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III. Über
die Systemtheorie der Evolution
"Makroevolution" und
Evolutionsmechanismen
1.3.3. Das Problem der "unfertigen Zwischenformen"
Über die Doppelfunktion von Organen
Biologische Strukturen sind meist komplexe Funktionseinheiten, die sich aus
mehreren Komponenten zusammensetzen. Alle Teile harmonieren wie die Räder
in einem Uhrwerk, sie bilden ein geschlossenes Ganzes. Aus diesem Grunde
kommt es beim Ausfall auch nur eines Elements in der Regel zum völligen
Versagen der Funktion, die Strukturelemente der Funktionseinheit "zerfallen"
in zusammenhanglose Fragmente, eine sinnvolle Synorganisation kommt nicht
mehr zustande.
Damit steht nun aber mit einem Male die Synthetische Theorie der Evolution
scheinbar vor der Aussichtslosigkeit, die Bildung einer neuen Struktur
additiv-typogenetisch, also über zahlreiche positiv selektionierte
Zwischenstufen zu erklären, denn es scheint einsehbar, daß "unfertige"
Baupläne und die Entstehung einzelner Strukturelemente als Teile eines
komplexen Organisationstyps keine Selektionsvorteile besitzen können,
weil sie allein noch keine Funktion erfüllen. Diese Tatsache wird von
Antievolutionisten durchaus erkannt und geschickt genützt, um Zweifel
an der Evolutionstheorie zu sähen. Sie legen Beispiele vor, denen nicht
nur der Laie hilflos gegenübersteht, sondern bei denen auch Experten
im Hinblick auf das Faktorensystem der Synthetischen Evolutionstheorie in
Erklärungsnöte geraten.
Als beliebte Beispiele zur Illustration der Problematik haben sich etwa die
Entstehung des Auges, die Bildung der raffinierten Insektenfalle des gemeinen
Wasserschlauchs oder die Entwicklung des Fangapparats der fleischfressenden
Kannenpflanze Nepenthes etabliert (vgl. JUNKER und SCHERER, 1998, S.
80 f.)
Im Falle der Kannenpflanze dient eine kannenförmig ausgebildete
Blattspreite als Insektenfalle. Die "Beute" wird mithilfe eines
farbigen Blattdeckels oder Nektardrüsen
angelockt, die am glitschigen Kannenrand ins Falleninnere
abrutscht. Die Tiere werden schließlich durch Enzyme
verdaut. Solche Beispiele komplexer Funktionsbaupläne scheinen den
Schluß nahezulegen, daß die Organe evolutiv entweder nur "komplett"
entstehen konnten (was aus statistischen Gründen ausgeschlossen erscheint)
oder aber gar nicht. Denn:
"Ein Selektionsvorteil ist nur im fertig ausgebildeten
Zustand gegeben; "unfertige" Zwischenstufen sind biologisch wertlos und werden
durch stabilisierende Selektionswirkung ausgemerzt (...) Die Darwinsche Selektion
kann die Entstehung der betreffenden Struktur nicht nur nicht erklären,
sondern hätte sie sogar verhindern müssen."
(JUNKER und SCHERER, 1998, S. 81)
Wie wir in Kapitel I festgestellt haben, sind offene Faktorenfragen
noch keine Widerlegung der Abstammungslehre, denn sie kann sich ja
unabhängig von der Kausalproblematik auf eine Reihe von Belegen
stützen (siehe Kapitel V). Sie werden jedoch in Argumente
umgemünzt um zu zeigen, daß diese Probleme vorerst noch ungelöst
sind und mithilfe evolutionstheoretischer Mittel auch nicht lösbar seien:
"Dazu gibt es zwei Strategien. Der Evolutionsgegner
appelliert entweder an die Intuition seines Gesprächspartners und
versichert, daß etwas so Kompliziertes (und Schönes) wie das erste
Lebewesen oder das menschliche Auge doch unmöglich 'durch Zufall' entstanden
sein könne, wie es die Evolutionstheorie behauptet. Oder er gibt dem
Einwand eine mathematische Scheinpräzision und weist nach, daß
für die Entstehung des fraglichen Merkmals mindestens so und so viele
Teilschritte erforderlich seien und daß die Wahrscheinlichkeit, alles
diese Schritte zufällig und gleichzeitig zu bekommen, extrem klein und
damit das Auftreten des Merkmals (also z.B. des Auges) praktisch unmöglich
sei (...) Fast jede neue Entdeckung der Biologie verstärkt diesen Eindruck
und macht die Alternative 'Komplexität oder Zufall?' sogar noch
überzeugender."
(VOLLMER, 1986, S. 21 f.)
Das Problem besteht in dieser Form jedoch nicht, weil "Makroevolution" nicht
in der Weise stattfinden muß, wie es im Antievolutionismus Gegenstand
der Diskussion zu sein scheint.
