popper, 1976, p. 168] It is clear that here Darwinism means natural selection, not evolution. Popper states this explicitly earlier in the same work: '. . . because I intend to argue that the theory of natural selection is not a testable scientific theory, but a metaphysical research programme; . . .' [Popper, 1976, p. 151]!"

(SONLEITNER, 1986)

                 

Damit ist klar, daß der POPPERsche Einwand gegen den "Darwinismus" (bzw. "Selektionismus") nicht mehr aufrecht erhalten werden kann, wenn er gegen die Selektionstheorie als ausgeräumt gilt! Was soll man also von der Feststellung halten, POPPER habe "(unwiderrufen!) die Synthetische Evolutionstheorie als metaphysisches Forschungsprogramm bezeichnet"?

Die einzige Irritation, die hier vielleicht noch bestehen bleibt, gründet in der weitreichenden Unkenntnis darüber, daß die Selektionstheorie nicht nur im Falle der "infraspezifischen Evolution", sondern auch im Rahmen des "makroevolutionären" Geschehens testbare Prognosen und Retrodiktionen liefert, worüber sich POPPER vermutlich nicht völlig im Klaren war. Dies wird deutlich, wenn man POPPERs Kommentar zu dieser Frage betrachtet (POPPER, 1994, a.a.O.):

"Dagegen ist die Darwinsche Theorie, die die Evolution durch natürliche Selektion erklärt, problematisch im Hinblick auf ihre Überprüfbarkeit. Sie müßte ernsthaft kritisiert werden, aber es ist schwierig, das mit den üblichen Testmethoden zu tun. Man kann sagen, daß sie vielleicht zu viele Phänomene erklärt."

Und schließlich POPPER, zitiert nach LÖNNIG:

"Zu sagen, daß eine jetzt lebende Art an ihre Umwelt angepaßt ist, ist in der Tat fast eine Tautologie. Die Darwinsche Theorie verwendet ja die Ausdrücke 'Anpassung' und 'Auslese' so, daß wir sagen können: Wäre die Art nicht angepaßt, dann hätte die natürliche Auslese sie eliminiert. Und entsprechend: Wenn eine Art ausgestorben ist, dann muß sie an die Bedingungen schlecht angepaßt gewesen sein. Die Anpassung oder die Tauglichkeit (fitness) wird von den modernen Evolutionstheoretikern durch die Wahrscheinlichkeit des Überlebens definiert und kann an dem tatsächlichen Überlebenserfolg gemessen werden. Es besteht kaum eine Möglichkeit, eine Theorie empirisch zu überprüfen, die so schwach ist, die so wenig vorhersagende Kraft hat."

                                         

Diese Auffassung wird seit Jahrzehnten nicht nur von Evolutionsbiologen, sondern, auch von den Evolutionsgegnern selbst widerlegt! Um dies zu demonstrieren, genügt es natürlich nicht, mit POPPER einfach nur ganz allgemein darauf hinzuweisen, die Selektionstheorie ließe (wie behauptet wird: "in fast tautologischer Weise") erwarten, daß eine Art ("irgendwie") an ihre Habitate angepaßt sei. Es ist kein Wunder, daß solch eine oberflächliche Aussage nichts Interessantes mehr über die Selektionstheorie (nurmehr "fast Tautologisches") aussagt.

Hier sollte man sich im Klaren darüber sein, daß die Merkmalsveränderungen bzw. Anpassungen (analog zu unserem "Biston-Beispiel") mit ganz spezifischen Milieuveränderungen (den "konkreten Außenbedingungen") in Zusammenhang stehen bzw. durch sie vollständig erklärbar sein müssen. Ob es sich tatsächlich so verhält, läßt sich dann logisch überprüfen und ist von den Kritikern der Synthetischen Theorie der Evolution ja auch in hinreichendem Maße getan worden:

               

                         

Allgemein gilt der Umstand, daß einmal getroffene, evolutionäre Entscheidungen kaum mehr rückgängig zu machen sind, auch wenn hohe Selektionsdrücke dies zu fordern scheinen, als Problemfall der Standardtheorie, der ihre Modifikation bzw. gehaltsvermehrende Überarbeitung erforderlich macht.