Zunächst ist festzustellen, daß auch komplexe Funktionseinheiten
schrittweise entstehen können, wenn die tragende Rolle von
Doppelfunktionen in der Evolutionsbiologie hinreichend
Berücksichtigung findet. In diesem Sinne können einzelne
Funktionselemente durchaus unabhängig voneinander entstanden sein und
einen Selektionsvorteil besitzen, wenn sie Primärfunktionen erfüllen,
die mit der Funktion der später daraus evolvierten Baupläne nicht
im Zusammenhang stehen. Es kann nicht überraschen, daß sich die
opportunistisch angelegte Evolution immer wieder Ressourcen, die schon
vorhanden und unabhängig von der heutigen Funktion evolviert sind,
bedient - ja geradezu bedienen muß - und unter Abwandlung der
primären Funktion in eine andere neue Funktionstypen schafft.
"Die Frage, die sich der Evolutionsbiologe
grundsätzlich stellen muß, wenn er kausalanalytisch interessiert
ist, lautet also: 'Welche Doppelfunktion (Mehrfachfunktion) ist es, bei der
die langfristige positive Bewertung der einen Funktion die andere Funktion
ganz nebenbei zur Funktionsreife bringen konnte?' (...) In vielen Fällen
erfordert die Antwort auf diese Frage gar keine neuen empirischen Fakten,
sondern nur eine Änderung der Blickrichtung."
(VOLLMER, 1986, S. 25)
Die Hypothese, daß Organe ihre Funktion wechseln oder mehrere Funktionen
gleichzeitig ausüben können, stellt nun beileibe keine wilde
Spekulation dar, sondern gehört mittlerweile zu den empirisch
wohluntermauerten Grundeinsichten in der Evolutionsbiologie. So kann etwa
ein Insektenbein "Laufbein, Grabschaufel, Kiefer,
Saugrüssel, Lauterzeugungsorgan, Ruder, Teil des Begattungsorgans
oder der Legeröhre werden." Funktionswechsel und
Vielfachfunktionen sind also "Grundtatsachen in der Phylogenese"
(vgl. REMANE et al., 1973, S.122 ff.).
In Anlehnung an diese und ähnliche Beispiele sind wir nun in der Lage,
den Nachweis, daß die Einzelschritte in Richtung auf das fertige Organ
infolge des Bestehens von Doppelfunktionen tatsächlich positiv selektioniert
werden, beim Auge oder beim Flugapparat der Vögel tatsächlich zu
führen und weitere Beispiele für das Prinzips "Doppelfunktion"
anzugeben:
Beispiele:
-
Der Augenfleck der einzelligen Grünalge "Euglena" dient der Erzeugung
eines Schattens, der auf eine lichtempfindliche Stelle fällt. Der Einzeller
weiß so, wo "Licht" und wo "Schatten" ist und kann sich entsprechend
orientieren. Bei Mehrzellern können mehrere solcher spezialisierter
Zellen zur Orientierung freigestellt werden, bei niederen Wirbellosen werden
diese Zellen schließlich in einer schützenden Vertiefung
untergebracht. Die ursprünglich als "Schutzfunktion" erworbene evolutive
Neuheit erfüllte eine unabsehbare Doppelfunktion, die mit einem
Male zufällig ein "Richtungs- und Bewegungssehen" ermöglichte:
Das "Becherauge" war entstanden. Eine günstige Adaptation
vergrößerte aus Schutzgründen die Vertiefung immer mehr und
schloß das Becherauge bis auf eine kleine Lichtöffnung. Wieder
war es eine Doppelfunktion, die den glücklichen Umstand fügte,
daß sich so nebenbei ein Organ bildete, das erstmals neben dem "Richtungs-
und Bewegungssehen" ein scharfes Abbild der Umwelt lieferte: Das
"Lochkamera-Auge" ("camera obscura") vieler höherer Wirbelloser war
entstanden. Und erneut wurde die Evolution aus Gründen des Schutzes
dazu "veranlaßt", das Auge durch ein lichtdurchlässiges Häutchen
zu schließen und es mit einer gallertartigen Substanz zu füllen.
Wie nebenbei ergab sich so abermals eine Doppelfunktion, die die
Möglichkeit zur Verbesserung der optischen Eigenschaften des Auges schuf,
insbesondere zur Bildung einer Sammellinse, die dann Bildschärfe und
Lichtstärke im Linsenauge der Wirbeltiere glücklich vereint.
-
Bei fossilen wechselwarmen, flugunfähigen Theropoden (Reptilien) wurden
Protofedern gefunden, die offenbar der Wärmeisolation dienlich waren
(vgl. PADIAN, 1999). Darüber hinaus waren leichte, aber
stabile Knochen, wie man sie ebenfalls bei solchen Theropoden nachgewiesen
hat, auch für ein flugunfähiges Reptil nicht wertlos, denn sie
erhöhen die Bodenschnelligkeit, erleichtern das Klettern, Fallen und
könnten sich bei Luftsprüngen als vorteilhaft erweisen. Erst viel
später mag sich herausgestellt haben, daß die Federn, der
reptilienartige Schwanz und die Hohlknochen zusammengenommen einen primitiven
Gleitflug ermöglichten, also Doppelfunktionen ausübten.
-
Die Lungensäcke des Quastenflossers bildeten sich aus Ausstülpungen
der Speiseröhre. Durch Verschlucken von Luft (und anschließende
Sauerstoff-Absorption) konnten die Tiere die Sauerstoffarmut der
Devon-Sümpfe ausgleichen, worauf natürlich ein starker Selektionsdruck
stand. Die Wandung der Speiseröhre übernahm damit offenbar eine
Doppelfunktion.
-
Das Insulin erfüllt eine wichtige Funktion bei der Regulierung des
Blutzuckerspiegels. Es hat sich herausgestellt, daß es einem
Nervenwachstumsfaktor (NWF) im molekularen Aufbau ähnlich (homolog)
ist. Darüberhinaus, zeigt das Insulin eine interessante
Doppelfunktion, denn es ermöglicht das Überleben von Neuronen
in Kultur und wirkt ebenso wie der NWF als neurotrophischer Faktor, so daß
"es denkbar wäre, daß durch Genduplikation
und Mutation das Gen für den Nervenwachstumsfaktor sich aus einem
Urinsulingen entwickelt hat."
(HAKEN, HAKEN-KRELL, 1989, S.
139)
(Beispiele teilweise zitiert aus: VOLLMER, 1985, S. 23 ff.)
Natürlich bleibt die Aufgabe, für jeden Bauplan und jedes Organ
bei den über 2 Millionen rezenten Arten eine vollständige
phylogenetische Erklärung über Doppelfunktionen (und Kopplung von
Genen) zu liefern, ungeachtet der Tatsache, daß für sehr viele
Beispiele immerhin Modellvorstellungen entworfen werden konnten, ein
hoffnungsloses Unterfangen. Es wirft sich also die Frage auf, für wieviel
Merkmale von Organismen denn noch Doppelfunktionen nachgewiesen werden
müssen, damit die Evolutionstheorie endlich als hinreichend gesichert
und die Evolutionsfaktoren als vollständig angesehen werden.
Sicherlich wird es einem uneinsichtigen Antievolutionisten nie an Beispielen
mangeln, um auch nach hundert geglückten phylogenetischen Erklärungen
zu zeigen, daß die Entstehung vieler Organe noch der
evolutionstheoretischen Erklärung harrt.
"Dieses Argumentationsmuster wird sich aber
schließlich doch leerlaufen; es muß einfach langweilig werden.
Deshalb sei auf die pragmatische Frage 'wann sollen wir diesen Dialog endlich
abbrechen?' auch pragmatisch antworten: 'Dann, wenn wir nicht mehr
befürchten müssen, daß unseren Kindern in der Schule eine
kreationistische oder deutlich anti-evolutionistische Lehre als mit der
Evolutionstheorie gleichwertig, als wissenschaftlich vertretbar oder gar
als überlegen angepriesen wird; dann also, wenn 'Affenprozesse' wirklich
keine Aussicht mehr auf Erfolg haben.' "
(VOLLMER, 1986, S. 28)
Natürlich hat es nicht an Versuchen gefehlt, zwischen jeder aufgefundenen
Doppelfunktion, die einen selektionsbegünstigten Zwischenschritt
begründet, und einer nächsten weitere Doppelfunktionen und
Zwischenschritte zu verlangen:
"Weiter ist der Schritt zur Feder von Reptilienschuppen
ausgehend immer noch gewaltig, auch wenn die Federn zunächst nur zum
Wärmen verwendet wurden (...) Selbst die besten Federn würden das
Fliegen nicht ermöglichen, solange die Federn nicht zu einem passenden
Federkleid organisiert sind."
(JUNKER und SCHERER, 1998, S. 89)
Die Einforderung beliebig weiterer Zwischenschritte ist meist charakteristisch
für die Argumentation des Kreationismus, kann jedoch aufgrund der oben
ausgeführten Argumente letztlich nicht überzeugen. Daneben wird
jedoch vermehrt eine grundsätzliche Kritik am "Modell der Doppelfunktion"
geübt:
"Aber auch ein Federkleid würde ohne passende
Veränderung und zusätzliche Anordnung von Muskeln, Sehnen, Nerven
und Blutgefäßen sowie einem passend veränderten Gehirn noch
nicht genügen. Welcher Selektionsdruck soll dann für dessen Entstehung
bzw. für die Flugtauglichkeit einfacher 'Wärmefedern'
sorgen?"
(JUNKER und SCHERER, 1998, S. 89)
Die als "Koadaptations- oder Synorganisationsproblem" geläufige Thematik
haben wir oben schon abgehandelt, und wir haben begründet, weshalb es
sich in der Systemtheorie der Evolution, die als Weiterentwicklung der
gewiß noch imperfekten Synthetischen Theorie der Evolution aufzufassen
ist, nicht erhebt. Wir wollen nochmals herausstreichen, daß das
epigenetische System ein komplex verschaltetes und hierarchisch gegliedertes
Regulationssystem darstellt, so daß wir mit RIEDL zwingend fordern
müssen, daß komplexe adaptive Veränderungen nicht durch eine
Vielzahl von Einzelmutationen zustandekommen, sondern umgekehrt, jede Mutation
stets mehr oder minder das ganze System beeinflußt. Es ist klar, daß
die Systemisierung der Gene, die den Aufbau von Muskeln, Sehnen, Nerven und
Blutgefäßen sowie von denjenigen Genen, die für die Ausbildung
von Federn verantwortlich sind, ungeheure Selektionsvorteile mit sich bringt.