RIEDL und KRALL, die eine systemtheoretische Erweiterung der Synthetischen Theorie der Evolution für notwendig halten, haben dazu einen umfangreichen Katalog falsifizierender Befunde bzw. offener Fragen zusammengestellt (RIEDL und KRALL, 1994, S. 234-266). Sie weisen darauf hin, daß "Außenfaktoren" allein keine hinreichende Beschreibung und Erklärung evolutionärer Prozesse erlauben; hier müssen auch die "inneren Systembedingungen" und die aus ihnen resultierenden "Bürden" und "developmentals constraints" mitberücksichtigt werden.

Daß also nicht nur die allgemeine Deszendenzthese, sondern auch die Synthetische Evolutionstheorie logisch falsifizierbar ist, wird bereits seit Jahrzehnten, so z. B. auch von RUSE, 1977 sowie von v. DONGEN und VOSSEN, 1984 hervorgehoben. Wie erwähnt, demonstrieren dies Evolutionsgegner selbst, indem sie zahlreiche Evolutionsbiologen zitieren, die darauf hinweisen, daß die Synthetische Theorie der Evolution vor bestimmten Erklärungsproblemen steht.


POPPERs ursprüngliche Auffassung, die Standardtheorie der Evolution (nicht die allgemeine Evolutionslehre!), sei metaphysisch, hatte also ganz andere Gründe als die von den Evolutionsgegnern genannten: RUSE (a.a.O.) zeigt auf, daß er die Testmöglichkeiten, Prognosen und Retrodiktionen der Selektionstheorie - und daher auch die Probleme und Erklärungsgrenzen der Synthetischen Evolutionstheorie - nicht kannte. Wie anders ist es zu verstehen, daß POPPER (im Widerspruch zur antievolutionistischen Meinung!) die Ansicht vertrat, daß die Synthetische Evolutionstheorie generell "zu viel erklärt"?

                     

Dennoch halten Evolutionsgegner an der Behauptung fest, die Synthetische Theorie der Evolution sei prinzipiell nicht falsifizierbar und daher "metaphysisch", womit sie sich, offenbar ohne es zu merken, selbst widersprechen.

So erörtert z. B. LÖNNIG, 1991 auf S. 34 ein "(...) BEISPIEL VON TAUSENDEN ZUR WIDERLEGUNG DES NEODARWINISMUS" (gemeint ist damit wohl die Synthetische Theorie der Evolution), betont dagegen aber auf S. 27: "Alles entspricht der Darwinschen Theorie (...) nichts widerspricht der Theorie!"

                                  

Welche Philosophie steckt  hinter diesem offenkundigen Widerspruch? Und warum findet die lähmende Kontroverse über die Widerlegbarkeit des "Darwinismus" niemals ihr Ende, wenn sich Evolutionsbiologen und Evolutionsgegner doch darin einig sind, daß die evolutionäre Standardtheorie imperfekt ist?

Der Grund ist, daß Naturwissenschaftler und Evolutionsgegner mit dem POPPERschen Begriff der "Falsifizierbarkeit" höchst Unterschiedliches verbinden. Letztere vertreten meist einen "dogmatischen" oder auch: "naiven Falsifikationismus", der es als notwendig erachtet, Theorien aufgrund einiger ungünstiger Daten und offener Fragen (logischer Falsifikationen) vollständig aufzugeben. Und weil dies die Evolutionsbiologen eben nicht tun, sondern ihre Theorien gehaltsvermehrend modifizieren, wird der "Darwinismus" auch weiterhin, zu einem "metaphysischen Forschungsprogramm" heruntergeredet. Kurzum:

Der Evolutionsgegner hält die Falsifizierbarkeit weniger für eine logische Eigenschaft von Theorien (für ein "Beziehungsprädikat", das die logische Relation zwischen Theorien Beobachtungsaussagen beschreibt), sondern für so etwas wie eine eindeutig erzwingbare Handlungsvorschrift, in praxi von falsifizierten bzw. imperfekten Theorien komplett abzurücken.