Es sei in diesem Zusammenhang nochmals betont, daß solche Regulationsnetze
nicht spekulativer Natur sind, sondern tatsächlich existieren, das
heißt, empirisch nachgewiesen werden konnten (wie wir etwa am Beispiel
des Pax6-Gens bei Drosophila gesehen haben). Ebenso experimentell
untermauert sind vielschichtige Veränderungen der Phänotypen durch
einfache Eingriffe ins epigenetische System sowie das Phänomen der
Pleiotropie, Phänomene, die makroevolutive, systemische Veränderungen
überhaupt erst verstehbar machen (vgl. LORENZEN, 1988; WUKETITS,
1988, S. 145 sowie HARMS, 1934). Die Natur des epigenetischen Systems
ermöglicht damit aufgrund einfacher Mutationen schon eine schrittweise
Anpassung des gesamten Systems.
1.4. Kritik an der Systemtheorie der Evolution
Es lohnt sich, hier die systemtheoretischen Zusammenhänge in dieser
Ausführlichkeit zu erwähnen, weil wir nunmehr auch mit der Frage
nach der Wahrscheinlichkeit der ganz spezifischen Kopplung (Systemisierung)
von Genen zu einem konkreten Regelnetzwerk, wie sie im Antievolutionismus
zum Zwecke der Destruktion der Evolutionstheorie aufgeworfen wird, umgehen
können:
"Wie könnte die postulierte Gen-Verschaltung
erfolgen? Man müßte annehmen, daß folgendes gleichzeitig
geschieht: 1. eine Promotor-Region wird verdoppelt (Duplikation). 2. Sie
wird unter mehreren 1000 Genen an genau die passende Stelle vor die zu koppelnden
Gensequenzen eingebaut. 3. Es muß außerdem noch angenommen werden,
daß die jetzt gekoppelten Gene vorher unter einer anderen Regulation
standen, die nicht einfach ersetzt werden kann (...) Der gesamte gedachte
Vorgang ist bei Betrachtung der zugrundeliegenden molekularen und genetischen
Strukturen als Evolutionsmechanismus kaum akzeptabel."
(JUNKER und SCHERER, 1998, S. 93)
Wir können nun jedoch einsehen, daß der Wahrscheinlichkeitseinwand
nicht fruchtet. Zunächst ist festzustellen, daß keinesfalls
"unter mehreren 1000 Genen an genau die passende Stelle die zu koppelnden
Gene" so und nicht anders eingebaut werden mußten, wie wir es heute
vorfinden. Denn ein ungekoppelter Zustand ist gleichbedeutend mit einer hohen
Entscheidungsfreiheit, der mit einem geringen Maß an
Entscheidungsnotwendigkeit bzw. mit einer großen Zahl
an Anpassungsmöglichkeiten korreliert.
Umgekehrt führt steigende Systemisierung zwar zu vermehrter
Entscheidungsnotwendigkeit (ergo zu einer sinkenden Zahl an
Anpassungsmöglichkeiten), weil "Genfunktionen (...) ein kompliziertes
Wirkungsgefüge bilden" und der "Vorgang (der Systemisierung)
Folgelasten mit sich brächte, die ebenfalls gleichzeitig durch weitere
passende Mutationen ausgeglichen werden müßten." (JUNKER
und SCHERER, 1998, S. 93) Steigende Systemisierung führt dafür
aber zu einer Erhöhung der Realisierungschance eines bestimmten
vorteilhaften Zustandes, was RIEDL explizit hervorhebt:
"Die Erfolgschancen der Zufallsänderung von
Entscheidungen und jene der Notwendigkeiten der Ereignisse (der Merkmale)
sind voneinander nicht unabhängig (...) Dabei zieht das Wachsen bestimmter
Notwendigkeiten einen Abbau der Möglichkeiten des Zufalls nach sich,
während dieses verringerte Repertoire der Entscheidungen eine Kanalisation
der möglichen Ereignisse zur Folge hat (...) Die funktionelle Bürde
vieler Merkmale und der selektive Ausschuß wachsen. Gleichzeitig aber
werden im Fall gleichbleibender Anpassungsziele zahlreiche Entscheidungen
redundant (...) Der Anpassungsvorteil steigt dabei exponentiell mit der Zahl
der vermeidbaren Entscheidungen, wobei die Zunahme der Realisierungschancen
eines bestimmten Zustandes wieder der Abnahme der Möglichkeiten des
Zufalls entspricht (...)"
(RIEDL, 1990, S. 352 f.)
RIEDL sieht mit anderen Worten sehr wohl den von JUNKER und SCHERER aufgeworfenen
Fall der Zunahme von Folgelasten als ein Anwachsen der "Bürde" infolge
zunehmender Systemisierung. Entsprechend führt dies zu einer
Verschärfung der inneren Selektion und damit zu einer Kanalisierung
in der weiteren Entwicklung. Der von den Antievolutionisten konstatierte
bestürzende Effekt stellt sich bei den Koryphäen auf dem Gebiete
der Systemtheorie jedoch nicht ein, weil sie erkennen, daß aus der
"genetischen Bürde" höhere Realisierungschancen und Adaptationsvorteile
synorganisierter Strukturen erwachsen, wodurch die angeführten "Nachteile"
wieder aufgewogen werden.
"Was soll also der Zufall in der Evolution? Er hat
nur dort einen Sinn - und wir wissen, daß das Schicksal jeder Art auf
ihn angewiesen ist -, wo die Chancen seiner Ereignisse groß sind, wo
ihm selbst möglichst wenig Raum gegeben ist: In der schmalsten Gasse
zwischen fest etablierter Gesetzmäßigkeit. Phylogenie ist das
Verschließen möglichst vieler Löcher im Roulette."
(RIEDL, 1990, S. 176)
Anders ausgedrückt: Scharfe innere Selektion, Bürde und
Kanalisierung des Entwicklungsgeschehens sind keine Problemfälle der
Systemtheorie, sondern bilden im Gegenteil geradezu das Zentrum des
Erklärungsansatzes, aus dem eine Reihe von Problemen überhaupt
erst gelöst werden können. Zudem zeigen Experimente, daß
systemische Veränderungen keinesfalls "theoretisch inakzeptabel" sind
sondern entgegen allen Behauptungen zumindest ansatzweise durch gezielte
Eingriffe ins epigenetische System vielfach im Phänotyp kopiert oder
gar molekulargenetisch nachgewiesen werden können (vgl. HARMS,
1934; LORENZEN, 1988; MORELL, 1999; MÜLLER, 1985; RIEDL, 1975, S. 236
sowie WUKETITS, 1988, S. 145).
Schließlich wird von JUNKER und SCHERER (a.a.O.) am
Beispiel der Umspezialisierung der "reptilischen" Kiefergelenkknochen zu
den Gehörknöchelchen der Säugetiere die Tauglichkeit der
Systemtheorie der Evolution als Erklärungsansatz mit folgendem Argument
bestritten:
"Die Gehörknöchelchen Hammer und Amboß
werden von reptilischen Kiefergelenkknochen abgeleitet. (...) (Es) muß
bei einer Umwandlung von Kiefergelenkknochen in Knöchelchen ganz anderer
Funktion davon ausgegangen werden, daß das Regulationssystem, welches
für das Funktionieren des Kauapparates notwendig ist, zeit- und teilweise
hätte aufgelöst werden müssen, was kaum von der inneren Selektion
'zugelassen' worden wäre."
Die Vermutung, daß die innere Selektion generell alle progressiven
Veränderungen eines Bauplans ausmerzen müsse weil sie
Funktionsausfälle zur Folge habe, wurde nun aber just an diesem Beispiel
nachgerade durch den Fossilienbefund widerlegt. Denn was die Autoren verschweigen
ist der Umstand, daß nachgewiesenermaßen eine Zeit lang
primäres (Quadratum-Articulare) und sekundäres Kiefergelenk (Squamosum
-Dentale - Deckknochen) gleichermaßen für den Kauapparat
bereitgestellt wurden (siehe Kapitel II und REMANE, 1973,
S. 26). Es gab also keinen "plötzlichen" Wegfall der Kaufunktion,
sondern wohl einen schrittweisen Funktionswechsel. Entsprechend widerlegen
diese Beobachtungen LÖNNIGs Zweifel an der Tauglichkeit des
systemtheoretischen Konzepts, der auf seiner Homepage folgende Frage
stellt:
"Reicht es, dass man alle Gene unter die Kontrolle
eines Hauptschalters wie Pax6 bringt und damit ausprobiert, ob die Augen-Funktion
besser wird? Bedeutet eine solche Kontrollübertragung nicht zugleich
den Funktionsausfall dieser Gene für zahlreiche andere lebensnotwendige
Funktionen?"
Wir sehen anhand der Evolution des sekundären Kiefergelenks, daß
- ungeachtet eines steigenden "selektiven Ausschusses" infolge der Systemisierung
von Genen - eben doch gangbare Wege existieren, um ein System kooperativ
umzubauen. Der postulierte Funktionsausfall folgt also nicht
zwingend.
Freilich, und damit seien auch offene Fragen angesprochen, liegt es an der
kausalen Evolutionsforschung, vermehrt die Implikationen der Theorie empirisch
zu prüfen und das Theoriengebäude "mit Inhalt" zu füllen.
Es werden Untersuchungen der Struktur epigenetischer Systeme nötig sein
um zu erkennen, welche konstruktiven Zwänge der morphogenetischen
und evolutiven Entwicklung die Richtung weisen. Erste Schritte in diese Richtung
sind bereits unternommen worden. Nichtsdestotrotz wird der Erklärungswert
der Systemtheorie der Evolution von Antievolutionisten in Zweifel gezogen;
es wird behauptet, daß auch sie fundamentale Probleme der Synthetischen
Theorie nicht lösen könne:
"Mit der Systemtheorie der Evolution (...) kommt
man (...) nicht wesentlich weiter. Denn die Systemtheorie kann (...) auch
keine Antwort auf die Frage geben, welcher Selektionsdruck die Entstehung
der einzelnen (Teile eines Bauplans) veranlassen konnte. Sie kann nicht
begründen, weshalb verschiedene für das Funktionieren des fertigen
(Bauplans) notwendige Gene irgendwann einmal während der Entstehung
(...) zusammengeschaltet worden sein sollten."