Auch LÖNNIG glaubt an die "eindeutige" Entscheidbarkeit von Theorien (entweder vollkommen 'richtig' oder komplett 'falsch'), spricht im Hinblick auf die logischen Falsifikationen der Synthetischen Evolution von "unwissenschaftlichen Immunisierungsstrategien" und betont:

"Die Erfahrung lehrt jedoch, dass auch angesichts eindeutiger Falsifikationen die meisten Evolutionstheoretiker auf dem vorwissenschaftlichen Stand ihrer Einschätzungen und Behauptungen beharren (...) Darwinismus und Neodarwinismus (Synthetische Evolutionstheorie) verfügen heute über ein ganzes Arsenal von Immunisierungsstrategien (...derer) man sich je nach Einwand fast immer bedienen kann (...) dann ist es bedauerlich, wenn, um mit Popper zu sprechen, Intellektuelle die Existenz einer 'widerlegenden Behauptung leugnen'."

(LÖNNIG, 2002, http://www.weloennig.de/Popper.html) - Hervorhebungen im Schriftbild von mir

                                                                                   

Hier muß aber, gerade unter Bezugnahme auf POPPER, zwischen zwei Spielarten der Falsifizierbarkeit unterschieden werden, nämlich zwischen der Falsifizierbarkeit (Widerlegbarkeit) von Theorien in der Praxis und der prinzipiellen (logischen) Widerlegbarkeit, die von Evolutionsgegnern ohne zu überlegen einfach miteinander vermengt und verwechselt werden.

POPPER hatte dies in aller Deutlichkeit versucht klarzustellen, und mit Nachdruck betont:

"Mit dem Prädikat 'falsifizierbar' oder 'empirisch widerlegbar' bezeichnete ich (...) eine rein logische Eigenschaft einer Theorie: Eine Theorie ist falsifizierbar dann, und nur dann, wenn es in der Klasse aller logisch möglichen wahren oder falschen Basissätze auch solche Sätze gibt, die der Theorie widersprechen (...) Nun könnte man aber unter dem Prädikat 'falsifizierbar' auch etwas ganz anderes verstehen: Man könnte ja sagen, daß eine Theorie nur dann 'falsifizierbar' (...) ist, wenn wir im Prinzip mit Sicherheit entscheiden können, ob sie tatsächlich empirisch widerlegt wurde oder nicht. Und es wird dann mit vollem Recht behauptet, daß Theorien (in diesem Sinn!) nicht falsifizierbar sind!"

(POPPER, 1984, S. 425 f.) - Die Hervorhebungen stammen von mir

                               

Die Notwendigkeit einer klaren Unterscheidung zwischen beiden Begriffen resultiert aus der Einsicht, daß die "eindeutige Falsifikation" von Aussagensystemen (Theorien) immer den "eindeutigen Beweis" (die Verifikation) einer empirischen Erfahrung (Beobachtung) voraussetzt, die im Widerspruch zu der Theorie steht. Theorie und Erfahrung sind aber keine korrelativen Begriffe - auch Beobachtungen müssen durch Aussagen beschrieben werden. Da POPPER den Verifikationismus als unhaltbar begriffen hat, sind auch Beobachtungsaussagen stets theoriebeladen und fehlbar, "eindeutige" (empirische) Falsifikationen daher grundsätzlich nicht möglich. Deshalb sind Falsifikationen eben immer nur rein logischer (als logische Eigenschaft von Aussagen) und nicht empirischer Natur!

POPPER verwahrt sich an zahlreichen Stellen gegen die Behauptung, er vertrete einen "naiven Falsifikationismus", zum Beispiel in POPPER, 1983. Dort wird er in der Introduction 1982 No IV festgestellt: "(...) there is no room at all for 'naive falsification'." In POPPER, 1994, S. 426 beklagt er sich über den an ihn gerichteten Vorwurf, "(...) daß ich an manchen Stellen meines Buches als ein 'naiver Falsifikationist' schreibe, der an die endgültige Entscheidbarkeit einer Theorie glaubte (...) Das ist natürlich alles Unsinn - unsinnige Hypothesen, verursacht durch flüchtiges Lesen (...) Meine beiden Thesen - daß die Falsifizierbarkeit einer Theorie eine logische Angelegenheit ist und daher (fast immer) endgültig entscheidbar, während die empirische Falsifikation einer Theorie, wie jede empirische Angelegenheit, unsicher und nicht endgültig entscheidbar ist - widerspechen sich nicht; und sie sind beide geradezu trivial." POPPER resümmiert später - ganz so, als hätte er die Diskussionen der Evolutionsgegner mitverfolgt - in resigniertem Ton: "(...) So hat der gänzlich haltlose Angriff auf einen nicht verstandenen logisch-technischen Terminus ["Falsifizierbarkeit"] zu weitgehenden und unheilvollen philosophischen und politischen Konsequenzen geführt." (POPPER, 1994 b, S. 89)