(JUNKER und SCHERER, 1998, S. 92)
Wir haben jedoch in Kapitel II. am Beispiel der Entwicklung der
Gehörknöchelchen aufgezeigt, welche Selektionsdrücke gewirkt
haben und damit im Sinne der Synthetischen Theorie eine (wenn auch
unvollständige) Erklärung geliefert. Entgegen Junker und
Scherer liegt die Stärke der Systemtheorie darin, daß ihren
Erklärungen vollständiger sind, weil sie Evolution unter
Einbeziehung entwicklungsbiologischer Aspekte erfaßt. In
diesem Kontext erweisen sich die evolutiven Neuheiten als nichtadaptiert
in dem Sinne, daß keine äußeren Selektionsdrücke die
Ausbildung bestimmter Strukturen begünstigen müssen, sondern daß
umgekehrt die Strukturbildung inneren (epigenetischen)
Gesetzmäßigkeiten (Zwängen) folgt, denen zufolge die Organismen
"neue adaptive Zonen" besetzen (RIEDL, 1990).
"Es kann also beim besten Willen die Entstehung
landbewohnender Wirbeltiere nicht durch bloße Umwelteinwirkungen
erklärt werden. Soll denn ein Fisch 'unter dem Druck der neuen Umwelt'
zu einem Amphibium werden!? Im Gegenteil, es waren bestimmte Fischformen
(...) die dazu prädisponiert waren, den Schritt zum Landleben zu vollziehen,
die also nicht darauf warteten, daß sich die Umwelt ändern wird
und sie sich dann an die neuen Umstände erst anzupassen haben werden
(...) Anpassung allein scheint also nicht den Schlüssel einer Lösung
zu enthalten."
(WUKETITS, 1988, S. 103 f.)
Und RIEDL schreibt:
"Wer immer glaubte, 'innere Bedingungen' annehmen
zu müssen (...) der erwartete hier zutreffenderweise des Pudels Kern
(...) Es sind die Gesetzmäßigkeiten im Inneren des epigenetischen
Systems, die dem Sinn, dieser Richtung ihre causa geben."
(RIEDL, 1990, S. 385)
Die Kritik, die der Adaptationismus in neuerer Zeit erfuhr, ist auf dieser
Basis verständlich. GOULD und LEWONTIN vertreten den Standpunkt, daß
- so wie die Struktur großer Bauwerke durch architektonische Zwänge
und Randbedingungen determiniert sind - auch das Leben der Organismen und
deren Evolution durch die ihnen eigenen Baupläne und nicht einfach durch
Umwelterfordernisse bestimmt wird. (GOULD und LEWONTIN, 1984).
In die Kritik am Anpassungsparadigma fügt sich auch die
Neutralitätstheorie der Evolution nahtlos ein, die ebenfalls die Auffassung
verwirft, alle biologischen Strukturen seien das Resultat von Anpassung und
müßten durch Selektionsdrücke begünstigt werden
(KIMURA, 1979). Dazu ist abermals WUKETITS zu zitieren, der
feststellt:
"Obwohl die Theorie mit so mancher anderen Theorie,
die solche Mechanismen postuliert, nicht viel gemein hat, gehört sie
dennoch insofern in den Bereich dieser Theorien, als sie die Gültigkeit
des Selektionsprinzips, verstanden vornehmlich als 'Prüfung' durch die
Umwelt der Organismen, relativiert. Nach der Neutralitätstheorie soll
keineswegs jede Änderung, keineswegs jede genetische Variation durch
die Auslese 'getestet' werden (...) Die Selektion ist demnach nicht mehr
das Zauberwort."
(WUKETITS, 1988, S. 107)
JUNKERs und SCHERERs Einwand wäre also als Kritik am "strengen
Adaptationismus" der Synthetischen Theorie der Evolution durchaus gerechtfertigt,
in der Systemtheorie der Evolution läuft er dagegen ins Leere. In diesem
Sinne können verschiedene neue Gene bzw. Genkombinationen und Merkmale
entstehen, die nicht unbedingt von der Umwelt selektioniert werden müssen.
Daher ist auch die Frage falsch gestellt, welchen "entscheidenden
Selektionsvorteil die ersten kleinen Ausstülpungen der Speiseröhre
gehabt haben".
Um grundsätzlichen Mißverständnissen vorzubeugen: Niemand
behauptet, daß die Entstehung eines komplexen Organs in einem Schritt
oder ausschließlich über nichtselektionierte Etappen entstehen
könne, denn es ist unzweifelhaft, daß:
"eine funktionslose Struktur desto unwahrscheinlicher
wird, je weiter sie vom erprobten und optimal ausgelegten Normaltyp
abweicht."