                                                               

Natürlich fällt mit POPPERs Feststellung der Vorwurf, daß die von den Evolutionsbiologen vertretene Argumentationsmethodik einer "vorwissenschaftlichen", quasireligiösen und gleichsam metaphysischen Immunisierungsstrategie entspreche, denn man könnte ihn praktisch gegen jeden beliebigen Wissenschaftler ins Felde führen und damit Wissenschaft insgesamt ad absurdum führen. In der Tat ist es, wie der Wissenschaftstheoretiker CHALMERs betont, eine

"(...) peinliche historische Tatsache (...), dass gerade jene Theorien, die allgemein zu den besten wissenschaftlichen Theorien gezählt werden, niemals entwickelt worden wären, wenn sich Wissenschaftler strikt an die falsifikationistische Methodologie gehalten hätten. Sie wären bereits in den Anfängen widerlegt worden."

(CHALMERS, 2001, S. 76)

                   

Selbstredend hat praktisch jede empirische Theorie mit mehr oder minder zahlreichen Anomalien, offenen Fragen bzw. (logischen) Falsifikationen zu kämpfen (Beispiele dazu sowie tiefergehendere Analysen zum Falsifikationismus finden sich unter der folgenden Internet-Adresse: http://www.martin-neukamm.de/junker1.html).

So betont auch v. DITFURTH zur "Falsifikation" der NEWTONschen Physik durch EINSTEINs Relativitätstheorie:

"Einstein hat Newton (...) zwar überholt und dessen Theorie hinter sich gelassen. Widerlegt hat er Newton aber nicht. Denn die Formeln (...) gelten nach wie vor (...) Das Verhältnis zwischen der Newtonschen und der Einsteinschen Theorie ist daher nicht das von 'falsch' und 'richtig'. Einsteins Erkenntnis hat die Situation eines Körpers in einem Schwerefeld lediglich präziser, unter Einschluß eines größeren Spielraums von Möglichkeiten (...) erfaßt, als das Newton zu seiner Zeit möglich war (...) Ähnlich verhält es sich nun in allen anderen Fällen naturwissenschaftlichen Fortschritts. Jede Theorie (...) mit der es jemals gelungen ist, auch nur ein einziges noch so winziges Beobachtungsdetail wirklich zu erklären, hat eben dadurch den Beweis erbracht, daß sie ein kleines Stückchen der Wirklichkeit richtig erfaßt hat."

(v. DITFURTH, 1987, S. 132-134)      

                   

Und das gilt natürlich auch für die Evolutionstheorie! So wie es der Allgemeinen Relativitätstheorie vorbehalten bleibt, die Vereinfachungen der klassischen NEWTONschen Gesetze im Bedarfsfalle durch "tiefere" mechanismische Erklärungen zu ersetzen, so bleibt es z. B. einer Systemtheorie der Evolution vorbehalten, das simplistisch-reduktionistische Mutations-Selektions-Erklärungsschema der Synthetischen Evolutionstheorie durch "tiefere" mechanismische Erklärungen zu vervollständigen, um auch Synorganisationsphänomene, Entwicklungstrends, Typostase, "rekurrente Variation", Parallelevolution usw. erklären und aus den inneren Systembedingungen heraus verstehen zu können (eine gute Zusammenfassung der aktuellen Erklärungsmöglichkeiten geben RIEDL und KRALL, 1994; RIEDL, 2003). In gleicher Weise bleibt es den Forschern in der "Biston-Frage" vorbehalten, das einfache, in den Lehrbüchern dargestellte Adaptationsszenario durch "tiefergehende" Faktoren zu ergänzen oder zu revidieren, ohne damit aber am "Paradebeispiel Birkenspanner" selbst zu rütteln.

Logische Falsifikationen sind gerade Antrieb der Forschung, deren Sinn darin besteht, stetige, gehaltsvermehrende Modifikationen an ihren Theorien vorzunehmen, um so etwas wie einen "Vektor der Forschritts" zu generieren (LAKATOS, 1974). Eindeutige, sichere Widerlegungen von so etwas Komplexem wie Theorien sind in der Wissenschaft aber nicht möglich, ja es wäre wissenschaftlicher Fortschritt gar völlig unmöglich, wenn revolutionäre Theorien nicht in aller Regel auf ihren imperfekten Vorgängern aufbauten, sondern sie statt dessen "aus dem Rennen" werfen würden (MAHNER und BUNGE, 2000, S. 80 und S. 129; CHALMERS, 2001, S. 73 f.).    

Alles in allem fragt man sich mit VOLLMER, 1985, S. 278 zurecht, wie es kommt, daß Evolutionsgegner ausgerechnet immer gerne POPPER zitieren, ihn aber kaum verstanden, seine Positionen schlecht recherchiert und/oder umgedeutet oder zumindest sehr selektiv rezipiert haben. Dies gilt umso mehr, als POPPER allen theistischen Spekulationen, die in jedem Falle schon eine logisch nicht widerlegbare Antwort (Schöpfung) parat halten und uns tieferes Nachforschen ersparen, eine deutliche Abfuhr erteilt hat:

"His [DARWINs] theory of adaptation was the first nontheistic one that was convincing; and theism was worse than an open admission of failure, for it created the impression that an ultimate explanation had been reached."

(POPPER, 1976, S. 172) (1)

                           

Schließlich läßt POPPER auch von der wissenschaftsphilosophischen - in der Evolutionskritik weit verbreiteten - Position des Empirismus (2) nicht viel übrig, wonach alle Theorien als "metaphysisch" bzw. "nicht naturwissenschaftlich" bezeichnet werden, deren postulierte Erkenntnisgegenstände sich nicht jederzeit und direkt beobachten, sich also nicht auf die (experimentelle) Erfahrung reduzieren lassen.

Zu dieser Kategorie zählen z. B. historische, vergangene Evolutionsabläufe, weil die weitreichenden Abstammungsrelationen bzw. "makroevolutionären" Prozesse nicht (mehr) direkt (experimentell) feststellbar sind. Somit nimmt es nicht Wunder, daß alle Evolutionsbelege als metaphysische, zirkelschlüssige "Deutungen" aufgefaßt werden, sofern ihnen kein Experiment vorangeht, welches die Evolutionstheorie jederzeit feststellbar und mit Sicherheit "beweist":

"Fast die gesamte phylogenetische Systematik aber steht und fällt mit der unbewiesenen Voraussetzung der Gesamtevolution! (...) Daß man hier einem Zirkelschluß zum Opfer fiel, wurde kaum bemerkt; das, was man beweisen wollte, daß nämlich Ähnlichkeit auf Entwicklung beruhe, setzte man einfach voraus und machte dann die verschiedenen Grade, die Abstufung der (typischen) Ähnlichkeit, zum Beweis für die Richtigkeit der Entwicklungsidee."

(LÖNNIG, 1998, URL: http://www.weloennig.de/Giraffe.html) - Hervorhebungen im Schriftbild von mir

                     

Abgesehen davon, daß sich hinter dem Zirkelschluß-Vorwurf teilweise eine Verwechslung zwischen Erklärungs- und Erkenntnisgrund (vgl. das obige MAHNER-Zitat), teilweise eine (unhaltbare) empiristische Grundhaltung verbirgt, wird auch hier die Rechnung wieder gänzlich ohne POPPER beglichen. Dessen Verdienst besteht ja unter anderem darin, die Unhaltbarkeit des Empirismus und die zum ihm gehörige (im populären Sinn verstandene!) "Beweisterminologie" in der Wissenschaftstheorie aufgezeigt zu haben, so daß er heute nur noch von relativ wenigen Wissenschaftsphilosophen konsequent vertreten wird. Entsprechend hatte er das komplette Schema der verifikationistischen Induktionslogik und die darauf aufbauende Vorstellung von der "Theoriefreiheit" und "Selbstevidenz" von Beobachtungen abgelehnt.