(VOLLMER, 1986, S. 18)
Dennoch kommt man nicht umhin, einfache Innovationen, das heißt kleine
und mittlere systemische Veränderungen in Richtung einer makroevolutiven
Anpassung an neue adaptive Zonen, (etwa die "kleinen Ausstülpungen der
Speiseröhre", die sich in Richtung einer Lunge weiterentwickelten),
andere vielschichtige Merkmalsveränderungen von Phänotypen (wie
sie beim Übergang von einem Organisationstyp zum anderen auftreten und
oben am Beispiel des Schlammspringers diskutiert wurden) oder etwa die
Umfunktionierung eines Blattes in ein Kannenblatt als das Resultat innerer
Entwicklungszwänge zu erkennen, die zunächst nicht
unter dem Einfluß externer Selektion stehen.
Die Umwelt-Selektion kommt erst dann ins Spiel, wenn das neue Merkmal eine
entsprechende Weiterentwicklung (im Falle der Ausstülpungen der
Speiseröhre in Richtung Lunge) erfahren hat, das in einer neuen adaptiven
Zone einen Vorteil mit sich bringt. Entsprechend verhält es sich mit
den Strukturelementen aller Baupläne.
Doch ungeachtet dieser veritablen fachlichen Schnitzer fügen - die Biologen
- JUNKER und SCHERER ihren Einwänden noch einige weitere kuriose
Behauptungen hinzu:
"Die Vertreter der Systemtheorie der Evolution (...)
halten zur Behebung des Erklärungsmangels eine Theorieerweiterung oder
sogar eine Ersetzung der Synthetischen Theorie für erforderlich (...)
Sie decken im wesentlichen nur wenig beachtete Voraussetzungen für ein
Verständnis von Makroevolution auf, ohne plausible Mechanismen dafür
bestimmen zu können."
(JUNKER und SCHERER, 1998, S. 93)
Diese kraftvollen Äußerungen verstärken den Eindruck, daß
die Autoren weder die Systemtheorie der Evolution vollends verstanden haben
noch die gesamte Literatur zu dieser Frage kennen:
Zunächst versteht kaum ein Architekt der Systemtheorie diese als
konkurrierenden Ansatz zur Synthetischen Theorie der Evolution, sondern als
eine Weiterentwicklung derselben. WAGNER hat entsprechend kritische
Äußerungen hinsichtlich der Kompatibilität beider Theorien
zurückgewiesen (WAGNER, 1983). Richtig ist, daß
in einer ersten Formulierung der Systemtheorie die Erkenntnisse beider Theorien
berücksichtigt wurden (RIEDL, 1975, 1990). Obgleich sich
der strenge Adaptationismus nicht mit der Systemtheorie vereinbaren
läßt, ist sie mit dem Gradualismus der Synthetischen Theorie vereinbar
und schließt in einem erweiterten Kausalitätsprinzip ihre Erfolge
ein (WUKETITS, 1988). Die Wechselwirkung von Mutation und Selektion
als Wirkfaktor der Evolution wird nicht aufgegeben sondern um den Aspekt
innerer Entwicklungsprinzipien bereichert (das ist übrigens ein
Erkennungszeichen jedes progressiv fortschreitenden Forschungsprogramms in
der Wissenschaft). Entsprechend versteht auch RIEDL seine Theorie als
Weiterentwicklung des synthetischen Ansatzes und erkennt die Kompatibilität
systemischer und konventioneller Aspekte und schreibt versöhnlich:
"Die synthetische Theorie des Neodarwinismus kam
bekanntlich zur Ansicht, daß nur die kleinen Zufallsänderungen
den Gang der Evolution bestimmen, ihre Kritiker meinen, daß mit purem
Zufall weder die Baupläne noch die Trends der großen systematischen
Gruppen zu verstehen wären (...) Ich werde sogleich zeigen, daß
beide Ansichten gleichzeitig Bestätigung finden."
(RIEDL, 1990, S. 253)
In ähnlicher Weise äußern sich auch WUKETITS, 1988
und LORENZEN, 1988, die beide betonen, in der Systemtheorie
kein konkurrierendes Unternehmen zu erkennen.
Wir können also festhalten, daß der Versuch JUNKERs und SCHERERs,
die Synthetische Theorie der Evolution gegen die Systemtheorie auszuspielen,
keinen Erfolg haben kann. Völlig ratlos steht man denn auch vor der
Feststellung, die Systemtheorie der Evolution biete "wenig beachtete
Voraussetzungen für ein Verständnis von 'Makroevolution', ohne
plausible Mechanismen dafür bestimmen zu können", eine Aussage,
die sich endgültig im Kryptischen verliert und allenfalls damit
erklärt werden kann, daß die Positionen veritabler Neodarwinisten
schlichtweg unbekannt sind.
Die Frage nach den "inneren Prinzipien" wurde tatsächlich immer wieder
gestellt und zum Teil in vielen großen Werken zum Ausdruck gebracht;
hier nur eine kleine Auswahl: BAER, 1876; WEDEKIND, 1927; SCHINDEWOLF,
1936-1950; BERTALANFFY, 1952; WADDINGTON, 1957; HALDANE, 1958; REMANE, 1939-1971;
OSCHE, 1970 sowie von MAYR, 1967. (Literaturliste
auf Wunsch)
Gestandene Neodarwinisten, wie MAYR, DOBZHANSKI, KOSSWIG und OSCHE
"räumen dem epigenetischen System eine
fundamentale, wenn auch im einzelnen nicht aufschließbare, ordnende
Wirkung zu (...) Wir werden in dieser Richtung einen weiteren Schritt zu
tun haben und, wie hier vorausgesehen, eben in dieser Position der
Gen-Wechselwirkung die molekulare causa des ordnenden Prinzips finden
können."