POPPER schreibt (Einschübe und Formate von mir):

"Der ältere Positivismus [Empirismus] wollte als wissenschaftlich oder legitim nur solche Begriffe anerkennen, die 'aus der Erfahrung stammen' (...) Der neuere Positivismus sieht meist deutlicher, daß die Wissenschaft kein System von Begriffen ist, sondern ein System von Sätzen, und will nur jene Sätze als 'wissenschaftlich' oder 'legitim' anerkennen, die sich auf elementare Erfahrungssätze (...) zurückführen lassen. Es ist klar, daß dieses Abgrenzungskriterium mit der Forderung der Induktionslogik identisch ist. Dadurch, daß wir die Induktionslogik ablehnen, sind auch diese Abgrenzungsversuche für uns unbrauchbar."

(POPPER, 1984, S. 9 f.)

Und weiter heißt es da auf S. 11:

"(...) Der positivistische [empiristische] Radikalismus vernichtet mit der Metaphysik auch die Naturwissenschaft: Auch die Naturgesetze sind auf elementare Erfahrungssätze logisch nicht zurückführbar. Wendet man das Wittgensteinsche Sinnkriterium konsequent an, so sind auch die Naturgesetze, die aufzusuchen 'höchste Aufgabe des Physikers ist' (...) sinnlos, d.h. keine echten (legitimen) Sätze (...)"

                                                           

Man sieht: Wissenschaftliche Sätze sind weder konsequent auf die (experimentelle) Erfahrung rückführbar noch streng verifizierbar. Fast alle wissenschaftlichen Theorien operieren mit gänzlich unbeobachtbaren Begrifflichkeiten (wie Atomen und Elementarteilchen, nichteuklidischen Räumen, Schwarzen Löchern oder eben "Makroevolution"), deren Existenz niemals sicher bewiesen werden kann. Wenn LÖNNIG also glaubt, mit experimentellen Daten (z. B. mit dem Phänomen der scheinbaren "Beschränktheit" des Mutationsgeschehens - der "Rekurrenten Variation" (3)) bereits interpretationsfreie und selbstevidente "Wahrheiten" in der Hand zu haben, dann hat er nicht verstanden, daß alle Beobachtungen "theorieimprägniert" sind und fordert von den Evolutionsbiologen eine Sicherheit ein, die in der Wissenschaft nicht zu bekommen ist.

Dieses Mißverständnis mag auch erklären, weshalb nach LÖNNIGs eigener Aussage "einer der führenden Vertreter der Synthetischen Evolutionstheorie (...) mich einmal - nachdem er zunehmend in Erklärungsschwierigkeiten in einer mündlichen Diskussion mit mir gekommen war - als 'Wahrheitsfanatiker' tituliert [hat]." Ich denke, wer die metatheoretischen Zusammenhänge verstanden hat, wird "diese Kategorisierung" schwerlich "als (...) Kompliment in diesem Zusammenhang auffassen (...)", denn sie rekurriert auf die Binsenweisheit, daß Wissenschaft weder "Wahrheiten" aufdecken, noch streng logische "Beweise" präsentieren kann. Insofern pflegt LÖNNIG ein falsches Selbstverständnis als Wissenschaftler und verbucht im Lichte dieses Irrtums die prinzipielle (!) Unmöglichkeit der Evolutionsbiologen, zu "ewigen (dogmatischen!) Wahrheiten", omnipotenten Erklärungen und sicheren Beweisen zu gelangen, als "Argumentationserfolg" im Dienste der omniexplanatorischen Schöpfungshypothese.

____________________________________________

Fußnoten:

(1) Was die prinzipielle Nichtwiderlegbarkeit der Schöpferthese anlangt, so braucht man sich nur einmal zu fragen, welcher Befund die Schöpfungshypothese vor grundsätzliche Erklärungsschwierigkeiten stellen würde. Die Evolutionstheorie läßt z. B. bei Lebewesen abgestufte Formenähnlichkeiten erwarten, Muster der Ordnung, die sich in ein hierarchisches Stammbaum-Schema eingliedern lassen. Die Evolutionskritiker weisen hier zurecht darauf hin, daß die Hierarchie durch Inkongruenzen (Konvergenzen) gestört wird, die zwar nicht im Widerspruch zum Deszendenzgedanken stehen (denn die hierarchisch abgestufte Formenähnlichkeit wird ja nicht völlig aufgehoben), wohl aber den Biologen dazu zwingen, seine Theorien gehaltsvermehrend zu revidieren oder mit wissenserweiternden (und testbaren) Stützhypothesen anzureichern, damit die Theorie auch diese Fälle erklärt. Dahingegen läßt sich mit der Schöpfungsthese sowohl das perfekt kongruente, das durch Konvergenzen gestörte sowie auch der Fall des totale Fehlen von "Ähnlichkeitsmustern" völlig problemlos (!) erklären. Das heißt, man braucht dazu keine gehaltsvermehrenden Stützhypothesen ins Schöpfungsmodell einzuflechten, weil es omniexplanatorisch ist (eine "ultimate explanation" liefert), so daß kein Wissensfortschritt möglich ist.

               

(2) Der Empirismus ist eine erkenntnistheoretische Richtung, die im angelsächsischen Raum auf BACON, LOCKE und HUME zurückgeht. Neuere Vertreter des (logischen) Empirismus (Neopositivismus) sind beispielsweise CARNAP, REICHENBACH und STEGMÜLLER. So glaubte CARNAP, 1931, wissenschaftlich sinnvolle Aussagen ließen sich stets auf "Protokollsätze" (Beobachtungsaussagen) zurückführen; die Beobachtung sei gleichsam als selbstevidente und "objektive Tatsache" und als einzig verlässliche Basis für die naturwissenschaftliche Beweisführung aufzufassen. In Abwandlung der empiristischen Forderung nach "theoriefreier Beobachtung" wird auch von der experimentell reproduzierbaren Beobachtung eines theoretisch behaupteten Faktums als Voraussetzung für den naturwissenschaftlichen Charakter der Theorie gesprochen (BENVENISTE, 1988, S. 291). Aber hinter dieser Forderung steckt natürlich auch nichts anderes als die Prämisse, daß hypothetisierte Fakten (z. B. die Abstammung der Arten von einem gemeinsamen Vorfahren) vor dem Erreichen der wissenschaftlichen Erkenntnis theoriefrei durch die Beobachtung "bewiesen" sein müssen (CHALMERS, 2001, S. 14). Auf dieser Vorstellung gründet die sogenannte Induktionslogik, wonach Theorien generell durch Verallgemeinerung von Beobachtungsaussagen gewonnen und/oder "bewiesen" werden. Die "Verifikation" gilt im Empirismus als wissenschaftliches Abgrenzungskriterium, das heißt alle über die direkte Beobachtung hinausgehenden Daten-Interpretationen sowie kognitiv (rational) begründete Theorien werden ins Reich des "Metaphysischen" verbannt.

                         

(3) Tatsächlich läßt sich die "Rekurrente Variation" auch evolutionstheoretisch verstehen, wie dies z.B. RIEDL im Rahmen der Systemtheorie der Evolution deutlich gemacht hat. So bestehen aufgrund der hierarchisch miteinander verschalteten Gen- und Merkmalssysteme "Bürden", das heißt zahlreiche Mutation haben katastrophale Folgen für das System und nur wenige sind erfolgversprechend. Die Evolution verläuft daher streckenweise in durch die Systembedingungen vorgegebenen Entwicklungsbahnen, wodurch zahlreiche (durch die Synthetische Evolutionstheorie unerklärte) Phänomene, wie etwa die Stetigkeit von Merkmalen, Rekurrenz-Effekte, die Existenz "lebender Fossilien", Evolutionstrends und die Hierarchie des natürlichen Systems verständlich werden (RIEDL, 1975/1990, 2003; RIEDL und KRALL, 1994). Neue bzw. niedrig bebürdete Merkmale besitzen dagegen mehr evolutionäre Freiheitsgrade und könnten (auch bei veränderten Systembedingungen) einen "explositionsartigen" Formenwandel einleiten, gefolgt von langen Zeiten der Merkmals- und "Typen-Konstanz" (Typostasis).

                                                                                                                                                                           

GOWEBCounter by INLINE  


Homepage          Zur Inhaltsübersicht          Vorhergehender Abschnitt         Nächster Abschnitt
                                    

Copyright (c) by Martin Neukamm, 05.10.03