(RIEDL, 1990, S. 111)
In diesem Sinne - und das sei hier nochmals hervorgehoben - erwartete schon
REMANE das "Walten eines inneren Abhängigkeitsprinzips". RENSCH
spricht über "einen bestimmten Zustand harmonischer
Tierkonstruktion", bei welchem "jede Veränderung von speziellen
Regeln gelenkt wird, die den Organismus als ganzes betreffen" und die,
wie OSCHE ergänzt, "im Moment der Kombination selektive Vorteile
bilden."
(vgl. REMANE, 1971; RENSCH, 1961, S. 127 sowie OSCHE, 1966, S.
889)
Damit werden die Annahmen der Systemtheorie der Evolution teilweise - obgleich
weniger prononziert und mechanistisch unkonkret - auch in der Synthetischen
Theorie vertreten und von vielen Autoren zum Ausdruck gebracht.
LÖNNIG hat gegen die Systemtheorie der Evolution schließlich
einzuwenden, daß noch niemand die stufenweise Verschaltung von Genen
unter einen Hauptschalter hat belegen können:
"Wenn das so einfach wäre, dann müßte
man dieses Postulat zumindest an Einzellern durch Mutagenese direkt
bestätigen können: Wir kennen bei Einzellern wie Euglena sowohl
ein neuartiges Funktionsprotein für ein lichtsensitives Pigment (dessen
Entstehung allerdings unbefriedigenderweise selbst wieder durch richtungslose
Mutationen ohne Beweise postuliert und "geglaubt" wird) und ein Hauptschalter
sollte sich auch finden lassen. Wir haben auch bei solchen Lebensformen drei
Zeitraffer in der Hand (...)"
Der Einwand, niemand hätte die Entstehung von Verschaltungen experimentell
"beweisen" können, erweist sich als empiristisch motiviert. Wie soll
ein Prozeß, der in der freien Natur Jahrmillionen in Anspruch nimmt,
im Laborexperiment innerhalb weniger Wochen oder Monate reproduzierbar sein?
Die Anwendung von "Zeitraffern" erweist sich als schwierig, wenn nicht sogar
als unmöglich, weil zum einen geeignete Selektionsmethoden im Labor
fehlen, um einen neuen Typ aufzubauen und sich zum anderen ungünstige
und "unsichtbare" Mutationen aufsummieren, die sich zunehmend negativ auf
die Überlebensfähigkeit der Mutanten auswirken.
Schließlich wird von LÖNNIG behauptet:
"'Erklären' im Sinne einer logisch-attraktiven
Denkmöglichkeit reicht meiner Auffassung nach nicht. Als wissenschaftliche
Hypothese sollte die Erklärung auch Falsifikationskriterien nennen.
Und zur tatsächlichen Bestätigung kommen wir nicht ohne die
experimentellen Beweise aus!"
Hier verwechselt LÖNNIG die Erkenntnisstrategie der Wissenschaft mit
dem Empirismus. Wir haben in Kapitel Ib.2 besprochen, daß
in der Wissenschaft nicht die Beobachtbarkeit der theoretischen
Erkenntnisgegenstände zählt, sondern die Belegbarkeit der Deduktionen
einer Theorie. Wie also kann man die Systemtheorie belegen? Dazu wollen wir
nochmals unsere Ausführungen aus Kapitel I. bemühen:
Was möglich erscheint, ist eine logische (prinzipielle)
Falsifizierbarkeit durch den Vergleich ihrer logischen Folgeaussagen mit
der Beobachtung. Wenn man beispielsweise zeigen könnte, daß Gene
nicht in einem epigenetischen System zu Regulationseinheiten
organisiert wären; wenn man zeigen könnte, daß es
keine molekulargenetischen Mechanismen zur Verschiebung von
Genen (Translokation) gäbe und wenn man feststellen würde, daß
kleine Veränderungen im epigenetischen System
keineswegs eine Palette phänotypischer Veränderungen
bewirken könnten - ja dann könnte man mit Fug und Recht behaupten,
daß die theoretischen Erwartungen den experimentellen Befunden nicht
entsprächen, die obige Hypothese logisch falsifiziert wäre. Wir
wissen heute aber, daß Gene ihre Position verändern, durch
Translokation unter neue Regulatoren geraten können. Man findet Gene
zu Genwirkketten organisiert (bei Drosophila sind 2000 Gene unter einen
Regulator - das Pax6-Gen verschaltet!) und man hat tatsächlich
systemisch-phänotypische Veränderungen durch kleine Eingriffe ins
epigenetische System kopieren können. Man findet also alle Erwartungen
der nicht unmittelbar experimentell prüfbaren Hypothese experimentell
bestätigt, die Aussage hypothetico-deduktiv verifiziert.
Zweite, völlig neu bearbeitete Fassung, (c) 23.01.2002
Last
update:
23.01.02
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(c) M. Neukamm, 30.08.2000